Ethik in der Lehrer-Schüler-Beziehung: Die Verantwortlichkeiten von Lehrern und Studenten

Aus Notizen angefertigt während des Treffens von S.H. dem 14. Dalai Lama und westlichen buddhistischen Lehrern in Dharamsala, 1993

Im März 1993 hatte eine internationale Gruppe westlich-buddhistischer Lehrerinnen und Lehrer, die verschiedene Traditionen repräsentierten, im indischen Dharamsala die Gelegenheit, mit Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama zu einer viertägigen Konferenz zusammenzukommen. Die Konferenz befasste sich mit der Übertragung des Buddhismus in den Westen. Im Rahmen dieser Gespräche kam das Thema immer wieder auf „Die Ethik in der Lehrer-Schüler-Beziehung“ – ein Thema, das heute so aktuell wie damals ist. Die Notizen der Teilnehmerin Bhikshuni Thubten Chödrön von dem was der Dalai Lama zu diesem Thema sagte, wurden vor einigen Jahren auf www.info-buddhism.com veröffentlicht und zuvor noch einmal von Thubten Chödrön durchgesehen. Mit Bhikshuni Thubten Chödröns freundlicher Zustimmung wurden sie nun von Susanne Billig ins Deutsche übersetzt und auf Buddhismus Aktuell veröffentlicht.

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Westliche Buddhistische Lehrende (WBL): Was sind die Qualitäten einer guten Lehrerin oder eines guten Lehrers?

Seine Heiligkeit der Dalai Lama (SHDL): Es gibt spezifische Voraussetzungen für jede Art von Lehrerin oder Lehrer. Diese werden im Vinaya beschrieben, in Mahayana-Texten wie dem Mahayanasutralamkara und in den Tantras.¹

In der Vergangenheit wurden Lehrerinnen und Lehrer nicht ernannt. Stattdessen war es so, dass eine Person durch sorgfältiges Training zu einem guten Praktizierenden wurde. Wenn dann andere kamen und diese Personen baten zu lehren, hat er oder sie diese wenigen Studierenden unterrichtet. Wenn diese Studierenden dann praktizierten und gute Qualitäten entwickelten, wuchs in anderen der Respekt für ihre Lehrerin oder ihren Lehrer, und allmählich wurde diese Person dann bekannt als großartiger Lehrender. Weil dies ein natürlicher Prozess ist, besteht dabei weniger Gefahr, dass ein korrupter Mensch zu einem bekannten Lehrer wird.

Im monastischen System war der Weg hin zum Lehrer in einem gewissen Maß organisiert. Aber in der modernen Zeit erinnert uns das Wort „Lehrerin“ oder „Lehrer“ an jemanden auf einem akademischen Gebiet, der, nachdem er bestimmte Ausbildungswege abgeschlossen hat, von einer Organisation zum Lehrer ernannt wird, ganz unabhängig davon, ob er irgendwelche Studentinnen oder Studenten hat. Vielleicht könnten Buddhisten und Buddhisten in der Zukunft eine Organisation gründen, die Menschen als Lehrerinnen und Lehrer zertifiziert, nachdem sie ihr Verständnis im Dharma und ihren Unterricht geprüft hat.

Jedes buddhistische Zentrum könnte die Ausbildungswege für die verschiedenen Lehrer-Level  zugänglich machen und Menschen beibringen, wie sie Lehrerinnen oder Lehrer aussuchen. Wie ich immer wieder betone: Am Anfang sollte man die Person, die den Dharma erklärt, nicht als Guru ansehen, sondern als Dharma-Freund. Nach einem oder zwei Jahren, wenn diese beiden Menschen sich gut kennen, mag die Studentin oder der Student dann zu der Überzeugung gelangen, dass dieser Lehrer verlässlich ist und ihn mit der Verantwortung betrauen, ihr oder sein Guru zu werden. Dann wird ihre Beziehung die von Guru und Schülerin oder Schüler.

Wir sind in einer frühen Phase der Übertragung des Dharma – eine Chance für Scharlatane

Viele der Probleme, denen der Buddhismus gegenwärtig im Westen gegenübersteht, haben damit zu tun, dass wir uns in einer frühen Phase der Übertragung des Dharma in westliche Länder befinden; hier gibt es eine Chance für Scharlatane und unqualifizierte Personen zu lehren. Doch wenn der Buddhismus sich in der Kultur mehr verwurzelt und die Menschen ihn besser verstehen, werden sie auch wissen, wie sie die Qualitäten eines Lehrers oder einer Lehrerin beurteilen, und sie werden sich beschützen. Dies ist Teil eines natürlichen Prozesses, wenn der Dharma sich verwurzelt.

Tibet hat in den letzten 30 Jahren die massive Zerstörung des Buddhismus erlebt. Nun, wo es vergleichsweise mehr Freiheit gibt, findet ein Revival statt, aber auch hier wissen einige Menschen, aus der Situation Vorteil zu schlagen. In Lhasa gibt es einige Männer, die sich morgens wie Mönche anziehen, Puja geben für diejenigen, die bezahlen, aber am Nachmittag betrinken sie sich und stehlen sogar. Menschen sind so begierig darauf, den Dharma zu lernen und religiöse Personen zu treffen, dass sie sich leicht betrügen lassen. Es gab in Tibet vor 1959 und es gibt heute in Indien viele Lamas und Mönche, weshalb es für die Menschen eine Wahl gibt und damit weniger Gefahr, dass sie betrogen oder missbraucht werden. Mit der Zeit werden mehr Menschen im Westen ein besseres Verständnis des Buddhadharma haben und auch von den Qualitäten, nach denen sie in einer guten Lehrerin oder einen guten Lehrer suchen müssen. Die Probleme, die sich aus unfähigen Lehrerinnen und Lehrern ergeben, werden abnehmen. Zu dieser Zeit jedoch stehen wir Problemen gegenüber und wir müssen Wege finden, sie zu minimieren.

Es gibt Fälle von Lamas oder Menschen, die innerhalb der tibetischen Gemeinschaft niemals in die Position gelangen würden, Belehrungen zu geben, aber im Westen werden sie auf einmal große Lamas. Das ist bewundernswert, wenn es sich um jemanden handelt, der bislang nicht die Chance hatte, seine großartigen Qualitäten zu zeigen und der in der tibetischen Gemeinschaft bescheiden blieb. Wenn aber jemand die Situation im Westen nur ausnutzt, um sich selbst zu nach vorn zu bringen, dann ist das traurig.

WBL: Einige Lehrer sagen, dass man den Gelübden folgen muss, wenn man eine Schülerin oder ein Schüler ist, aber sowie man ein erleuchteter Lehrer geworden ist, braucht man das nicht mehr. Das unkonventionelle Verhalten einiger Lehrer wird erklärt als ein Ausdruck ihrer Fähigkeiten, ihrer Verwirklichung und ihres Mitgefühls, und diejenigen von uns, die noch nicht so weit fortgeschritten sind, können das nicht verstehen. Mit dieser Behauptung haben einige buddhistische Lehrer Geld missbraucht, Macht, Sex, Drogen und Alkohol. Dies irritiert viele Menschen und bringt manche sogar dazu, ihr Vertrauen in den Dharma zu verlieren. Sind ein solches Verhalten und die Erklärung dafür berechtigt?

SHDL: Historisch war es so, dass einige buddhistische Heilige, obwohl sie sich auf seltsame Weise ethisch verhalten haben, voll realisierte Wesen waren und wussten, was auf lange Sicht dem Wohle anderer diente. Aber heute ist solches Verhalten schädlich für den Dharma und muss gestoppt werden. Obgleich die eigenen Verwirklichungen denen jener göttlichen Wesen gleichen mag, muss das Verhalten den Konventionen entsprechen. Wenn jemand sagt, dass jedes Verhalten akzeptabel sei, da jeder die Buddhanatur besitze, oder dass Lehrerinnen und Lehrer moralischen Vorschriften nicht zu folgen brauchten, zeigt dies, dass sie die Leerheit oder Ursache und Wirkung nicht korrekt begreifen.

Jede und jeder ist für ihr oder sein Verhalten verantwortlich. Für einen voll verwirklichten Menschen ist es gleichgültig, ob er Urin, Fäkalien, Alkohol oder menschliches Fleisch aufnimmt – es ist für ihn alles dasselbe.² Aber wenn solche buddhistischen Lehrer, die sich nicht an ethische Grundsätze halten, Fäkalien essen oder Urin trinken müssen – ich habe meine Zweifel, dass sie es genießen würden! 

Die Tantra-Praxis ist niemals eine Entschuldigung für unethisches Verhalten

Die Tantra-Praxis ist niemals eine Entschuldigung für unethisches Verhalten. Wenn jemand das Vajrayana gut versteht, gibt es keine Grundlage dafür, schlechtes Verhalten zu entschuldigen. Eines der Trantra-Sutras erklärt, dass der ideale tantrische Laien-Praktizierende dem gesamten Vinaya (monastische Disziplin) folgen solle, aber ohne eine Robe zu tragen oder monastische Zeremonien durchzuführen.

Auf einer sehr fortgeschrittenen Ebene der höchsten tantrischen Praktiken ist die Vereinigung der männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane eine Technik, den subtilsten Geist zu manifestieren und die tiefste Weisheit über die Realität zu erlangen. Hierbei nutzt man den physischen Körper als Werkzeug, um Einsicht zu vertiefen, aber es gibt dabei keine Gier, keine Ausscheidungen und keinen Orgasmus. Vielmehr ist es eine Methode, Gier zu überwinden. In der Vergangenheit musste ein Praktizierender in Tibet in der Lage sein, übernatürliche Fähigkeiten zu demonstrieren, etwa durch die Luft fliegen, um sich für solche Praktiken zu qualifizieren. Wenn er das nicht tun konnte, wurde es ihm nicht erlaubt, diese Techniken zu nutzen. Gegenwärtig gibt es wenige tibetische Meister, die sich auf dieser Ebene befinden. Dilgo Khentse Rinpoche, den ich respektiere, machte die Anmerkung, dass es heute einige wenige realisierte Praktizierende gebe, die so etwas ausüben könnten. Ich weiß, dass einige Meditierende in den Bergen, die sich strikt an den Vinaya halten, eine außerordentliche Verwirklichung erreicht haben.

Wenn man die Lehren klar präsentiert, ist dies zum Wohle anderer. Aber wenn jemand den Dharma lehren soll und sein Verhalten ist schädlich, ist es unsere Verantwortung, dies mit einer guten Motivation zu kritisieren. Das ist konstruktive Kritik, und man braucht sich dabei nicht unwohl zu fühlen. In „Die zwanzig Verse über das Bodhisattva-Gelübde“ heißt es, dass Handlungen gleich welcher Art frei von Schuld bleiben, die Sie mit einer reinen Motivation ausüben. Buddhistische Lehrer, die Sex, Macht, Geld, Alkohol oder Drogen missbrauchen, und die ihr Verhalten nicht korrigieren, wenn ihre eigenen Schülerinnen und Schüler sie mit legitimen Beschwerden konfrontieren, sollten offen und namentlich kritisiert werden. Das kann sie beschämen und veranlassen, ihr missbräuchliches Verhalten zu bedauern und zu beenden. Das Negative herauszustellen schafft Raum dafür, dass die positive Seite zunimmt. Wenn man ein solches Fehlverhalten veröffentlicht, sollte klargestellt werden, dass solche Lehrer den Rat des Buddhas nicht beachtet haben. Allerdings ist es nur fair, auch deren gute Qualitäten zu erwähnen, wenn man das ethische Fehlverhalten eines buddhistischen Lehrers oder einer buddhistischen Lehrerin öffentlich macht.

Buddhistische Lehrerinnen und Lehrer in Dharma-Zentren sollten nichts mit den Finanzen des Zentrums zu tun haben. Sie sollten sich auf das Lehren konzentrieren, während die Mitglieder die Finanzen des Zentrums verwalten. Auch ist häufig Alkohol eine Ursache ethischen Fehlverhaltens. In der tibetischen Gesellschaft trinken die meisten Laien Alkohol, obwohl sie sich als buddhistisch betrachten. Aber der Buddha sagte klar, dass jeder, der den Buddha seinen Lehrer nennt, nicht einmal einen einzigen Tropfen Alkohol trinken soll.³

WBL: Einige Schriften raten uns, den Guru als den Buddha zu sehen, aber das scheint unangemessen, wenn ein Lehrer unethisch handelt. Wie beziehen wir uns auf solche Lehrer? Müssen wir alle Anweisungen befolgen, die ein Lehrer gibt, auch wenn sie uns unethisch oder unklug erscheinen?

SHDL: Es ist nicht geschickt, Anfänger zu lehren, den Guru als den Buddha zu sehen. Wenn wir den Vinaya, das Mahayana und tantrische Texte studieren, erkennen wir einen Stufenweg, auf welche Weise wir unseren Lehrer zu betrachten haben und uns auf ihn beziehen. Auf der ersten Ebene, dem Vinaya, wird Buddha Shakyamuni als der einzige erleuchtete Lehrer in dieser Blütezeit des Dharma akzeptiert. Es wird nicht erwähnt, dass Sie den eigenen Lehrer als Buddha ansehen sollen. Sie sehen Ihren Lehrer einfach als Lehrer, Ihren Abt als Abt, und nehmen auf einer menschlicher Ebene eine Beziehung zu ihm auf. Sie sehen ihn als einen weisen älteren Menschen, als einen ernsthaft Praktizierenden an, von dem Sie lernen können. Auf der zweiten Stufe wird der Guru gleich oder ähnlich wie ein Buddha gesehen, in dem Sinne, dass das Karma, das Sie in Bezug auf Ihren Lehrer angesammelt haben, dem ähnlich ist, das Sie in Bezug auf den Buddha angesammelt haben. Mit anderen Worten: Das Karma, das Sie ansammeln, wenn Sie Ihrem Lehrer oder Ihrer Lehrerin Ehrerbietung erweisen oder umgekehrt ihm oder ihr Schlechtes antun, entspricht dem Karma, das Sie ansammelten, wenn sie den Buddha selbst auf diese Weise behandelten.

Wird das Training im Vajrayana, den Lehrer als Buddha zu sehen, Schülern zu früh gelehrt, wirkt das wie Gift

Nur wenn Sie bereits genügend gereift sind, sollte Sie der tantrische Blick auf den Guru gelehrt werden, dass er Ihnen Einweihungen als Buddha gibt. In der tantrischen Praxis versuchen wir, alle Wesen als Buddhas und die Umgebung als reines Land anzusehen, also wäre es absurd, unseren Lehrer nicht als Buddha anzusehen. Allerdings sollte diese Sichtweise nicht Anfängern gelehrt werden; denn wenn sie missverstanden wird und dem Guru einen Freifahrtschein erteilt, wirkt das wie ein Gift. Es zerstört die Lehren, den Guru und die Schülerin oder den Schüler.

So wie es drei Wege gibt, sich auf einen Guru zu beziehen, gibt es drei Möglichkeiten, auf ihre oder seine Anweisungen zu reagieren, wenn sie dem Dharma widersprechen. Nach dem Vinaya sollten Sie, wenn ein Lehrer Ihnen eine nicht dem Dharma entsprechende Handlung aufträgt, seinen Rat ablehnen. Nach dem Paramitayana (dem Bodhisattva-Fahrzeug) sollten Sie einer Anweisung folgen, wenn sie mit dem buddhistischen Weg übereinstimmt. Nach dem Vajrayana (oder Tantrayana) sollte ein Schüler, wenn ein Guru eine Anweisung gibt, die nicht mit dem Dharma übereinstimmt, dieser nicht folgen und zum Lehrer gehen, um zu klären und zu erläutern, warum er dieser Anweisung nicht folgen kann. Dieser Rat kommt direkt vom Buddha und findet sich in den heiligen Schriften. Das gleiche gilt, wenn Sie der Auffassung sind, der Rat Ihres Lehrers sei unklug oder unweise, selbst wenn er den ethischen Maßstäben entspricht. Die Reinheit der Motivation des Lehrers reicht nicht aus: Seine Anleitung muss auch der Situation und der Kultur des Ortes gemäß sein.

Wenn der Guru sich weigert, Ihre Vorbehalte gegenüber seinen nicht dem Dharma entsprechenden oder unklugen Weisungen zu akzeptieren und Sie rausschmeißt – packen Sie Ihre Taschen und gehen. Ihr Guru kann Ihnen sagen, dass Sie sich körperlich zu entfernen haben, aber er kann Ihren Geist nicht zwingen, den Dharma zu verlassen.

Auf der Ebene unserer persönlichen spirituellen Praxis ist es wichtig, für unseren Guru Vertrauen und Ehrfurcht zu haben und ihn in einem positiven Licht zu sehen, um spirituellen Fortschritt zu erreichen. Aber auf der Ebene des Buddhismus und allgemein in der Gesellschaft ist es Gift, alle Handlungen einer Lehrerin oder eines Lehrers als perfekt anzusehen, und kann missbraucht werden. Diese Haltung verdirbt unsere gesamte Lehre, indem sie den Lehrern freie Hand gibt, sich unangemessene Vorteile zu verschaffen. Wenn der Glaube ausreichte, um Verwirklichungen zu erlangen, wären qualifizierte Lehrerinnen und Lehrer nicht notwendig. Dann hätte der Buddha die Qualifikationen eines Vinaya-, Paramitayana- oder tantrischen Gurus nicht auflisten müssen.

Seit ich angefangen habe, andere zu unterrichten, habe ich hart gearbeitet, darum muss ich mich nicht auf einen solchen Freifahrtschein verlassen, dass ich anderen sage, sie sollten alle meine Handlungen als rein ansehen. Wenn ich einen Fehler mache, sollen die Leute es als einen Fehler sehen und offen sagen. Manche Menschen mögen diese Haltung als rebellisch ansehen, aber wenn wir alle in Übereinstimmung damit gehandelt hätten, hätten wir heute weniger Probleme.

Der Buddha war immer demütig, und er ist unser Guru. Er arbeitete sehr hart auf dem Weg – einfach leben und ständig üben. Viele Leute denken heute, sie seien privilegierter als der Buddha selbst und müssten nicht so handeln, wie er es tat. Tatsächlich steht niemand über dem Buddha, und wir sollten dem Beispiel des Buddhas folgen.

Ich habe viele Lehrer gehabt und ich kann nicht akzeptieren, alle ihre Handlungen als rein anzusehen. Meine beiden Regenten, die unter meinen sechzehn Lehrern waren, bekämpften einander in einem Machtkampf, der sogar die tibetische Armee involvierte. Wenn ich auf meinem Meditationskissen sitze, fühle ich, dass beide freundlich zu mir waren, und ich habe tiefen Respekt für beide von ihnen. Ihre Kämpfe sind gleichgültig. Aber als ich mit dem befassen musste, was in der Gesellschaft los war, sagte ich zu ihnen: „Was ihr tut, ist falsch!“ Wenn wir so handeln, sollten wir keinen Loyalitätskonflikt empfinden. In unserer Praxis können wir das Verhalten des Gurus als das eines Mahasiddha ansehen und im Umgang mit der Gesellschaft dem allgemeinen buddhistischen Ansatz folgen und sagen, dass dieses Verhalten falsch ist.

Was im besten Interesse des Buddhadharmas ist, ist viel wichtiger als alles, was einen einzelnen Guru betrifft. Zögern Sie deshalb nicht, wenn es notwendig ist, einen Guru zu kritisieren, um den Buddhadharma zu retten oder zum Wohl mehrerer hundert Schülerinnen und Schülern zu handeln. Danach können Sie zu dieser Lehrerin oder diesem Lehrer gehen und erklären, dass Sie mit einer reinen Motivation gehandelt haben. Wenn der Guru wütend wird, ist dies ein weiterer Hinweis auf seine Mängel.

Die heiligen Schriften sagen, dass wir niemanden kritisieren sollten, weil wir nicht sicher sein können, wer ein Bodhisattva ist und wer nicht ist. In diesem Zusammenhang kann Mao als Bodhisattva angesehen werden und wir kritisieren ihn nicht. Das spielt sich auf einer privaten Ebene ab, so sehen wir es in unserem eigenen Kopf. Aber in Bezug auf die tibetische Unabhängigkeit kann ich nicht sagen, dass Mao gut war, weil er unsere Religion und unser Land zerstört hat! Das muss ich offen so sagen! Es gibt zwischen diesen beiden Perspektiven keinen Konflikt.

Wenn Sie eine Person bislang noch nicht als Ihren Guru angenommen haben und Sie über ihr missbräuchliches Verhalten informiert werden, dann können Sie die Beziehung beenden. Wenn Sie bereits tantrische Einweihungen von dieser Person erhalten haben, vermeiden Sie es, Respektlosigkeit oder Antipathien zu entwickeln. In solchen Fällen rät uns das Kalachakra-Tantra, eine neutrale Haltung einzuhalten und die Beziehung nicht weiter zu verfolgen. Sie können Ihre Distanz behalten, während Sie diese Person immer noch als Ihren Guru betrachten, weil sie Ihnen in der Vergangenheit dharmisch geholfen hat.

Wenn jemand Schülerin oder Schüler eines missbräuchlichen Lehrers ist und Sie sehen, dass ihre oder seine Beziehung zu diesem Lehrer schädlich ist, sollten Sie diese Schülerin oder diesen Schüler warnen. Aber wenn diese Beziehung nicht schädlich ist, dann sollten Sie die Angelegenheit auf sich beruhen lassen. Der Schlüssel dazu, ob Ihre Handlung, einen Schüler von seinem Lehrer getrennt zu haben, negatives Karma erzeugt, ist Ihre Motivation. Handlungen, die von einer wütenden, beurteilenden Haltung motiviert werden, sind zu vermeiden, während solche, die auf Mitgefühl und Toleranz beruhen, gut sind.

Wenn asiatische Lehrer Druck auf Westler ausüben, für ihre Klöster zu Geld zu sammeln oder zu spenden, müssen Sie genau unterscheiden. In einigen Fällen, in denen es einen legitimen Bedarf gibt und die Gelder den Menschen zugute kommen und nicht nur dem Bau eines großen leeren Gebäudes dienen, ist es gut zu helfen, wenn Sie können. Aber wenn solche Mittel für andere Zwecke verwendet werden, wie zum Beispiel dem Kauf von Schmuck für Mitglieder der Lehrer-Familie, ist dies Korruption und damit zu kooperieren heißt nichts anderes, als den Lehrer zu verderben.

WBL: Es gibt einige Lehrerinnen und Lehrer, die eine tiefe Verwirklichung der Leere haben und deren ethisches Verhalten trotzdem viel zu wünschen übrig lässt. Wie kann man so eine solche Verwirklichung erreicht haben – und sich dennoch so verhalten?

SHDL: Probleme entstehen durch fehlende innere Kraft. Auch wenn eine Person den Dharma lehrt, kann es noch eine Lücke zwischen dem Dharma und ihrem Leben geben. Wenn es einen Widerspruch zwischen der scheinbar hohen Verwirklichung einer Person und ihrem ethischen Verhalten gibt, so kann diese Verwirklichung nicht so hoch sein, wie sie scheint. Obwohl die Fähigkeit, in einspitziger Konzentration oder in einem nicht-begrifflichen Zustand zu bleiben, eine Verwirklichung ist, reicht dies nicht sehr tief. Es ist keine Verwirklichung der Leere, der ultimativen Natur.

Die Menschen können irren in ihrer Art, über Leere zu meditieren. Manche gehen fälschlicherweise in das Extrem, Ursache und Wirkung zu negieren. In dem Fall ist ihre „Verwirklichung“ der Leere falsch. Andere meditieren über einen nicht begrifflichen Zustand und verwechseln ihn mit Leere. Oder ihre Meditation wird durch subtile Dumpfheit beeinflusst, und das ist falsch für die Verwirklichung. Dies geschieht, wenn man die möglichem Fallstricke bei der Meditation und die Gegenmittel nicht ausreichend studiert hat.

Verstehen Lehrer die Leerheit bzw. Selbstlosigkeit korrekt, halten sie sich fern von unethischem Verhalten

Leere ist nicht Nichts. Auf der einen Seite ist eine Sache leer; auf der anderen Seite entsteht sie abhängig. Leere heißt nicht leer von jeglicher Existenz, sondern leer von unabhängiger Existenz. Also muss sie von anderen Dingen abhängen. Es ist wichtig sicherzustellen, dass man das richtige Verständnis von Leere hat. Diejenigen, die Leere richtig als abhängiges Erscheinen verstehen, wissen: Wenn sie sich schlecht benehmen, müssen sie sich den Konsequenzen stellen. Darum halten sie sich fern von unethischem Verhalten.

Wir haben eine positive und eine negative Selbstwahrnehmung. Die Verwirklichung der Leere zerstört die negative, nicht die positive. Ohne starken Willen sind Bodhisattvas nicht in der Lage, ihre egozentrische Haltung zu konfrontieren und bekämpfen. Um diesen Willen zu entwickeln, bedarf es eines enormen Selbstvertrauens, und das ist die Sphäre der positiven Selbstwahrnehmung. Die negative Selbstwahrnehmung wirkt ohne gesunde Vernunft, nur auf der Basis von „Ich will das oder jenes“, und das ist zu beseitigen. Die positive Selbstwahrnehmung wirkt dagegen auf Grund der Vernunft, und damit können wir das Vertrauen entwickeln, das notwendig sein wird, um Negativitäten zu überwinden. 

Deshalb missverstehen Sie das nicht und denken Sie nicht, dass die Verwirklichung von Selbstlosigkeit Sie schwach macht. Eine tatsächliche Verwirklichung sollte eine Veränderung in Ihrem Leben herbeiführen. Das Zeichen dafür, dass Sie den Lehren wirklich zugehört haben, ist, dass Ihr äußeres Verhalten ruhig wird. Das Zeichen dafür, dass Sie die Lehre aufgrund von Erfahrung begriffen haben, ist, dass Ihre Leiden beseitigt sind. Wenn Sie richtig über Leere meditieren, werden Ihr Mitgefühl und die ethische Selbstdisziplin auf natürliche Weise wachsen. Wenn Sie dreißig oder vierzig Jahre meditiert haben und Sie diese Ergebnisse nicht erhalten, ist etwas mit Ihrer Praxis nicht richtig und die Zeit wurde verschwendet. Dies liegt an einem fehlenden korrekten Studium zu Beginn. Bevor wir uns einer umfangreichen Meditation widmen, ist es wichtig zu lernen, wie man richtig meditiert: Was sind die Hindernisse für eine perfekte Konzentration? Was sind die Gegenmittel? Was ist mit „Leere“ gemeint und wie gehen wir damit um, wenn wir sie in der Meditation wahrnehmen? Was sind die breiteren Implikationen der Leere in unserem täglichen Leben? Wenn wir alles das von qualifizierten Lehrerinnen und Lehrern gelernt haben, dann wird unsere Meditationspraxis reibungsloser verlaufen und gute Ergebnisse bringen.

Hindernisse werden in Stufen überwunden, nicht alle auf einmal. Das erste Mal beseitigen Sie tatsächlich einen Teil davon auf dem Pfad des Sehens, wenn Sie eine direkte, nicht begriffliche Wahrnehmung der Leere erfahren. Wenn Sie vor diesem Stadium auf Umstände stoßen, die Leiden hervorrufen, müssen Sie ethische Selbstdisziplin anwenden, um zu verhindern, dass diese Einstellungen sich als negatives Verhalten manifestieren. Um eine solche Selbstbeherrschung zu entwickeln, sind zwei Faktoren entscheidend – ein Gefühl der persönlichen Integrität und die Sorge um andere. Buddhistischen Lehrerinnen und Lehrern, die sich falsch verhalten, mangelt es an diesen beiden Faktoren; sie kümmern sich nicht um die Konsequenzen ihres Handelns für sich selbst oder andere. Darum ist es hilfreich, hier als Dharma-Freundin oder -Freund offen zu sprechen und seine Missbilligung auszudrücken. Dies kann der Lehrerin oder dem Lehrer helfen, ein Gefühl persönlicher Integrität und Rücksicht für andere zu entwickeln, was ihr destruktives Verhalten einschränken wird.

Weil der Geist so komplex und Leiden so vielfältig und mächtig sind, reicht eine einzige Praxis nicht

Der Geist ist so komplex und Leiden sind so vielfältig und mächtig, dass eine einzige Praxis allein nicht alle negativen Zustände vollständig beseitigen kann. Deshalb hat der Buddha eine komplexe Strategie zur Überwindung von Leiden entwickelt. Wenn wir uns in einem Kampf befinden und die Macht unseres Feindes unterschätzen, geraten wir in große Schwierigkeiten. Ebenso dürfen wir in der Dharma-Praxis die Macht unserer Leiden nicht unterschätzen.

Manche Traditionen oder Menschen sprechen von hoher Praxis und einem direkten Weg. Obwohl dies für einige besondere Menschen ausreichend sein kann, ist es für die meisten nicht so. Manche Leute sprechen sehr abgehoben, aber wenn in ihrem gewöhnlichen Leben etwas Irritierendes passiert, sind sie unvorbereitet und können nicht damit umgehen. Deshalb bevorzuge ich im Allgemeinen den graduellen Weg.

WBL: Viele Schülerinnen und Schüler haben Angst, die Samaya zu brechen – die Verpflichtung und Bindung an ihren Guru – wenn sie offen über das sprechen, was sie als Missbrauch wahrnehmen. Zerstört das missbräuchliche Verhalten eines Lehrers die Samaya so, dass eine Schülerin oder ein Schüler daraus entlassen ist?

SHDL: Ich weiß es nicht. Obwohl der Guru in gewissem Sinne die Samaya gebrochen hat, erlaubt dies dem Schüler nicht, sie seinerseits zu brechen. Wenn der Guru tötet, bedeutet nicht, dass ich das auch tun kann! Wir sollten keine schlechten Beispiele nachahmen! Wir sollten die in der Welt übliche Sichtweise dessen, was richtig und was falsch ist, respektieren. Vorhin sprach ich von der Situation mit meinen beiden Regenten. Obwohl ich tiefen Glauben und Respekt für meine Lehrer habe und sie als geistig hochstehende Wesen betrachte, habe ich nicht gezögert, ihr Verhalten zu kritisieren, weil diese Handlungen falsch waren, egal wer sie tat. Ich habe nicht aus Hass oder Respektlosigkeit gesprochen, sondern weil ich den Buddhadharma liebe – und ihre Handlungen wandten sich dagegen.

Es ist wichtig, zwei Dinge zu unterscheiden: die Person und ihre Handlung. Wir kritisieren die Handlung, nicht die Person. Die Person ist neutral: Er oder sie will glücklich sein und das Leiden überwinden, und sobald das negative Handeln aufhört, wird er oder sie ein Freund. Der Unruhestifter sind das Leiden und die Handlungen. Sich gegen eine Handlungsweise auszusprechen, bedeutet nicht, dass wir die Person hassen. Zum Beispiel bekämpfen wir Tibeter chinesische Ungerechtigkeit, aber das bedeutet nicht, dass wir gegen die Chinesen als Menschen sind, nicht einmal gegen die diejenigen, die rücksichtslos sind. In der Meditation versuche ich, für diese Menschen ein echtes Mitgefühl zu entwickeln.

Entsprechend können wir die missbräuchlichen Handlungen oder negativen Qualitäten eines Lehrers kritisieren, während wir ihn gleichzeitig als Person respektieren. Es gibt dann immer noch einige wertvolle Aspekte des Gurus. Eine falsche Handlung zerstört nicht all seine guten Eigenschaften. Wenn Sie auf diese Weise kritisieren, besteht nicht die Gefahr, als Resultat davon in der Hölle wiedergeboren zu werden. Die Motivation ist der Schlüssel: Aus Hass oder dem Wunsch nach Rache zu sprechen ist falsch. Wenn wir aber wissen, dass ein schlechtes Benehmen weitergehen wird, wenn wir nicht offen sprechen, und dass dies dem Buddhadharma schaden wird und wir schweigen trotzdem – dann ist das falsch.

WBL: Im Westen gibt es viele Diskussion über die Angemessenheit sexueller Beziehungen, wenn die beiden Beziehungspartner nicht dieselbe Macht oder denselben Status haben. Was ist Ihre Meinung dazu: Gibt es Situationen, in denen sexuelle Beziehungen zwischen einem buddhistischen Lehrer und seiner Schülerin oder seinem Schüler angemessen sein könnten?

SHDL: Es kann vorkommen, dass eine unverheiratete Lehrerin oder ein unverheirateter Lehrer während des Unterrichts eine unverheiratete Schülerin oder einen unverheirateten Schüler trifft. Wenn sich die Beziehung auf eine normale Art und Weise in gegenseitigem Einvernehmen und gegenseitigem Respekt entwickelt und sie sich entscheiden zu heiraten, ist es gut. Wenn zwei Menschen in einer Beziehung einander gleich behandeln, gibt es keinen Unterschied in Macht oder Status während des Geschlechtsverkehrs. Der Lehrer ist dann nicht auf dem Thron! Wenn allerdings der Lehrer diesen Monat mit der einen Schülerin zusammen ist und im nächsten Monat mit jemand anders, ist das nicht richtig. Es ist auch falsch, sexuellen Kontakt zu erzwingen. Genauso falsch ist es, die Idee von Dakinis zu missbrauchen, indem Lehrer Dinge sagen wie „Sie haben Anzeichen einer qualifizierten Dakini“ oder einem Schüler schmeicheln „Sie haben ein sehr großes Dharma-Potenzial“. Frauen sollten keine Angst haben, nein zu sagen!

WBL: Im Westen denken viele berufliche Dharma-Lehrerinnen und -Lehrer intensiv  über Methoden nach, mit denen sie Fällen von Missbrauch begegnen können. Gibt es asiatische Methoden zum Umgang mit Missbrauch und zur Unterstützung der beteiligten Parteien?

SHDL: Mönche, die eines der vier Wurzel-Gelübde gänzlich übertreten – also das Töten von Menschen aufzugeben, ebenso den Diebstahl wertvoller Gegenstände, den Geschlechtsverkehr (heterosexuell oder homosexuell) und das Lügen über den eigenen geistigen Fortschritt –, müssen das Kloster verlassen und sind nicht mehr ordiniert. Abgesehen davon kenne ich keine institutionalisierten Methoden für den Umgang mit anderen Fällen.

Alle Formen des Missbrauchs verletzen allgemeine buddhistische Grundsätze. Wenn eine Person nicht einmal auf die Anweisungen des Buddhas hört, ist es zweifelhaft, dass sie gewöhnlichen Menschen wie uns zuhören wird. Vorhin habe ich vorgeschlagen, dass Schülerinnen und Schüler – wenn ein Lehrer eindeutig unethisch handelt und sie versucht haben, mit dem Lehrer zu diskutieren, dies aber ohne Ergebnis geblieben ist – nur noch die Möglichkeit haben, die Angelegenheit innerhalb der Gemeinschaft öffentlich zu machen. Ich nehme an, der Lehrer wird sich daraufhin schämen, peinlich berührt fühlen und beschließen, sein Verhalten zu verändern. Ich begrüße Ihre Ideen zu diesem Thema.

Manche Menschen geben fast ihren Glauben und Respekt für den Buddha auf, wenn sie von einem buddhistischen Lehrer sexuell missbraucht werden. Das macht mich sehr traurig. Wenn man erklärt, dass sich solche Handlungen gegen allgemeine buddhistische Grundsätze richten, nehmen ihre Zweifel am Buddha und am Dharma ab. Wie bereits erwähnt: Wenn ein Lehrer Anweisungen gibt, die dem Weg widersprechen, sollten Sie ihnen nicht folgen. Sollte jemand schriftliche Quellen sehen wollen, um diesen oder andere Punkte zu belegen, können wir sie beibringen.

Als Buddhistinnen und Buddhisten muss unsere Motivation klar und aufrichtig sein. Weil es in den entwickelten Ländern eine starke Krise gibt, müssen wir erklären, was angemessenes Verhalten nach dem Dharma ist und müssen auch selbst danach leben. Wir erfinden ja keine ethischen Verhaltensgrundsätze und zwingen sie anderen auf: Der Buddha selbst hat dies so beschrieben und die verschiedenen Gelübde etabliert. Als aufrichtige Anhängerinnen und Anhänger des Buddha erinnern wir uns und andere einfach an das, was der Buddha gesagt hat. Wenn jemand dem nicht folgen will, dann ist das sein gutes Recht. Aber wenn jemand den Buddha als Lehrer betrachtet, ist es wichtig, die ethischen Prinzipien des Buddhas zu respektieren.  ■

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Editiert von Bhikshuni Thubten Chödrön
© Thubten Chödrön
www.thubtenchodron.org

Deutsche Übersetzung: Susanne Billig.
© Buddhismus Aktuell
www.buddhismus-aktuell.de

Titelbild 14. Dalai Lama Tenzin Gyatso: © www.iltk.org

Mit freundlicher Erlaubnis der Ehrwürdigen Thubten Chödrön und Buddhismus Aktuell.


Fußnoten

¹ Der tibetische Buddhismus spricht von drei Arten der Praxis: Vinaya, Mahayana und Vajrayana (Tantrayana). In der Vinaya-Praxis (das Wort „Vinaya“ wird hier in einem allgemeineren Sinne verwendet) sucht man Befreiung vom Kreislauf der Wiedergeburten. Um dies zu bewirken, nimmt man Zuflucht zu den drei Juwelen, versucht, die zehn destruktiven Verhaltensweisen zu vermeiden und nimmt Gelübde als Laienschüler oder als ordinierter Schüler des Buddha an. Die Laienverpflichtungen umfassen die fünf Laiengelübde, und die Verpflichtungen der oder des Ordinierten umfassen die Novizengelübde sowie die der Vollordination. In der Mahayana- oder der Paramitayana-Praxis sucht man die volle Erleuchtung, um anderen am besten helfen zu können. Um dies zu verwirklichen, nimmt man die Bodhisattva-Gelübde an und praktiziert die sechs Paramitas (die sechs Vollkommenheiten oder befreienden Handlungen) – Großzügigkeit, Ethik, Geduld, freudige Anstrengung, Konzentration und Weisheit. Das Vajrayana ist ein Zweig des Mahayana und so ist die Motivation gleich: Man möchte in der Lage sein, anderen am besten zu dienen, und darum ein voll erleuchteter Buddha werden. Es gibt verschiedene Tantra-Klassen, die alle die Einweihung in die Praktiken der Meditationsgottheiten beinhalten. In den höheren Klassen des Tantra nimmt man die tantrischen Gelübde. Das Vajrayana hat spezielle Meditationstechniken wie die Visualisierung der eigenen Person als Buddha-Figur und die Arbeit mit den subtilen Energien des Körpers und den subtilen Ebenen des Geistes. Die Praxis des Vajrayana basiert auf der Praxis des Mahayana, und das wiederum basiert auf der Praxis des Vinaya. Weil es diese drei Arten von Praxis gibt, gibt es drei Arten von Lehrern – mit verschiedenen Qualitäten, nach denen man in ihnen sucht – und verschiedene Arten von Beziehungen zu diesen Lehrern. Die hier beschriebene Struktur mag nicht der Sichtweise aller buddhistischen Traditionen entsprechen, doch spricht Seine Heiligkeit hier vom Standpunkt des Vajrayana, wie es in Tibet praktiziert wird.

² Auf sehr hohen Ebenen des Weges, wenn eine Person eine direkte, nicht begriffliche Verwirklichung der Leere hat und alle Vorstellungen von einem unabhängigen Wesenskern überwunden hat, sieht diese Person Phänomene nicht mehr in derselben gewöhnlichen, dualistischen Weise, wie wir normale Menschen sie sehen. Wenn solch ein Mensch also Urin, Alkohol und so weiter zu sich nimmt, reagiert er nicht wie wir, sondern betrachtet diese Dinge aus einer reinen Perspektive.

³ Seine Heiligkeit spricht hier vom allgemeinen Standpunkt des Sutra-Pfades. Im Tantra-Pfad wird Alkohol zeitweise in bestimmten Ritualen verwendet. Weil die tantrische Meditation sich mit der Überwindung und Verwandlung gewöhnlicher Erscheinungen und dem Begreifen des Gewöhnlichen beschäftigt, wird der Alkohol durch die Kraft der eigenen Meditation in eine reine Substanz verwandelt, und mit diesem Bewusstsein kann er geschmeckt werden. Es wird empfohlen, dass Menschen, denen tantrische Erkenntnisse fehlen, nur eine kleine Menge während des Rituals zu sich nehmen. Allerdings können Menschen mit hoher Verwirklichung Alkohol zu sich nehmen, ohne dass er ihre Achtsamkeit oder die Klarheit ihres Geistes beeinträchtigt.

Ein Mahasiddha ist ein hoch realisierter tantrischer Praktizierender, der bisweilen unkonventionell handeln kann. Obwohl das Verhalten nicht mit sozialen Normen übereinstimmen mag, sind die Motivation, die Verwirklichung und die Handlungen rein.

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S.H. der XIV. Dalai Lama, Tenzin Gyatso

Tenzin Gyatso ist der amtierende 14. Dalai Lama. Als Kind einfacher Bauern wurde er 1935 im Nordosten Tibets geboren und schon als kleines Kind von tibetischen Mönchen als die Wiedergeburt des 13. Dalai Lama erkannt und als Tibets geistliches und weltliches Oberhaupt eingesetzt. Chinas brutale Politik machten seine Bemühungen um eine friedliche Lösung des Konflikts zwischen Tibet und China zunichte; er und zehntausende von Tibeterinnen und Tibetern sahen sich zur Flucht über den Himalaya nach Indien gezwungen. Der Dalai Lama residiert seit 1960 im nordindischen Dharamsala, wo auch die tibetische Exilregierung heute ihren Sitz hat. 1989 erhielt er für seine Bemühungen um die gewaltfreie Lösung des Tibetproblems den Friedensnobelpreis. Sein Leben und seine Aufgabe beschreibt Tenzin Gyatso selbst so: „Für mich ist Dalai Lama ein Titel, der auf das Amt hinweist, das ich innehabe. Ich selbst bin ein menschliches Wesen und nebenbei ein Tibeter, der sich dafür entschieden hat, ein buddhistischer Mönch zu sein.“

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Ursprünglich veröffentlicht in Englisch unter dem Titel Ethics in the Teacher-Student Relationship: The Responsibilities of Teachers and Students auf www.info-buddhism.com. Deutsche Übersetzung: Susanne Billig.

Veröffentlichung der deutschen Übersetzung Buddhismus Aktuell unter dem Titel GESPRÄCH: „Es gibt keine Entschuldigung für unethisches Verhalten“. Mit freundlicher Erlaubnis von Thubten Chödrön und Buddhismus Aktuell.

Bhikshuni Thubten Chödrön wird voraussichtlich im März 2018 ein Buch mit dem Titel “The Foundation of the Buddhist Path” publizieren. Dieses Buch wird zwei Kapitel zur Lehrer-Schüler-Beziehung enthalten, die all diese Notizen sowie weiteres Material zu diesem Thema enthalten werden.

Die Dalai Lamas

»Die Dalai Lamas werden von ihren Anhängern als fortgeschrittene Mahayana Bodhisattvas angesehen, mitfühlende Wesen, die sozusagen ihren eigenen Eintritt in das Nirvana zurückgestellt haben, um der leidenden Menschheit zu helfen. Sie sind demnach auf einem guten Wege zur Buddhaschaft, sie entwickeln Perfektion in ihrer Weisheit und ihrem Mitgefühl zum Wohle aller Wesen. Dies rechtertigt, in Form einer Doktrin, die soziopolitische Mitwirkung der Dalai Lamas, als Ausdruck des mitfühlenden Wunsches eines Bodhisattvas, anderen zu helfen.«

»Hier sollten wir zwei Dinge feststellen, die der Dalai Lama nicht ist: Erstens, er ist nicht in einem einfachen Sinne ein ›Gott-König‹. Er mag eine Art König sein, aber er ist kein Gott für den Buddhismus. Zweitens, ist der Dalai Lama nicht das ›Oberhaupt des Tibetischen Buddhismus‹ als Ganzes. Es gibt zahlreiche Traditionen im Buddhismus. Manche haben ein Oberhaupt benannt, andere nicht. Auch innerhalb Tibets gibt es mehrere Traditionen. Das Oberhaupt der Geluk Tradition ist der Abt des Ganden Klosters, als Nachfolger von Tsong kha pa, dem Begründer der Geluk Tradition im vierzehnten/fünfzehnten Jahrhundert.«

Paul Williams, »Dalai Lama«, in
Clarke, P. B., Encyclopedia of New Religious Movements
(New York: Routledge, 2006), S. 136.

Regierungsverantwortung der Dalai Lamas

»Nur wenige der 14 Dalai Lamas regierten Tibet und wenn, dann meist nur für einige wenige Jahre.«

(Brauen 2005:6)

»In der Realität dürften insgesamt kaum mehr als fünfundvierzig Jahre der uneingeschränkten Regierungsgewalt der Dalai Lamas zusammenkommen. Die Dalai Lamas sechs und neun bis zwölf regierten gar nicht, die letzten vier, weil keiner von ihnen das regierungsfähige Alter erreichte. Der siebte Dalai Lama regierte uneingeschränkt nur drei Jahre und der achte überhaupt nur widerwillig und auch das phasenweise nicht allein. Lediglich der fünfte und der dreizehnte Dalai Lama können eine nennenswerte Regieruagsbeteiligung oder Alleinregierung vorweisen. Zwischen 1750 und 1950 gab es nur achtunddreißig Jahre, in denen kein Regent regierte!«

Jan-Ulrich Sobisch,
Lamakratie – Das Scheitern einer Regierungsform, S. 182,
Universität Hamburg

Der Fünfte Dalai Lama, Ngawang Lobsang Gyatso (1617–1682)

Der Fünfte Dalai Lama, Ngawang Lobsang Gyatso

»Der fünfte Dalai Lama, der in der tibetischen Geschichte einfach ›Der Große Fünfte‹ genannt wird, ist bekannt als der Führer, dem es 1642 gelang, Tibet nach einem grausamen Bürgerkrieg zu vereinigen. Die Ära des fünften Dalai Lama (in etwa von seiner Einsetzung als Herrscher von Tibet bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts, als seiner Regierung die Kontrolle über das Land zu entgleiten begann) gilt als prägender Zeitabschnitt bei der Herausbildung einer nationalen tibetischen Identität – eine Identität, die sich im Wesentlichen auf den Dalai Lama, den Potala-Palast der Dalai Lamas und die heiligen Tempel von Lhasa stützt. In dieser Zeit wandelte sich der Dalai Lama von einer Reinkarnation unter vielen, wie sie mit den verschiedenen buddhistischen Schulen assoziiert waren, zum wichtigsten Beschützer seines Landes. So bemerkte 1646 ein Schriftsteller, dass dank der guten Werke des fünften Dalai Lama ganz Tibet jetzt »unter dem wohlwollenden Schutz eines weißen Sonnenschirms zentriert« sei; und 1698 konstatierte ein anderer Schriftsteller, die Regierung des Dalai Lama diene dem Wohl Tibets ganz so wie ein Bodhisattva – der heilige Held des Mahayana Buddhismus – dem Wohl der gesamten Menschheit diene.«

Kurtis R. Schaeffer, »Der Fünfte Dalai Lama Ngawang Lobsang Gyatso«, in
DIE DALAI LAMAS: Tibets Reinkarnation des Bodhisattva Avalokiteśvara,
ARNOLDSCHE Art Publishers,
Martin Brauen (Hrsg.), 2005, S. 65

Der Fünfte Dalai Lama: Beurteilungen seiner Herrschaft I

»Gemäß der meisten Quellen war der [5.] Dalai Lama nach den Maßstäben seiner Zeit ein recht toleranter und gütiger Herrscher.«

Paul Williams, »Dalai Lama«, in
(Clarke, 2006, S. 136)

»Rückblickend erscheint Lobsang Gyatso, der ›Große Fünfte‹, dem Betrachter als überragende, allerdings auch als widersprüchliche Gestalt.«

Karl-Heinz Golzio / Pietro Bandini,
»Die vierzehn Wiedergeburten des Dalai Lama«,
O.W. Barth Verlag, 1997, S. 118

»Einmal an der Macht, zeigte er den anderen Schulen gegenüber beträchtliche Großzügigkeit. […] Ngawang Lobsang Gyatso wird von den Tibetern der ›Große Fünfte‹ genannt, und ohne jeden Zweifel war er ein ungewöhnlich kluger, willensstarker und doch gleichzeitig großmütiger Herrscher.«

Per Kvaerne, »Aufstieg und Untergang einer klösterlichen Tradition«, in:
Berchert, Heinz; Gombrich, Richard (Hrsg.):
»Der Buddhismus. Geschichte und Gegenwart«,
München 2000, S. 320

Der Fünfte Dalai Lama: Beurteilungen seiner Herrschaft II

»Viele Tibeter gedenken insbesondere des V. Dalai Lama bis heute mit tiefer Ehrfurcht, die nicht allein religiös, sondern mehr noch patriotisch begründet ist: Durch großes diplomatisches Geschick, allerdings auch durch nicht immer skrupulösen Einsatz machtpolitischer und selbst militärischer Mittel gelang es Ngawang Lobzang Gyatso, dem ›Großen Fünften‹, Tibet nach Jahrhunderten des Niedergangs wieder zu einen und in den Rang einer bedeutenden Regionalmacht zurückzuführen. Als erster Dalai Lama wurde er auch zum weltlichen Herrscher Tibets proklamiert. Unter seiner Ägide errang der Gelugpa-Orden endgültig die Vorherrschaft über die rivalisierenden lamaistischen Schulen, die teilweise durch blutigen Bürgerkrieg und inquisitorische Verfolgung unterworfen oder außer Landes getrieben wurden.

Jedoch kehrte der Dalai Lama in seiner zweiten Lebenshälfte, nach Festigung seiner Macht und des tibetischen Staates, zu einer Politik der Mäßigung und Toleranz zurück, die seinem Charakter eher entsprach als die drastischen Maßnahmen, durch die er zur Herrschaft gelangte. Denn Ngawang Lobzang Gyatso war nicht nur ein Machtpolitiker und überragender Staatsmann, sondern ebenso ein spiritueller Meister mit ausgeprägter Neigung zu tantrischer Magie und lebhaftem Interesse auch an den Lehren anderer lamaistischer Orden. Zeitlebens empfing er, wie die meisten seiner Vorgänger, gebieterische Gesichte, die er gegen Ende seines Lebens in seinen ›Geheimen Visionen‹ niederlegte.«

(Golzio, Bandini 1997: 95)

Der Dreizehnte Dalai Lama, Thubten Gyatso (1876–1933)

Der Dreizehnte Dalai Lama, Thubten Gyatso

»Ein anderer, besonders wichtiger Dalai Lama war der Dreizehnte (1876–1933). Als starker Herrscher versuchte er, im Allgemeinen ohne Erfolg, Tibet zu modernisieren. ›Der große Dreizehnte‹ nutzte den Vorteil des schwindenden Einflusses China im 1911 beginnenden Kollaps dessen Monarchie, um faktisch der vollständigen nationalen Unabhängigkeit Tibets von China Geltung zu verschaffen. Ein Fakt, den die Tibeter von jeher als Tatsache erachtet haben.«

Paul Williams, »Dalai Lama«, in
(Clarke, 2006, S. 137)

»Manche mögen sich vielleicht fragen, wie die Herrschaft des Dalai Lama im Vergleich mit europäischen oder amerikanischen Regierungschefs einzuschätzen ist. Doch ein solcher Vergleich wäre nicht gerecht, es sei denn, man geht mehrere hundert Jahre in der europäischen Geschichte zurück, als Europa sich in demselben Zustand feudaler Herrschaft befand, wie es in Tibet heutzutage der Fall ist. Ganz sicher wären die Tibeter nicht glücklich, wenn sie auf dieselbe Art regiert würden wie die Menschen in England; und man kann wahrscheinlich zu Recht behaupten, dass sie im Großen und Ganzen glücklicher sind als die Völker Europas oder Amerikas unter ihren Regierungen. Mit der Zeit werden große Veränderungen kommen; aber wenn sie nicht langsam vonstatten gehen und die Menschen nicht bereit sind, sich anzupassen, dann werden sie große Unzufriedenheit verursachen. Unterdessen läuft die allgemeine Verwaltung Tibets in geordneteren Bahnen als die Verwaltung Chinas; der tibetische Lebensstandard ist höher als der chinesische oder indische; und der Status der Frauen ist in Tibet besser als in beiden genannten Ländern.«

Sir Charles Bell, »Der Große Dreizehnte:
Das unbekannte Leben des XIII. Dalai Lama von Tibet«,
Bastei Lübbe, 2005, S. 546

Der Dreizehnte Dalai Lama: Beurteilungen seiner Herrschaft

»War der Dalai Lama im Großen und Ganzen ein guter Herrscher? Dies können wir mit Sicherheit bejahen, auf der geistlichen ebenso wie auf der weltlichen Seite. Was erstere betrifft, so hatte er die komplizierte Struktur des tibetischen Buddhismus schon als kleiner Junge mit ungeheurem Eifer studiert und eine außergewöhnliche Gelehrsamkeit erreicht. Er verlangte eine strengere Befolgung der mönchischen Regeln, veranlasste die Mönche, ihren Studien weiter nachzugehen, bekämpfte die Gier, Faulheit und Korruption unter ihnen und verminderte ihren Einfluss auf die Politik. So weit wie möglich kümmerte er sich um die zahllosen religiösen Bauwerke. In summa ist ganz sicher festzuhalten, dass er die Spiritualität des tibetischen Buddhismus vergrößert hat.

Auf der weltlichen Seite stärkte er Recht und Gesetz, trat in engere Verbindung mit dem Volk, führte humanere Grundsätze in Verwaltung und Justiz ein und, wie oben bereits gesagt, verringerte die klösterliche Vorherrschaft in weltlichen Angelegenheiten. In der Hoffnung, damit einer chinesischen Invasion vorbeugen zu können, baute er gegen den Widerstand der Klöster eine Armee auf; vor seiner Herrschaft gab es praktisch keine Armee. In Anbetracht der sehr angespannten tibetischen Staatsfinanzen, des intensiven Widerstands der Klöster und anderer Schwierigkeiten hätte er kaum weiter gehen können, als er es tat.

Im Verlauf seiner Regierung beendete der Dalai Lama die chinesische Vorherrschaft in dem großen Teil Tibets, den er beherrschte, indem er chinesische Soldaten und Beamte daraus verbannte. Dieser Teil Tibets wurde zu einem vollkommen unabhängigen Königreich und blieb dies auch während der letzten 20 Jahre seines Lebens.«

Sir Charles Bell in (Bell 2005: 546–47)

Der Vierzehnte Dalai Lama, Tenzin Gyatso

Der Vierzehnte Dalai Lama, Tenzin Gyatso

»Der jetzige vierzehnte Dalai Lama (Tenzin Gyatso) wurde 1935 geboren. Die Chinesen besetzten Tibet in den frühen 1950er Jahren, der Dalai Lama verließ Tibet 1959. Er lebt jetzt als Flüchtling in Dharamsala, Nordindien, wo er der Tibetischen Regierung im Exil vorsteht. Als gelehrte und charismatische Persönlichkeit, hat er aktiv die Unabhängigkeit seines Landes von China vertreten. Durch seine häufigen Reisen, Belehrungen und Bücher macht er den Buddhismus bekannt, engagiert sich für den Weltfrieden sowie für die Erforschung von Buddhismus und Wissenschaft. Als Anwalt einer ›universellen Verantwortung und eines guten Herzens‹, erhielt er den Nobelpreis im Jahre 1989.«

Paul Williams, »Dalai Lama«, in
(Clarke, 2006, S. 137)

Biografie (engl.)

Moralische Legitimation der Herrschaft Geistlicher

Für Sobisch ist die moralische Legitimation der Herrschaft Geistlicher »außerordentlich zweifelhaft«. Er konstatiert:

»Es zeigte sich auch in Tibet, daß moralische Integrität nicht automatisch mit der Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Menschen erlangt wird, sondern allein auf persönlichen Entscheidungen basiert. Vielleicht sind es ähnliche Überlegungen gewesen, die den derzeitigen, vierzehnten Dalai Lama dazu bewogen haben, mehrmals unmißverständlich zu erklären, daß er bei einer Rückkehr in ein freies Tibet kein politische Amt mehr übernehmen werde. Dies ist, so meine ich, keine schlechte Nachricht. Denn dieser Dalai Lama hat bewiesen, daß man auch ohne ein international anerkanntes politisches Amt inne zu haben durch ein glaubhaft an ethischen Grundsätzen ausgerichtetes beharrliches Wirken einen enormen Einfluss in der Welt ausüben kann.«

Jan-Ulrich Sobisch,
Lamakratie – Das Scheitern einer Regierungsform, S. 190,
Universität Hamburg

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