Von Großdeutschland nach Tibet – Der lange Marsch des Heinrich Harrer
von Helmut Clemens
Heinrich Harrer, der »Freund und Lehrer des Dalai Lama«, ist in die Schlagzeilen geraten. Wenige Monate vor der Premiere des Hollywood-Films Sieben Jahre in Tibet hoben Journalisten eines deutschen Nachrichtenmagazins seine lange verschüttete NS-Vergangenheit ins Licht der Öffentlichkeit. Regisseur Annaud (Der Name der Rose) mußte ein paar ergänzende Szenen einflechten, Harrer-Darsteller Brad Pitt ein paar zusätzliche Texte lernen. Die Rolle selbst mußte er nicht neu erarbeiten, der Charakter der Figur blieb von dem Outing unberührt. Das Original freilich nahm Schaden. Auch wenn manches nicht ernst zu nehmen ist, etwa wenn der Bergsteiger und Tibetfreund Reinhold Messner sich in einem ansonsten ganz gescheiten Artikel zu der dümmlichen Ansicht versteigt: »Tibet könnte heute ein freies Land sein, wenn der junge Dalai Lama 1949, 1950, 1951 einen weisen Lehrer und Berater gehabt hätte« (ALPIN Nr. 9/97). Das ist einfach grotesk. Darauf sind - vice versa - nicht einmal die Chinesen gekommen.
Heinrich Harrer leidet. Es fällt ihm sichtlich nicht leicht, darüber zu sprechen. Er fühlt sich als Opfer. Denn er hat, sagt er, niemals ein Hehl aus seiner NSDAP- und SS-Mitgliedschaft gemacht, hat sie halt nicht an die große Glocke gehängt, weshalb sollte er! Er dachte, mit der Entnazifizierung nach seiner Rückkehr 1952 sei das ein für allemal erledigt. Er lebt heute zurückgezogen in seinem Kärntner Heimatort Hüttenberg/Knappenberg, schreibt an seinen Memoiren, engagiert sich für die Sache der Tibeter und hat Ideen für den weiteren Ausbau seines Museums.
Hüttenberg schmückt sich mit seinem Professor. Seit das Heinrich-Harrer-Museum Millionen von Touristen anzieht, ist aus der verschlafenen Hinterwaldgemeinde fast ein Wallfahrtsort geworden. Bergsportler und Harrerfans, Fernwehsüchtige und Tibetromantiker, religiös an Tibet Interessierte oder politisch für Tibet Engagierte - sie alle kommen auf ihre Kosten. Die Gemeinde natürlich auch. Welche prominenten Gäste haben hier nicht schon Station gemacht. Sportasse und Minister, Professoren und Rinpoches und selbst der Dalai Lama. Schöne heile Welt!
Warum konnte es nicht so bleiben? Warum mußte man den 85jährigen öffentlich an den Pranger stellen? So jedenfalls empfindet er’s. Und weil die Konfrontation mit dem Vorgestern so unerwartet und unvermittelt kam, leugnete er zunächst. Aus Hilflosigkeit. Das stellt ihn in eine Reihe mit anderen Prominenten: Kurt Waldheim, Werner Höfer, Peter Grubbe. Und doch ist da ein Unterschied.
Von Harrer ist nicht bekannt, daß er an unehrenhaften Aktionen beteiligt gewesen wäre oder sich zum Schaden anderer geäußert hätte. Seine Eloge auf den ›Führer‹ im Buch über die Ersteigung der Eiger-Nordwand habe ein Ghostwriter geschrieben, sagt er. Ob er vielleicht im Gespräch mit diesem von der Begegnung mit Hitler geschwärmt hat, weiß man nicht. Denkbar wär’s. Denn das war nun mal die Sprache der Zeit unter jenen Österreichern, die den ›Anschluß‹ herbeigesehnt und für sein Zustandekommen gewirkt haben. Und zu ihnen hat Harrer gehört, das bestreitet er nicht.
Die Gegend war braun, braun die Universität Graz, wo er studiert hat, und braun war auch der Alpenverein, dem er angehörte. Der hat schon 1921 einen ,Arierparagraphen' eingeführt und seine jüdischen Mitglieder gefeuert, zwölf Jahre, ehe der gebürtige Österreicher Hitler im Reich den Antisemitismus zur Staatsideologie erheben und seine diskriminierenden Rassegesetze erlassen konnte. Der Deutsch-Österreichische Alpenverein und der Deutsche Turnerbund waren Kaderschmieden der bis 1938 illegalen österreichischen SA.
Seine Zugehörigkeit zu dieser Organisation bestreitet der alte Herr vehement, obwohl es so in seinem handgeschriebenen Lebenslauf steht. Was hier Dichtung ist und was Wahrheit, läßt sich nicht ermitteln. Hat er damals geflunkert oder sagt er jetzt nicht die Wahrheit? Im Grunde ist es uninteressant. Es geht nicht um das, was einer war, sondern um das, was er geworden ist. Jeder Mensch hat das Recht auf Irrtum und Jugendtorheiten. Da ist die Zugehörigkeit zur SA keine größere als die zu SS oder NSDAP.
Es war sicher nicht die Propagierung von Gewalttätigkeit, die einen jungen Mann wie Heinrich Harrer damals in deren Reihen gezogen hat. Es war wohl eher ihre übersteigerte Verehrung alles Sportlichen und die Förderung, die sie jungen Leistungssportlern zuteil werden ließen. Die Verfechter eines ›germanischen‹ Heldenkults brauchten für eine Jugend nach ihren Vorstellungen Idole: ›Sieger‹, ›Bezwinger‹, ›Kameraden‹. Sie bauten Leute wie Harrer auf, wie man heute sagt, machten ihnen Avancen als Sportlehrer an Ordensburgen und Napolas, trieben einen Personenkult mit ihnen, dem kaum einer widerstehen konnte.
Harrer ist ein gutmütiger, eher weicher Mensch, der gewiß leicht zu beeindrucken und zu beeinflussen war. Daß er es in seinen Kreisen schon vor 1938 und erst recht danach vorwiegend mit Nazis zu tun hatte, steht außer Frage. Gewiß hat er die Dinge, die nach dem ›Anschluß‹ passierten, damals nicht hinterfragt oder gar in Frage gestellt. Es gibt aber niemanden, der ihn je der Teilnahme an der Juden- und Antifaschistenhatz geziehen hätte. Daß er sie billigend in Kauf nahm und weggeschaut hat, unterscheidet ihn nicht von der Mehrheit seiner Landsleute, so traurig dies ist. Den Glauben an den großdeutschen Quatsch hat er mit unzähligen Deutschen und Österreichern geteilt, die Parteimitgliedschaft mit zehn Millionen.
Das ist der Teil der Entwicklungsgeschichte des Heinrich Harrer, der in keinem der Bücher vorkommt, die von ihm oder über ihn geschrieben wurden. Schade, denn es handelt sich um eine Zeit, die einen jungen Menschen nicht unwesentlich prägt und deren Darstellung seine Irrungen in ein verständliches Licht rückt. Er ist weder die Lichtgestalt, zu der ihn manche stilisiert haben, noch der Ewiggestrige, zu dem andere ihn gern machen würden nach dem Motto »Einmal Faschist, immer Faschist«. In Unkenntnis historischer Tatbestände lasten sie ihm sogar an, daß er bei der Eigerbesteigung eine Hakenkreuzfahne im Rucksack gehabt habe. Was viele heute garnicht mehr wissen: Die Hakenkreuzfahne war damals die international akzeptierte deutsche Nationalflagge. Fürwahr kein Ruhmesblatt in unserer Geschichte, aber leider wahr. Die jeweilige Nationalfahne wurde und wird aber von allen Bergsteigern der Welt bei einer Erstbesteigung gehißt, die amerikanische weht sogar auf dem Mond. Selbst Nazigegner hätten damals keine andere dabei haben können. Harrer leugnet nicht, daß er keiner war.
»Ich kann machen, was ich will«, sagt der solchermaßen Denunzierte beim Rundgang durch sein Museum, »es wird zu meinen Lasten ausgelegt. Schauen Sie« - er zeigt auf Fotos und Zeitungsausschnitte aus dem Jahre 1938 - »da war früher ein Bild von dem Empfang durch Hitler, ein historisches Dokument. Irgendwann hieß es dann: ›Der hat immer noch nichts gelernt, daß er das hier ausstellt.‹ Aber als ich es, um solche Mißverständnisse zu vermeiden, herausnahm, sagten die gleichen Leute: ›Seht her, die Naziconnection unterschlägt er.‹ Was soll ich tun?« Man kann ihm nur antworten: »In Ihren Memoiren jene Teile Ihrer Vergangenheit in der gleichen Offenheit beschreiben wie die Zeit danach, ohne Schönfärberei.«
Keine Biographie ist ohne Flecken, und keines Menschen Entwicklung beginnt beginnt erst mit 26. Wenn ein Prominenter so viel über sich selbst schreibt wie Heinrich Harrer, dann hat die Öffentlichkeit ein Interesse an seiner ganzen Geschichte, auch wenn es Teile darin gibt, auf die er erklärtermaßen nicht stolz sein kann. Erst das macht ihn zum Menschen, mit dem man sich identifizieren kann. Das ist vor allem die verklärende Literatur über ihn schuldig geblieben.
Die Abkehr von den alten Idolen kam nicht von heut auf morgen. Ziel seiner ersten Fluchtversuche war noch die Rückkehr nach Deutschland gewesen, obwohl dem Wehrpflichtigen dort die Teilnahme am Krieg geblüht hätte. Er muß sich also anfangs noch mit Großdeutschland und dessen Kriegszielen identifiziert haben. Die Befreiung aus dem alten Denktunnel war ein Prozeß, der im indischen Internierungslager begann und in Tibet zur Wende im Leben des Heinrich Harrer führte. »Wissen Sie, das hat ja nicht gleich gewirkt, das geschieht eigentlich unmerklich. Ich war ja vier Jahre in Gefangenschaft, da hast du Zeit und denkst über vieles nach. Und dann merkst du plötzlich: Das ist ja alles hirnrissig, zurück nach Deutschland und so. In der langen Zeit im Lager habe ich mich ja auch mit Tibet beschäftigt. Und nun wollte ich dorthin. Ich wollte nicht mehr vor etwas fliehen, sondern zu etwas hin, aber nicht zurück, sondern zu was ganz anderem.«
Das fand er dort in der Tat. Die Begegnung mit der Philosophie der Gewaltlosigkeit, der Achtung vor jedwedem Leben und der Würde eines jeden Menschen ließ ihn nicht unberührt; zu ihr bekennt er sich heute noch. Das war das Gegenteil dessen, was ihm früher den Verstand vernebelt hatte. Als Nazi war er 1939 mit auf die Nanga-Parbat-Expedition gegangen; als er 1952 zurückkam, war er keiner mehr. »Der Mensch entwickelt sich ja, nicht wahr. Er ändert sich. Das geschieht, ohne daß er es merkt. Es widerfährt ihm sozusagen. Auf einmal ist er ein anderer. Auf einmal sieht er das, was früher war, in einem anderen Licht.« Das nimmt man ihm ab. Niemand hat von dem Heinrich Harrer, als der er später bekannt wurde, je eine faschistische Äußerung gehört.
Man hätte ihm gewünscht, daß ihm die Art der Konfrontation mit seiner Vergangenheit, wie er sie erleben mußte, erspart geblieben wäre. Allein unschuldig ist er daran nicht. Er hätte nicht zulassen dürfen, daß er für Freunde und Verehrer zum Objekt eines Personenkults wurde. Es bekommt niemandem, wenn er schon bei Lebzeiten zum Denkmal gemacht wird. ■