Der Dalai Lama und der Shugden-Kult
Worum geht es in diesem Konflikt?
Jens-Uwe Hartmann
Ludwig-Maximilians-Universität München
Institut für Indologie und Tibetologie
Schon seit mehreren Jahrhunderten wird der tibetische Buddhismus immer wieder von einer Auseinandersetzung erschüttert, in deren Zentrum eine so genannte Schutzgottheit steht, nämlich Dorje Shugden. Vor einigen Jahrzehnten lebte dieser Konflikt in der indischen Exilgemeinschaft wieder auf, blieb zunächst jedoch eine weitestgehend innertibetische Angelegenheit, allein schon deswegen, weil einschlägige Streitschriften ausschließlich auf Tibetisch publiziert wurden.
Seit 1997 aber hat dieser Konflikt weltweit zunehmend Aufmerksamkeit gefunden, und inzwischen sind auch westliche Anhänger einbezogen. Shugden vermag in hohem Maße zu polarisieren, aber die Auseinandersetzung um die Kultpraxis einer Schutzgottheit des tibetischen Buddhismus würde normalerweise fremd und rätselhaft bleiben. Im Westen lebt sie vor allem davon, dass die Anhänger von Dorje Shugden ihr erklärtes Feindbild in der Person des Dalai Lama gefunden haben. Damit lässt sich Medieninteresse und Publikumswirksamkeit erzeugen. Wenn man einer allgemein als spirituelle Lichtgestalt gehandelten Person wie dem Dalai Lama religiöse Unterdrückung vorwirft, kann man sich des öffentlichen Interesses sicher sein.
Zudem wird der sensible Begriff der „Religionsfreiheit“ ins Zentrum der Auseinandersetzung gerückt; er knüpft an die Menschenrechte an, und damit ist im Westen sehr gut Stimmung zu machen. Daher gibt es mittlerweile praktisch keinen Dalai Lama-Besuch mehr im Westen, bei dem nicht eine größere oder kleinere Gruppe westlicher Shugden-Anhänger mit Sprechchören, Plakaten und Flugblättern gegen den Dalai Lama demonstriert und Religionsfreiheit für die Mitglieder ihres Kultes fordert. Dies war beim jüngsten Besuch in Frankfurt zu beobachten, und auch bei den nächsten Besuchen im Westen wird die International Shugden Community gewiss wieder präsent sein. Daher ist es an der Zeit, den Konflikt und vor allem auch seinen Hintergrund wieder einmal in Erinnerung zu rufen.
Ein Schutzgott macht Probleme
Zu den vielen Besonderheiten des Buddhismus in seiner tibetischen Ausprägung zählen die sogenannten Schutzgottheiten. Solche Gottheiten sind keine tibetische „Erfindung“, sondern bereits aus dem indischen Buddhismus bekannt. Erst in Tibet haben sie aber eine besondere Bedeutung gewonnen, was wenigstens teilweise aus der Verschmelzung mit Elementen der vorbuddhistischen religiösen Vorstellungen zu erklären sein mag. Danach ist die Welt von allen möglichen übernatürlichen Wesen bevölkert, beispielsweise von den in Tibet sehr wichtigen Berggottheiten.
Solchen Wesen wird gewöhnlich eine ambivalente Natur zugeschrieben: sie können den Menschen wohl gesonnen sein, aber sie können ihnen auch feindlich gegenüber treten. Schon vom Buddha selbst wird berichtet, wie er solche Wesen bekehrt und als Beschützer in den Dienst seiner Lehre und seiner Anhänger gestellt hat. Diesem Vorbild ist man auch im tibetischen Buddhismus gefolgt. Schutzgottheiten spielen daher eine wichtige Rolle in der religiösen Weltsicht und in der religiösen Praxis der tibetischen Buddhisten.
Eine solche Schutzgottheit ist Dorje Shugden (rDo-rje Shugs-ldan, gesprochen Dordsche Schugden) oder Dolgyal (Dol-rgyal, gesprochen Dölgyel). Als der Konflikt um die Kultpraxis dieser Schutzgottheit in der indischen Exilgemeinschaft wieder aufflammte, hielt man ihn meinem Eindruck nach zunächst ganz bewusst von den westlichen Anhängern fern. Ich erinnere mich, wie mir in den siebziger Jahren einmal praktisch hinter vorgehaltener Hand ganz vorsichtige Andeutungen zugeraunt wurden, und es war die klare Erwartung damit verbunden, dass ich diese Informationen für mich behalten würde.
Einer breiteren Öffentlichkeit in Deutschland wurde das Problem erstmals im Rahmen eines Tibet-Beitrags im ARD-Magazin Panorama am 20.11.1997 nahegebracht. Zielscheibe der Sendung war der Dalai Lama. Er wurde wegen seiner Haltung in dem Konflikt um Dorje Shugden angegriffen. Um die ,Widersprüchlichkeit’ seiner Person zu beleuchten, wurde er zunächst als der weltweit hochgeachtete Friedensnobelpreisträger vorgestellt. Anhand des Shugden-Konfliktes sollte dann gezeigt werden, dass sich hinter dieser Fassade noch ein ganz anderer Mensch verbirgt, der im Verein mit der tibetischen Exilregierung kompromisslos die Religionsfreiheit seiner Landsleute unterdrückt. In diesem Zusammenhang wurde auch ein mysteriöser Mordfall erwähnt, der Anfang 1997 die Exilgemeinschaft erschüttert hatte: Damals waren der in Dharamsala lebende Geshe Losang Gyatsho, ein enger Vertrauter und Unterstützer des Dalai Lama, und seine beiden Schüler ermordet worden.
Grundsätzlich muss man dabei zweierlei festhalten: Erstens besitzen religiöse Auseinandersetzungen in Tibet eine lange Tradition. Zweitens sind bei diesen Konflikten, allen hiesigen Verklärungen Tibets zum Trotz, keineswegs immer nur die Waffen des Geistes zum Einsatz gekommen. Selbst religiös und politisch motivierte Morde hat es in der tibetischen Geschichte immer wieder gegeben. Dass die Tibeter dies als einen realen Bestandteil ihrer Kultur ansehen, zeigt sich schon daran, dass sie keine Schwierigkeiten hatten, den erwähnten Mord an dem Geshe sofort als eine religiös motivierte Tat zu verstehen, obwohl die tatsächlichen Hintergründe dieses Verbrechen meines Wissens bis heute nicht völlig geklärt sind.
Außerdem ist festzuhalten, dass bei den meisten vordergründig religiösen Konflikten gewöhnlich handfeste machtpolitische Interessen mit im Spiel sind. Dies ist bei den Tibetern nicht anders als überall in der Welt. Diese Erkenntnis lehrt uns dann gleich noch ein Drittes, dass es nämlich in solchen Konflikten niemals eine klare Unterscheidung zwischen gerecht und ungerecht, zwischen einer Seite der Guten und einer der Bösen gibt. Vielmehr handelt es sich fast immer um ein Geflecht von Wechselwirkungen, die zur Verstrickung führen.
Diese Erkenntnis ist möglicherweise lästig, weil sie uns die Möglichkeit nimmt, eindeutig für die Seite der »Guten« Stellung zu beziehen, aber sie ist wohl eine notwendige Voraussetzung, um einen Konflikt zu verstehen und dadurch allen Beteiligten einigermaßen gerecht zu werden. Wie kaum anders zu erwarten, spielen alle diese Aspekte auch bei der Auseinandersetzung um Dorje Shugden eine Rolle.
Der geschichtliche Hintergrund
Wer ist nun jener ominöse Dorje Shugden? Bekanntlich gibt es im tibetischen Buddhismus vier Hauptschulen. Jede dieser Schulen verfügt über eigene Schutzgottheiten. Shugden fungiert als ein solcher Schutzgott fast ausschließlich für die Gelugpa-Schule (in sehr viel geringerem Maße auch für die Sakyapas). Sein Kult entstand relativ spät. Er geht zurück auf eine machtpolitische Auseinandersetzung zwischen dem 5. Dalai Lama (1617–1682) und seinem Konkurrenten Dragpa Gyaltsen (Grags-pa rgyal-mtshan), einem anderen bedeutenden Gelugpa-Gelehrten, und dessen Anhängern.
Dem 5. Dalai Lama, nie zimperlich im Umgang mit seinen Gegnern, gelang es, den Streit für sich zu entscheiden, wobei Dragpa Gyaltsen starb. Es wurde die Geschichte in Umlauf gesetzt, Dragpa Gyaltsen habe schon in einer früheren Geburt den Eid abgelegt, später einmal zu einem Schutzgott der Gelugpa-Schule zu werden. Zur Erfüllung dieses Gelübdes habe er sterben müssen. Einer Version zufolge beging er Selbstmord, indem er sich mit einer Khatak, einer Glücksschleife, erstickte, einer anderen Fassung nach nahm er diese Khatak nicht ganz so freiwillig in den Mund. Nach Dragpa Gyaltsens Tod häuften sich Unglücksfälle, die ganz Zentraltibet, besonders aber auch die Regierung und sogar den Dalai Lama betrafen. Bald erkannte man, dass hier der Verstorbene in Gestalt eines Rache suchenden Dämonen weiterwirkte. Nach vielen vergeblichen Versuchen gelang es schließlich, diesen Geist zu befrieden: Wie im tibetischen Buddhismus üblich, wurde er durch einen Eid verpflichtet, fortan als eine Schutzgottheit zu wirken.
Unabhängig von der historischen Richtigkeit der Einzelheiten zeigen sich bereits in der Entstehungsgeschichte zwei wesentliche Elemente, die den Shugden-Kult bis heute begleiten, nämlich eine potentielle Aggressivität und ein latenter Gegensatz zur Regierung und zur Person des Dalai Lama. Diese Elemente haben schon in der Vergangenheit immer wieder zu Konflikten zwischen Shugden-Anhängern und Shugden-Gegnern innerhalb der Gelugpa-Schule geführt.
Ähnliche Konflikte hat es auch zwischen Gelugpas und Angehörigen der anderen Schulen, besonders der Nyingmapas, gegeben. In Tibet flackerte ein solcher Konflikt zuletzt Anfang des letzten Jahrhunderts auf, als Phabongkhapa (1878–1941), ein bedeutender Gelugpa-Lama, einige Zeit in Kham (Osttibet) verbrachte, dort Nyingmapa-Kreise verfolgte und offenbar an der Zerstörung wenigstens eines Klosters beteiligt war. Dieser Lama, dessen Verdienste auf anderen Gebieten unbestreitbar sind, war sowohl politisch wie religiös ein militanter Vertreter der Sache der Gelugpas und gleichzeitig ein überzeugter Anhänger von Dorje Shugden. Die meisten heutigen Anhänger dieser Gottheit führen ihre Meditationspraxis unmittelbar auf ihn oder seinen Hauptschüler zurück. Spätestens mit Phabongkhapa geriet der Shugden-Kult in Gefahr, sektiererische Züge anzunehmen, die eine Priorität der Gelugpa-Lehren vor allen anderen buddhistischen Traditionen in Tibet zum Ziel haben.
Ein weiterer, ebenfalls schon in der Entstehungsgeschichte begründeter Antagonismus besteht zwischen Shugden und Pehar, einer weiteren Schutzgottheit. Pehar manifestiert sich in dem traditionellen tibetischen Staatsorakel des Nechung-Klosters. Er wird zwar als ein Schutzgott aller Schulen des tibetischen Buddhismus verstanden, aber das Orakel selbst zählt zur Schule der Nyingmapas. Die Regierung allerdings wurde seit rund dreihundert Jahren von Kreisen gebildet, die der Gelugpa-Schule unmittelbar angehörten oder ihr nahestanden. Diese Gelugpa-Dominanz der politischen Macht hat sich auch im Exil nicht grundlegend geändert. Da Shugden über eigene Orakel verfügt, wollen seine Anhänger heute das Nechung-Orakel abgelöst und ersetzt sehen. Daraus ergibt sich ein weiterer Problemkreis in dem aktuellen Konflikt.
Das Dilemma des Dalai Lama
Keineswegs alle Gelugpa-Mönche sind Anhänger von Dorje Shugden, und keineswegs alle Shugden-Anhänger sind militant. Die Verbindung mit dieser Schutzgottheit birgt aber ein beständiges Konfliktpotential für Auseinandersetzungen sowohl innerhalb der Gelugpas als auch zwischen den Gelugpas und den anderen Schulen des tibetischen Buddhismus. Dabei ist die Tatsache, dass Shugden eben gerade keine Schutzgottheit für den gesamten tibetischen Buddhismus darstellt, sondern von Anhängern der anderen Schulen zum Teil sogar vehement abgelehnt wird, von größter Wichtigkeit für ein Verständnis des Dilemmas, in dem sich der Dalai Lama heute befindet.
Der Dalai Lama selbst zählt nämlich ebenfalls zu den Gelugpa. Wenn er nun bemüht ist, jenen Kult zurückzudrängen oder sogar zu einem Ende zu bringen, dann lassen sich seine Absichten auch so interpretieren, dass er den Ausgleich zwischen den verschiedenen Schulen als ein oberstes Gut ansieht, statt im Stile eines Parteipolitikers ausschließlich seine eigene Schule zu begünstigen, und dass er sogar bereit ist, für dieses Ziel den hohen Preis eines massiven Konfliktes innerhalb seiner eigenen Schule zu bezahlen. Gerade damit aber würde er seinen erklärten Anspruch einlösen, der Dalai Lama wirklich aller Tibeter zu sein.
Er hat immer wieder betont, wie sehr er sich der Rime-Bewegung verpflichtet fühlt, also jener Tradition, die in ihren Werken die schulübergreifenden Gemeinsamkeiten der verschiedenen Richtungen des tibetischen Buddhismus hervorhebt. Solche Gesichtspunkte klammern die Shugden-Anhänger völlig aus. Das zeigt einen weiteren interessanten Punkt: Anhänger wie Gegner bedienen sich der modernen Medien. Sie sind im Internet präsent, und jeder der beiden Seiten ist daran gelegen, ihre jeweilige Sicht der Dinge als die einzig richtige hinzustellen. Dazu bedienen sie sich gerne des Gestus der Aufklärung, arbeiten aber gleichzeitig mit verkürzenden Darstellungen und lassen wichtige Aspekte einfach beiseite.
Problematisch sind freilich die Maßnahmen, mit denen Regierung und Dalai Lama immer noch versuchen, Shugden-Anhänger zur Abkehr von ihrer Schutzgottheit zu bewegen. Wenn etwa in den großen Gelugpa-Klöstern in Indien Unterschriftenlisten herumgehen, auf denen die Abkehr von Shugden bestätigt werden soll, so ist dies nach westlichem Verständnis eine Art von Gesinnungsschnüffelei, die man keineswegs billigen kann. Ebenso problematisch wirkt das Teilnahmeverbot für Shugden-Anhänger an bestimmten religiös wichtigen Veranstaltungen des Dalai Lama. Beides erzwingt öffentlich sichtbare Entscheidungen und führt bei einer Verweigerung zur Ausgrenzung und sogar zur Ächtung. Dabei ist zu bedenken, dass die regelmäßige Praxis einer tantrischen Meditationsgottheit nicht beliebig aufgegeben werden kann, wenn der Praktizierende die damit verbundenen Verpflichtungen ernst nimmt.
Shugden-Anhänger haben die Praxis von ihren jeweiligen Lamas, ihren spirituellen Lehrern, erhalten. Nun nimmt der persönlichen Lehrer schon im Mahāyāna-Buddhismus, erst recht aber im Tantrayāna, einen ganz besonderen Rang ein: Er wird als identisch mit dem Buddha gesehen. Wenn man dies bedenkt, dann versteht man, dass jeder ernsthaft Praktizierende Skrupel haben kann, solche Anweisungen seines Lehrers einfach abzulegen, und sei es auch auf Geheiß des Dalai Lama. Diese Haltung ist ganz unabhängig davon, welcher Schule er angehört oder welchen Meditationsgottheiten er folgt. Wenn man ihn daher vor die Entscheidung stellt, entweder dem Wunsch des Dalai Lama zu folgen oder die von seinem eigenen Lehrer empfangene religiöse Praxis weiterzuführen, dann gerät er unausweichlich in einen Loyalitätskonflikt, der, wie man unter den Gelugpa-Mönchen sieht, zu ganz unterschiedlichen Lösungsversuchen führt. Dazu zählt eben auch die offene Abkehr vom Dalai Lama und die Aneignung des Argumentes von der unterdrückten Religionsfreiheit nach dem Muster »Wir sind nicht wegen der Unterdrückung unserer Religion durch die Chinesen ins Exil gegangen, um dort dann von den eigenen Leuten genauso unterdrückt zu werden.«
Der politische Kontext
Wie immer die Maßnahmen der offiziellen Kreise in Dharamsala zu bewerten sein mögen, ist die Behauptung der Shugden-Anhänger, dass die Religionsfreiheit unterdrückt werde, übertrieben, und aus dem Munde von Exiltibetern wirkt sie geradezu lächerlich, wenn man dazu diejenige Form von religiöser Unterdrückung vergleicht, die in Tibet tagtäglich geschieht. Kein Dalai Lama hat wirklich dogmatische Befugnisse, und die Möglichkeiten machtpolitischer Maßnahmen des jetzigen Dalai Lama sind aufgrund der Exilsituation so begrenzt, dass im Wesentlichen nur die beschriebenen Versuche bleiben, Gruppensolidarität mit seiner Autorität herzustellen und »Abweichler« auf diese Weise zum Vorschein zu bringen und zu isolieren.
Eine Lösung des Konfliktes ist nicht absehbar. Dies wird nicht nur die Sympathisanten des Dalai Lama mit Sorge erfüllen. Er droht die Gelugpa-Schule zu spalten, und angesichts der bestehenden Polarisierung und Radikalisierung der Standpunkte ist auch eine weitere Eskalation nicht auszuschließen. Kann er nicht gelöst werden, dann wird er auch das Verhältnis zwischen Teilen der Gelugpas und den anderen Schulen weiterhin belasten. Anders als in den siebziger Jahren, als der Konflikt unter den Exiltibetern in Indien schon einmal aufgeflammt, aber eine innertibetische Angelegenheit geblieben war, ist er nun in den Westen gelangt. Hier lässt er sich medienwirksam verwerten. Dies beeinträchtigt nicht nur das Ansehen des Dalai Lama, sondern schadet auch der tibetischen Sache insgesamt.
Wenn man daher hört, dass die chinesischen Besatzer in Tibet den Shugden-Kult offiziell billigen und massiv fördern, dann sollte dies allen Beteiligten sehr zu denken geben. Nichts könnte deutlicher machen, dass den heutigen Herren in Tibet die Sprengkraft des Konfliktes nicht verborgen geblieben ist und dass sie darin ein geeignetes Mittel erkannt haben, den Dalai Lama, ihren erklärten Hauptwidersacher in der Auseinandersetzung um eine echte Autonomie Tibets, im Westen ins Zwielicht zu rücken und seine Anhänger zu spalten.
Es wirft übrigens auch kein günstiges Licht auf die heutigen Demonstranten im Westen. Ihre persönlichen Motive mögen durchaus edel sein, aber es ist evident, dass sie letztlich solche chinesischen Interessen bestens bedienen. Es wurde bereits festgehalten, dass jeder religiöse Konflikt unweigerlich auch eine machtpolitische Komponente besitzt. Wenn man sich den massiven Druck in Erinnerung ruft, der von den chinesischen Machthabern auf westliche Regierungen und Regierungsvertreter ausgeübt wird, wann immer sie in Versuchung geraten, den Dalai Lama offiziell zu empfangen, drängt sich die klassische Frage nach dem Cui bono auf.
Vor diesem Hintergrund betrachtet, erscheinen die Plakate und Sprechchöre der Demonstranten nämlich in einem ganz neuen Licht. Slogans wie „Dalai Lama – Stop Lying!“ und „False Dalai Lama“ wirken merkwürdig propagandistisch – uns Älteren kommt da ganz zwanglos der Begriff Agitprop wieder in den Sinn –, und man hat Mühe, nicht geradezu reflexhaft die gewiss hässliche Frage nach der Finanzierung zu stellen.
Zum Abschluss noch eine Anmerkung zu der bereits erwähnten Panorama-Sendung. Ich bin dort als Wissenschaftler interviewt worden, allerdings nicht zu Dorje Shugden. Obwohl ich nach wie vor zu jeder meiner damaligen Äußerungen stehen kann, habe ich mich hinterher missbraucht gefühlt. Bis heute werde ich immer wieder auf die Sendung angesprochen, und regelmäßig zeigt sich dabei, dass die meisten Zuschauer nicht meine Worte, sondern meine Verbindung mit einer Sendung in Erinnerung behalten, in der man den Dalai Lama auf eine perfide Weise angegriffen hat. Daher möchte ich einmal mehr festhalten, dass ich diesen Angriff als Mensch und als Wissenschaftler nur mit Nachdruck ablehnen kann. ■