Meine Lehrer sind immer präsent für mich
Einige Gedanken zur Lehrer-Schüler-Beziehung
S. E. Dagyab Kyabgön Rinpoche
Anmerkung: Im Buddhismus gibt es verschiedene Ebenen spiritueller Lehrer-Schüler-Beziehungen. Die ethische Dimension solcher Beziehungen wird durch viele Faktoren bestimmt, wie z.B. der Qualifikation von Lehrer und Schüler oder der Praxisebene (Shravakayana, Bodhisattvayana, Vajrayana).
Dagyab Rinpoche skizziert im nachfolgenden Vortrag Gedanken zur Lehrer-Schüler-Beziehung im Rahmen der Vajrayana Praxis. Für eine vertiefende Darstellung des gesamten Themenkomplexes ist Dr. Alexander Berzins Buch „Zwischen Freiheit und Unterwerfung – Chancen und Gefahren spiritueller Lehrer-Schüler-Beziehungen“ zu empfehlen.
Traditionelle buddhistische Texte beginnen in der Regel mit der Verehrung des Verfassers (Meisters). Auch in unseren Rezitationsheften steht: „Der Meister ist die Basis für alle Qualitäten.“ Der eigene Meister, dessen Meister, die gesamte Überlieferungslinie sind außerordentlich wichtig, weil alle Qualitäten und die gesamte geistige Entwicklung durch sie entstanden sind. Das ist das Kontinuum des Segens.
In einer Vorlesung oder in der Schule wird nur Wissen, es werden jedoch keine weiteren, tiefer gehenden Qualitäten vermittelt.
Weil die Übermittlung der Segenskraft sehr wichtig ist, wird auf die guten Eigenschaften des Meisters z.B. bzgl. Sutra und Tantra sehr viel Wert gelegt. Am wichtigsten aber ist es, dass er ein guter Mensch ist. Es ist nicht jemand spiritueller Lehrer, nur weil er über Dharma spricht.
Warmherzigkeit ist unabdingbar, insbesondere gegenüber der Schülerschaft, was u.a. bedeutet, immer für sie da zu sein. Hiermit ist nicht nur die physikalische Ebene gemeint.
Den Dalai Lama können wir höchstens ein- oder zweimal im Jahr sehen, was nicht heißt, ihm nicht nah zu sein. Immer mit dem Dalai Lama zusammen sein zu wollen, ist ein konventionelles Konzept, kein spiritueller Gedanke.
Die beiden Lehrer des Dalai Lama sind, konventionell gesehen, nicht in der Gegenwart, aber ihre Qualitäten sind immer in meinem Herzen. Sie sind immer präsent für mich.
Es wäre selbstverständlich für uns sehr angenehm, sehr gut, wenn die Möglichkeit bestünde, den oder die Lamas öfter zu sehen, es ist menschlich, sich danach zu sehnen. Betrachten wir den Lama aber nur als „Kumpel“ und haben seine Qualitäten nicht im Herzen, dann nützt auch die konventionelle Begegnung nicht viel. Diese beiden Ebenen, die konventionelle und die spirituelle Ebene, müssen wir auseinanderhalten.
Ein guter Mensch zu sein und die damit verbundenen Qualitäten zu haben, ist für eine gut funktionierende Lehrer-Schüler-Beziehung Voraussetzung.
Wie beginnt nun diese Lehrer-Schüler-Beziehung? Ausschlaggebend ist die gleichzeitige Absicht aufseiten des Lehrers und des Schülers.
Die Teilnahme an Unterweisungen, und sei es ein Leben lang, begründet eine solche Lehrer-Schüler-Beziehung nicht.
Es gab einen Mönch, der zum Privatkloster des Dalai Lama gehörte und eine entscheidende Stellung innehatte. Er nahm an allen Unterweisungen und Einweihungen des Dalai Lama teil, ohne eine Lehrer-Schüler-Beziehung einzugehen, weil er nicht die Absicht hatte.
Der Grund war seine große Nähe zum Dalai Lama im Alltag, durch die nach seiner Ansicht die Gefahr bestand, schlechte Gedanken über ihn zu hegen. Da er den Samaya¹ zum Lehrer sehr ernst nahm, ging er diese Beziehung von Anfang an lieber nicht ein, was eine beachtliche Leistung ist.
Der Samaya zwischen Lehrer und Schüler ist für beide Seiten außerordentlich wichtig, hauptsächlich aber für uns Schüler. Wenn wir den Samaya nicht richtig aufrechterhalten, hat das Konsequenzen. Warum? Weil es Ursache und Wirkung gibt. Habe ich eine Ursache gesetzt, muss ich ein entsprechendes Ergebnis erwarten. Das hat nichts mit Bestrafung zu tun, sondern ist einfach Ursache und Wirkung, Karma eben.²
Früher in Tibet hatte ich einen Dharmafreund, der auch Rinpoche war. Er wollte von einem anderen Meister zum ersten Mal Unterweisungen hören und Einweihungen nehmen. Aber am ersten Tag, während des vorbereitenden Teils, bekam er Bedenken.
Deshalb fragte er am Abend unseren Lehrer Kyabje Dorje Chang (Trijang Rinpoche). Es stellte sich heraus, dass besagter Meister die Auffassung des großen Phabongka nicht teilte und schlecht über diesen geredet hatte. Leider hatte der Rinpoche nicht schon vorher Kyabje Dorje Chang gefragt und bereits einen Tag teilgenommen, was er sehr bereute. Am nächsten Tag ging er deshalb nicht mehr hin, um sein Samaya nicht zu beschädigen.
Ein anderer Meister in Osttibet in der Gegend von Dagyab, der auch wertvolle Dharmaunterweisungen gab, hatte leider eine zweifelhafte Einstellung zum Dalai Lama.
Ich riet daher meinem gesamten Kloster von einer Einladung dieses Rinpoches ab. Weil ich den Samaya ernst nehmen möchte. Wenn der Samaya dem Dalai Lama gegenüber nicht stimmt, dann kann es mir gegenüber auch nicht stimmen. Mein Kloster steht unter meiner spirituellen Leitung, meiner spirituellen Obhut, deshalb bin ich verantwortlich und habe so gehandelt.
Leider lebt dieser große Meister in Osttibet inzwischen nicht mehr und kann somit so oder so keine Unterweisungen mehr geben. Hätte mein Kloster ihn aber noch einmal einladen wollen, wäre mir das nicht recht gewesen, weil ich der Samaya mit dem Dalai Lama aufrechterhalten möchte. Das nehme ich sowohl für mich sehr ernst als auch für meine Mönche und Nonnen sowie die gesamte Bevölkerung von Dagyab.
Wir tibetischen Buddhisten achten sehr darauf, die Lehrer-Schüler-Beziehung aufrechtzuerhalten. Wir verehren den Lehrer inständig, schätzen seine Qualitäten und bleiben vom Herzen her mit ihm verbunden. So halten wir den Samaya immer aufrecht. Das macht alles viel, viel leichter.
Diese Verehrung, diese Hingabe ist insbesondere für uns nötig, nicht für den Lehrer, weil ich Buddhaschaft erlangen möchte, weil ich meine starre geistige Haltung verändern möchte, weil ich meine geistigen Qualitäten vermehren möchte. Um diesen Segen zu erhalten, verehre ich meinen Lehrer und respektiere ihn von ganzem Herzen.
Ich selbst spüre in meinem Herzen diese Hingabe aus meiner eigenen Erfahrung, die sicherlich sehr begrenzt ist. Bevor ich Unterweisungen gebe, mache ich inständige Gebete an meinen Meister und meditiere darüber, das gibt mir eine besondere Kraft. Sogar während meiner Universitätszeit habe ich in meinem Zimmer vor einer Vorlesung Gebete gemacht, denn die Inhalte waren ja direkt oder indirekt mit dem Dharma verbunden. Dadurch konnte ich viel leichter sprechen, und hatte ich es einmal vergessen, bekam ich Probleme mit meinem Vortrag. Ich bin nicht jemand, der alles vorher im Kopf plant, sondern eher spontan. Alles was ich sage, kommt aus meinem Herzen, aus meiner Überzeugung und vor allem aus dem Segen.
Alle haben mindestens einen Lehrer oder, wie z.B. Atisha, sehr viele. Alle diese Lehrer sind Wurzellehrer. Hier machen manche im Westen einen Unterschied, das ist falsch. Aber einige wenige sind besonders wichtige oder besonders gütige Lehrer. Wie kann ich dies unterscheiden? Nicht anhand der Anzahl der Unterweisungen, sondern durch den Nutzen für meinen Geist. Kommt es durch eine Unterweisung zu einer unbeschreiblichen Korrektur meines Geistes, dann ist er/sie wirklich ein/e besonders gütige/r Meister/in.
Ich habe etwas ausführlicher über dieses Thema gesprochen, weil ich euch unsere asiatische Mentalität, insbesondere bzgl. des Dharma, nahebringen möchte. Ich weiß, dass diese Sichtweise für euch nicht leicht zu verstehen und zu verdauen ist, aber es ist wichtig, darüber informiert zu sein. Es liegt in euren Händen, was ihr letztendlich mit dieser Information macht. Ihr seid selbst verantwortlich sowohl als einzelne Personen als auch als Gemeinschaft.
Für mich steht natürlich Kyabje Dorje Chang an erster Stelle. Er hat einen richtigen Menschen aus mir gemacht, so, wie es in einem tibetischen Sprichwort ausgedrückt wird: „Ein Schwein in einen Yak umwandeln.“ Er hat einen Menschen aus mir gemacht, der vom Dharma überzeugt ist.
An zweiter Stelle kommt der Dalai Lama, denn seine Aussagen über Bodhicitta, über Leerheit und über Tantra haben mich völlig überzeugt. Nicht weil er der Dalai Lama ist, sondern weil alles, was er über Bodhicitta sagt, von ganzem Herzen kommt und auf seiner Erfahrung beruht. Weil das so ist, hat es eine besondere Wirkung auf mich. Wenn er über Leerheit spricht, kann es nur so und nicht anders sein, das überzeugt mich hundertprozentig. Genauso ist es selbstverständlich bezüglich Tantra, denn da ist sein Zuhause. Diese Überzeugungen sind für mich förderlich und nützlich.
An dritter Stelle steht S.H. Sakya Trizin. Er ist, offen gesagt, ein großer Meister, denn wie er den Dharma verkündet ist wunderbar, allerdings ist es für mich nicht wie beim Dalai Lama.
Seine Präsenz aber erzeugt in mir tiefgründige Hingabe. Ich habe viele Unterweisungen von ihm bekommen, einmal mehrwöchige allgemeine Lam Dre-Unterweisungen in Washington und einmal 6-wöchige Lam Dre-Unterweisungen in Vancouver für spezielle Schüler, zu denen ich angeblich gehörte. (Eigentlich ist das zum Lachen. Zum Glück hat er mich nicht rausgeschmissen, und ich konnte die gesamte Zeit bleiben.)
Jedes Mal, wenn ich ihn sehe − auch privat −, bringt er mich zum Weinen, die Tränen fließen einfach. D.h. meine Hingabe ist wirklich vollständig. Diese Verbindung zwischen Lehrer und Schüler ist sozusagen „unter Dach und Fach“. Deshalb bringt es mir schon großartigen Nutzen, einfach nur mit ihm zusammen zu sein. Das ist ein Zeichen für einen gütigen Meister.
Viele andere großartige Meister haben mir Überlieferungen gegeben. Von Khentse Rinpoche habe ich insgesamt über hundert große Ermächtigungen bekommen, aber meine Hingabe war nicht so intensiv wie bei den oben genannten Lehrern.
Auch Unterweisungen von Ling Rinpoche, den ich sehr verehre und dem ich auch privat nahestehe, hatten nicht die gleiche Wirkung. Das hat karmische Ursachen.
Die dickköpfigen Tibeter machen aus ihrer Tradition eine große Sache.
Wie ihr darüber denkt, hängt selbstverständlich von euch ab. Niemand kann euch zwingen, Buddha nicht, Tsongkapa nicht, niemand. Wir alle sind frei. ■
Anmerkungen
[1] Der Samaya (Sanskrit, männlich!) heißt auf Tibetisch „Damtsig“, was mit „Bindung“ übersetzt werden sollte. So greift das deutsche Wort „Gelübde“, das oft in der Übersetzung Verwendung findet, nicht ganz. Es geht um eine tiefere Bindung, die zwischen dem tantrischen Lehrer und dem Schüler besteht. Die einzelnen „Gelübde“ dienen dazu, dass diese Beziehung erhalten bleibt und weiter vertieft wird.
[2] Anmerkung der Redaktion: Der in buddhistischen Kreisen oft beschriebene „Gelübdebruch“, der bei westlichen Schülern oft Panik und extreme Schuldgefühle auslösen kann, kann von vielen Seiten diskutiert und beurteilt werden. Die damit einher gehenden Konsequenzen beschreibt Rinpoche sehr nüchtern. Er sagt aber an keiner Stelle, dass jemand in die „Hölle“ komme oder ähnliche Strafen erwarten müsse. Er redet vom Prinzip von „Ursache und Wirkung“. Rinpoche hat im anderen Kontext auch davon gesprochen, wie wichtig es sei, dass die tiefe innere Bindung nicht verloren gehen solle. Diese Aussage geht über grobe formale Pflichterfüllung hinaus.
Weiteres siehe: Angst vor einem „Bruch der Guru-Hingabe“ – Alexander Berzin