Sich richtig auf den Lehrer stützen¹

Von Jetsunma Tenzin Palmo


Ven. Bhikshuni Tenzin Palmo

Selbst wenn der Lama direkt vor einem sitzt, fühlt es sich manchmal so an, als lägen tausend Meilen zwischen euch; ebenso können wirklich tausend Meilen zwischen euch liegen und trotzdem fühlt es sich so, als sei er nahe bei dir, tief in deinem Herzen.

Tenzin Palmo spricht über dieses Thema in diesem Auszug aus „Into the Heart of Life“.²

Frage: Wenn man einen Lehrer hat, den man dabei erlebt, wie er sich in negativer und offenbar unangemessener Weise verhält, welchen Rat geben sie Schülern, die damit umgehen müssen? Könnte es sogar akzeptabel sein, den Lehrer zu verlassen, nachdem man eine Verbindung eingegangen ist?

Jetsunma Tenzin Palmo: Persönlich denke ich, dass wir niemals die eigene Integrität vollständig aufgeben sollten. Ich glaube, es ist ein großer Fehler zu glauben, nachdem man die Beziehung eingegangen ist, das wäre es gewesen und zu versuchen, was immer er tut, mit reiner Wahrnehmung aufzunehmen. Wissen Sie, natürlich kann man auf Naropa und Tilopa und Marpa und Milarepa verweisen, aber ich glaube, das ist ziemlich gefährlich.

Der Kernpunkt ist, dass die Schüler die Kinder sind und der Lehrer der Elternteil ist. Gute Eltern helfen ihrem Kind, reif und erwachsen zu werden, nicht für immer ein Kind zu bleiben. Und wenn Eltern ihre Kinder misshandeln, dann bedeutet die Tatsache, dass sie die Eltern sind, nicht zwangsläufig, dass das Kind in ihrer Obhut bleiben muss. Wenn sich ein Lehrer wirklich unangemessen benimmt und von Schülern unangemessenes Verhalten verlangt, dann hat der Schüler, auch als menschliches Wesen, das Recht, zu sagen: „Nein, es tut mir sehr leid, das kann ich nicht akzeptieren“ oder „In Ordnung, bitte erklären Sie mir, warum Sie das tun.“ Und wenn der Lehrer dann keine Erklärung gibt oder seine Erklärung fadenscheinig ist, dann denke ich, dass es total angemessen ist, mit allem Respekt zu sagen „Nun, es tut mir leid, ich werde jemand anderen finden.“ Denn seien wir mal ehrlich, viele Lehrer, selbst wenn sie vielleicht sehr charismatisch sind oder sogar über echte Erkenntnisse und Realisationen verfügen, mögen beträchtliche Schattenseiten haben, denen sie sich nicht stellen und deren Kultur sie nicht ermutigt, sich ihnen ehrlich zu stellen. Um mit diesen Schattenseiten umzugehen, brauchen wir unseren gesunden Menschenverstand. Wenn die Lehrer-Schüler-Beziehung viel inneren Stress und Traumata verursacht, dann ist dies spirituell nicht im geringsten hilfreich. Ohne allzu viel öffentliche Aufmerksamkeit und Schwierigkeiten zu verursachen kann man also einfach zu seinem Lehrer sagen „Vielen Dank für all die Lehren, die du mir gegeben hast“ und gehen.

Ich glaube nicht, dass die Tibeter wirklich eine Lösung hierfür gefunden haben. Wir sehen den Lehrer in erster Linie als Buddha an, um keine Anhaftung gegenüber seiner Persönlichkeit und seinem Aussehen zu entwickeln. Wir nehmen keine Zuflucht zu der Persönlichkeit; wir nehmen Zuflucht zu ihrer Buddha-Natur, die sie verwirklicht haben und wir nicht, und zu ihrer Fähigkeit, die Verwirklichung weiterzugeben. Deshalb sieht man sie in idealisierter Form. Aber gleichzeitig müssen wir erkennen, dass wir dies aus Gründen der Hingabe tun und sie immer noch menschliche Wesen sind. Wenn sie sich manchmal unangemessen verhalten, z.B. ungeduldig über etwas werden, worüber es sich ungeduldig zu werden nicht lohnt, oder wirklich zornig werden, dann kann man sagen „Na gut, sie sind Menschen und das ist nicht wichtig; sie haben so viele gute Unterweisungen gegeben und haben so viele gute Qualitäten“ und die Sache vergessen. Aber wenn sie sich ständig fragwürdig verhalten, z.B. sehr gierig sind oder sexuelle Beziehungen mit Schülern haben wollen oder viel Geld anhäufen und es dann ihren Verwandten geben oder sich damit große Paläste bauen, während ihre Mönche hungern etc. – dann denke ich, dass es absolut angemessen ist, dieses Verhalten in Frage zu stellen. Selbst in der normalen Welt benehmen sich Leute so nicht.

Frage: Die Lehrer-Schüler-Beziehung ist grundlegend im tibetischen Buddhismus. In der westlichen Wirklichkeit haben nur wenige Glückliche die Möglichkeit einer traditionellen Lehrer-Schüler-Beziehung. So passiert es also oft bei Übenden, dass nach ein paar Jahren die Begeisterung und das Interesse nachlassen. Was würden Sie diesen Menschen in einer solchen Situation raten?

JTP: Das Wichtige ist zu verstehen, dass es selbst in einer traditionellen Lehrer-Schüler-Beziehung nicht wirklich notwendig ist, ständig in der Nähe des Gurus zu sein. Wenn man einmal eine Verbindung eingegangen ist, kann die Herzensverbindung immer aufrecht erhalten, selbst wenn man den Guru nicht sehr oft sieht oder der Guru weit weg ist. So gibt es z.B. in der tibetischen Tradition sehr schöne Gebete, um den Guru aus der Ferne anzurufen. Und besonders, wenn es eine Melodie dafür gibt und man sie aus vollem Herzen singen kann, stellen sie diese Verbindung mit dem Lehrer her, weil es sich um eine Geist-zu-Geist-Beziehung handelt. Selbst wenn der Lama direkt vor einem sitzt, fühlt es sich manchmal so an, als lägen tausend Meilen zwischen euch; ebenso können wirklich tausend Meilen zwischen euch liegen und trotzdem fühlt es sich so, als sei er nahe bei dir, tief in deinem Herzen. Gleichzeitig muss man verstehen, dass der endgültige Lehrer die eigene Buddha-Natur ist: es ist die Natur des Geistes und man muss die Fähigkeit kultivieren, auf die eigene innere Wahrnehmung fokussiert zu bleiben und sich nicht so viel von äusseren Beziehungen abhängig zu machen. Denn wenn man in der Natur des eigenen Geistes verweilt, ist man tatsächlich eins mit dem Lehrer. Es ist sehr wichtig, das zu verstehen. Der ultimative Lehrer ist die eigene innere Weisheit und wenn wir dazu Zugang finden und sie kultivieren können, dann sprudelt die Begeisterung für den Dharma unerschöpflich aus uns heraus. Es bedarf keiner externen Inspirationsschübe einer anderen Person.  ■

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© „Into the Heart of Life“ by Jetsünma Tenzin Palmo · Snow Lion Publications · Mit freundlicher Genehmigung von www.snowlionpub.com · Übersetzung aus dem Englischen: Frank Hofmann

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Fußnoten

¹ Zum Ausdruck „sich stützen auf“ schreibt der Tibetologe Achim Bayer (persönliche Mitteilung): »Die Schülerschaft bei einem buddhistischen Lehrer wird in der Regel mit dem tibetischen Verb „aufwarten“ oder „dienen“ (bsten pa) beschrieben. Es war und ist nicht unüblich, dass Schüler ihre Meister bei ihren Reisen und ihren täglichen Aktivitäten helfend zur Seite stehen, um so nach und nach Lehre, Lebens- und Lehrstil zu verinnerlichen. Diese Form der Schülerschaft ist schon aus der brahmanischen Tradition bekannt, in der der Schüler im Familienhaus seines Lehrers lebte und dafür zuständig war, das heimische Feuer in Gang zu halten. Das seltene tibetische Verb für „aufwarten“ (bsten pa) wird häufig mit la brten pa verwechselt, was „sich stützen auf“ bedeutet. „Sich stützen auf“ ist zwar eindeutig ein anderes Verb, wird aber in ähnlichen Zusammenhängen verwendet, etwa wenn es heißt, „stütze Dich auf die Lehre, nicht auf die Person“ des Lehrers. Siehe Achim Bayer. The Theory of Karman in the Abhidharmasamuccaya. Tokyo: International Institute of Buddhist Studies, 2010, Seite 351f.«

² Dieser Auszug wurde entnommen und adaptiert aus „Into the Heart of Life“, publiziert in Snow Lion The Buddhist Magazine & Catalog Volume 25, Nr. 4, Herbst 2011, S. 2.

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