Buddhismus in China und Tibet – Eine gesellschaftsverändernde Kraft?
Thierry Dodin
Häufig wird behauptet, bereits die traditionelle, vorkommunistische Gesellschaft Chinas sei besonders säkular, wenn nicht gar anti-religiös gewesen. Dass viele Chinesen behaupten – oft mit einer gewissen Genugtuung – ihre Gesellschaft sei weitgehend religionsfrei, scheint dies zu bestätigen. Anderseits berichten westliche Medien immer wieder, dass sich die postkommunistische Gesellschaft auf der Suche nach Sinn befände und dabei auch die Religion eine wichtige Rolle spiele.
All diese Einschätzungen mögen ihre Berechtigung haben. Dass z.B. viele Intellektuelle und Teile der staatstragenden Schichten im alten China häufig eine antireligiöse Einstellung hatten, bestätigen die Quellen. Dennoch, ein Blick über die Grenzen der Volksrepublik hinaus nach Taiwan und Singapur oder auf die chinesische Diaspora in vielen Staaten Südostasiens zeigt unmissverständlich, dass dort Religionsgemeinschaften sehr lebendig waren und sind. Anscheinend sind chinesische Gemeinschaften – wo immer es erlaubt ist – genauso religiös wie andere. Die gesellschaftliche Stellung der Religion mag dort eine besondere Ausprägung haben – z.B. gewährleistet eine typisch pragmatische Einstellung eine gewisse religiöse Pluralität – aber Religion ist wie überall nicht aus dem gesamtgesellschaftlichen Bild wegzudenken. Daran haben fast sieben Jahrzehnte kommunistischer Ideologie in China nichts ändern können. Insofern ist die derzeitige gesellschaftliche Entwicklung eher eine Rückkehr zu dem alten Status quo, statt Ergebnis eines Nachholbedarfs. Heute ist in der Volksrepublik China die Religion ein sozialer und politischer Faktor, an dem niemand ernsthaft zweifeln kann.
Die Partei hat die Bedeutung der Religion längst verstanden. Spätestens seit den 80er Jahren ist sie daher bemüht, diese für ihre Ziele einzuspannen, anstatt sie ernsthaft zu bekämpfen. Religion hat heute ihren Platz in der offiziellen Propaganda, wenn auch mit einem Schuss Nationalismus. Häufig wird der Buddhismus als eine chinesische Religion dargestellt und seine indischen Wurzeln dabei etwas heruntergespielt. Zum Beispiel werden die großen chinesischen Meister oder auch die berühmten Pilger, die einst in den Westen zogen, und deren kulturelle Leistungen hervorgehoben.
Dass auch das Christentum an Einfluss gewinnt, ist unbestritten. Das ist auch nicht überraschend, wenn man die Entwicklung mit Taiwan, Singapur oder Hongkong vergleicht, wo sich unter freiheitlichen Bedingungen viele Chinesen dem Christentum zugewandt haben. Mehr als andere Religionen wird das Christentum wegen seiner westlichen Wurzeln und Verbindungen vom Staat als potentieller Feind angesehen. Daher werden Christen in offiziell autorisierten Kirchen kanalisiert, und alles was sich nicht völlig staatlichen Diktaten unterwirft, als illegal abgestempelt und verfolgt.
Religiöse Kader?
Gerne wird kolportiert, dass auch hohe Repräsentanten des Staates, sogar Parteisekretäre oder ihre Ehefrauen und Familien, ‚heimlich‘ religiös – zumeist Buddhisten – seien. In dem einen oder anderen Fall mag es sich dabei um mehr als nur Gerüchte handeln. Allerdings, die unausgesprochene Behauptung solcher Berichte, nämlich, dass Religion im Umfeld einer hohen Parteifigur im Widerspruch zur kommunistischen Grundordnung des Landes steht, geht am heutigen politischen Klima vorbei. Ein hohes Parteimitglied, das sich zum noch immer fremden Christentum oder gar zu Falun Gong oder Ähnlichem bekennen würde, wäre in der Tat immer noch undenkbar. Buddhismus, Taoismus und Konfuzianismus sind aber für den atheistischen Staat weitgehend akzeptabel, solange die Aktivitäten innerhalb der hierfür vorgesehenen Vereinigungen stattfinden. Von religiösen Menschen, die in den Machtstrukturen des chinesischen Staats mitwirken, sollte allerdings keine systemkritische Haltung erwartet werden. Die Prozeduren zur Vorbereitung und Auswahl der mittleren und höheren Führung setzt eine jahrzehntelange Beobachtung der Kandidaten voraus. Da ist kaum Raum für Überraschungen, und wenn im Umfeld eines Parteibosses religiöse Menschen auftauchen, dann ist das wohl bekannt und auch akzeptiert.
„Heute kann sich jeder Bürger zu einer Religion bekennen und religiöse Aktivitäten entfalten, solange dies innerhalb von ‚Recht und Gesetz‘ geschieht.“
Die Sache ist natürlich komplexer, jedoch nicht grundsätzlich anders, was die allgemeine chinesische Bevölkerung betrifft. Heute kann sich jeder Bürger zu einer Religion bekennen und religiöse Aktivitäten entfalten, solange dies innerhalb von ‚Recht und Gesetz‘ geschieht und auch innerhalb der Institutionen, die offiziell genehmigt wurden, um Religion auszuüben. In Tibet hingegen – und viel mehr noch in Ostturkestan/Xinjiang – wo de facto Kolonialismus herrscht, liegt die Sache ganz anders. Hier können religiöse Institutionen nie ganz in der Hand der Partei sein, und obendrein sind sie hochrelevant für die Identität der lokalen Bevölkerung. Darum ist der Staat hier auch so misstrauisch und versucht mit mehr oder weniger subtilen Mitteln und Maßnahmen, Religion, religiöse Menschen und religiöse Institutionen gänzlich zu kontrollieren.
In Bezug auf das chinesische Kernland muss auch erwähnt werden, dass religiöse Menschen, besonderes solche, die sich dem Buddhismus und dem Taoismus zuwenden, dazu neigen, sehr unpolitisch zu sein. Was die meisten Menschen zur Religion, insbesondere zum Buddhismus, hinführt, sind innere religiöse Gefühle, nicht sozial-gesellschaftliche Erwägungen.
Religion und Politik
Von Mönchen und Priestern wird erwartet, dass sie Religion im Stillen und in dafür eingerichteten Institutionen und Einrichtungen ausüben. Daran halten die allermeisten auch fest. Die Laienbevölkerung besucht Tempel, Klöster und geht auf Pilgerfahrt zu heiligen Orten und auch zu den vielen riesigen Buddhastatuen, die in den letzten Jahren errichtet wurden, zum Teil nicht nur mit Zustimmung, sondern auch mit aktiver Unterstützung des Staates. Der Grund hierfür ist, dass Pilgerströme erhebliche Ressourcen bringen. Wann immer buddhistische Pilger einem Kloster oder jenen Statuen Spenden zukommen lassen, bekommen die offiziellen Religionsbüros und – allen voran – die lokalen Parteikader ihren Anteil. Unter solchen Umständen werden religiöse Tätigkeiten sogar sehr gerne gesehen, und offensichtlich stellen sie keine Staatsgefährdung dar.
„Unsere lieb gewonnene westliche Vorstellung, wonach Religionsausübung in einem noch immer offiziell kommunistischen Staat zwangsläufig konfrontativ enden muss, ist zu einfach.“
Das bedeutet natürlich nicht, dass kein chinesischer Buddhist politische Ideen hätte. Nur unsere lieb gewonnene westliche Vorstellung, wonach Religionsausübung in einem noch immer offiziell kommunistischen Staat zwangsläufig konfrontativ enden muss, ist zu einfach. Es gibt durchaus sehr politische Buddhisten in China, die das Regime zutiefst ablehnen. Ihre persönliche politische Einstellung hat allerdings nicht zwangsläufig mit ihrer religiösen Einstellung zu tun. Eigentlich ist es sogar häufig so, dass Buddhisten, die dem chinesischen Staat skeptisch gegenüberstehen, ihr Unvermögen erkennen, auf politischer Ebene irgendetwas zu verändern. Nicht zuletzt deshalb stecken sie ihre ganzen Energien in rein religiöse Aktivitäten. Dies sollte nicht unbedingt als Resignation verstanden werden, sondern als eine wohl erwogene Wahl. Hat man die Grenzen seiner Wirkungsmöglichkeiten erkannt, so ist es nur logisch, sich auf die Bereiche zu beschränken, wo Erfolg realistisch erscheint. So setzen sich viele für Vegetarismus, Kulturerhaltung oder die Linderung gesellschaftlicher Symptome ein, die mit ungebändigtem Wachstum auftauchen. Gewisse soziologische Faktoren tragen auch dazu bei, viele Buddhisten unpolitisch zu halten, zum Beispiel, dass viele von ihnen eher weiblich als männlich und eher älter als jünger sind. Damit gehören sie eher Gesellschaftsgruppen an, die sich, besonders im chinesischen Kontext, weniger mit Politik befassen.
Hinwendung zum tibetischen Buddhismus
Was bedeutet das nun für die Tibet-Frage? Für die meisten chinesischen Buddhisten, wie für die meisten Chinesen, liegt Tibet fernab ihres normalen Erfahrungshorizonts. Es sind also eher diejenigen, die aus verschiedenen Gründen persönlich in Kontakt mit Tibet, mit der Tibetfrage oder mit Tibetern kommen, die aus ihrer religiösen Einstellung heraus politisch relevant sein könnten. Besonderes Augenmerk verdienen dabei jene Chinesen, die sich dem tibetischen Buddhismus zugewandt haben.
Die Ergebnisse einer kleinen Untersuchung, die ich 2007 durchführen ließ, ergaben, dass viele Chinesen, die Anhänger des tibetischen Buddhismus wurden, sich entweder zuvor von dem als zu spröde und konservativ empfundenen chinesischen Buddhismus abgewandt hatten, oder aber aus verschiedenen Gründen zu dem Schluss gekommen waren, der tibetische Buddhismus offeriere einen besonders ‚machtvollen Weg‘ zum spirituellen Heil – bis hin zum Glauben an materiellen Gewinn durch Rituale. Oder ihnen haben sich erst durch die Begegnung mit einem tibetischen Lama die Augen geöffnet. Letzteres ergibt sich nicht zuletzt aus der spektakulären Entwicklung der Infrastruktur der letzten zwei Jahrzehnte, welche die Mobilität innerhalb Chinas wesentlich gesteigert hat. Neben diesen Gründen ergaben Antworten auf unsere Fragebögen, dass viele sich dem tibetischen Buddhismus zugewandt hatten, weil sie ihn als besonders ‚rein‘ empfanden. Dieses Reinheitsimage hat teils mit der geographischen Lage Tibets nahe an Südasien zu tun. Es hat aber auch mit der Vorstellung zu tun, dass der chinesische Buddhismus sich zu sehr der chinesischen Umwelt angepasst habe, und sich dabei verwässerte und in Institutionen versteinerte, wobei er die Vitalität verlor, die man hingegen im tibetischen Buddhismus zu erkennen glaubt. Diese Vorstellung hat viel mit gängigen kritischen Selbstwahrnehmungen der Chinesen zu tun. Es ist aber vielleicht auch hier wichtig festzuhalten, dass solche nicht nur in der Volksrepublik China heimisch sind, sondern ebenso in Hongkong, Taiwan oder unter anderen chinesischen Gemeinschaften weltweit. Insofern beruht die Hinwendung zum tibetischen Buddhismus offenbar mehr auf kulturellen Gegebenheiten als auf sozial-gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen. Das ist besonders wichtig festzuhalten, wenn man die soziopolitischen Auswirkungen der Konversionen einschätzen will.
Stark unterschätzt wird, wie sehr heute die Hinwendung von Chinesen zum tibetischen Buddhismus zu dessen Vitalität in China und Tibet beiträgt. In vielen Städten Chinas gibt es inzwischen Zentren, die regelmäßig von tibetischen Lamas besucht werden; ein ähnliches Phänomen wie im Westen. Es gab Fälle, wo Lokalregierungen solche Entwicklungen argwöhnisch betrachteten und versuchten, sie zu unterbinden. Heutzutage sind solche Vorfälle eher die Ausnahme als die Regel. Allerdings sind chinesische Zentren weitaus informeller und weniger sichtbar als sie es bei uns sind. Dies könnte auf eine vorsichtige Haltung hindeuten. Dass andererseits die Adressen solcher Zentren vielfach im Internet zu finden sind, weist eher auf ein anderes Erklärungsmuster hin, nämlich, dass chinesische Anhänger des tibetischen Buddhismus – auch hier hilft die mittlerweile exzellente Verkehrsinfrastruktur – einen vergleichsweise leichten Zugang zu tibetischen Gebieten haben, insbesondere in Qinghai und Sichuan, woher die meisten Lamas stammen. Damit können sie also buchstäblich an die Quellen herantreten, was die Notwendigkeit der Etablierung fester Zentren im Kernland weniger wichtig macht.
„Stark unterschätzt wird, wie sehr heute die Hinwendung von Chinesen zum tibetischen Buddhismus zu dessen Vitalität in China und Tibet beiträgt.“
Die meisten Lamas, die chinesische Anhänger haben, scheinen in der Tat bestrebt, diese an ihre Stammklöster zu binden, beziehungsweise dort Aktivitäten für sie zu entwickeln. Viele ihrer Klöster haben heute Kurs- und Meditationsräume, manchmal in neuen Baueinheiten außerhalb der Klöster. Die Lamas gründen Vereine und Vereinigungen, die sich Wohl und Pflege des Klosters und der Überlieferungslinie zur Aufgabe machen. Chinesische Anhänger sind mittlerweile zuständig für die Finanzierung vieler buddhistischer Aktivitäten. Dies ist umso mehr der Fall, als die meisten von ihnen eher der oberen Mittelklasse angehören und damit über ein komfortables Einkommen verfügen. Der gegenwärtige tibetische Buddhismus innerhalb der Grenzen der Volksrepublik China ist ohne diese chinesischen Anhänger kaum noch denkbar.
Der unaufhaltsame Aufstieg von Larung Gar
Historisch ist Larung Gar in Serta, Kham/Sichuan, die erste tibetisch-buddhistische Institution, die chinesische Anhänger in großer Zahl anzog. Sie wurde seinerzeit von Jigme Phuntsok mit Unterstützung des damals noch lebenden Panchen Lama gegründet, nicht in der Form eines traditionellen Klosters sondern als Lehrinstitut. Bekanntlich wurde der Weiterbestand des Instituts nach dem Ableben des Panchen Lama nicht ganz unproblematisch. Der Höhepunkt der Spannungen fand zu Beginn des letzten Jahrzehnts statt, als Jigme Phuntsok einen medizinischen Aufenthalt in Chengdu erheblich, und nicht ganz freiwillig, verlängern musste. Später kehrte er aber doch unbeanstandet – wenn auch anscheinend ohne offizielle Erlaubnis – zum Institut zurück. Er starb bald darauf. Es heißt, die Präsenz zahlreicher chinesischer Anhänger im Institut hätte die Autoritäten auf den Plan gerufen. Dabei ist nie ganz klar geworden, ob es tatsächlich so war. Sicher war die starke Präsenz von chinesischen Buddhisten in dieser gottverlassenen Gegend seinerzeit eher ungewöhnlich, und alles, was außerhalb der Normalität steht, wird gerade von den lokalen Kadern als Bedrohung empfunden. Glücklich darüber waren sie damals also wahrscheinlich nicht. Sicher ist aber auch, dass der Hauptstein des Anstoßes die vielen tibetischen Mönche waren, die sich dauerhaft im Institut aufhielten, anstatt in den Kreisen, Bezirken und Präfekturen zu bleiben, wo laut Gesetz ihr Aufenthaltsort war. Die Anwesenheit vieler Nonnen missbilligten die Kader besonders. Sicher ist schließlich, dass einige chinesische Anhänger seinerzeit in das Landesinnere zurückgingen, aber nur, um wenig später zurückzukommen und das sogar in weitaus größerer Zahl.
Mittlerweile gilt das Institut als das größte Kloster der Welt, obwohl es formal gar kein Kloster ist, und es wird immer wieder mit zahlreichen Bildern in den Weltmedien präsentiert, teils sogar von den offiziellen chinesischen Medien. Damit soll offenbar die Toleranz des Staates gegenüber der Religion demonstriert werden. Das Institut zählt eine sehr große Anzahl von chinesischen Studenten, wovon eine erhebliche Zahl permanent in Larung Gar lebt.
Die Nachfolger von Jigme Phuntsok, insbesondere Khenpo So Dargye, erfreuen sich mittlerweile eines hohen Bekanntheitsgrads. So Dargye hat einige Organisationen gegründet und reist oft in die Nachbarländer Chinas. Zweigstellen seiner Organisation bestehen überall in der chinesischsprachigen Welt und auch, wenn seine primäre Anhängerschaft kulturell chinesisch bleibt, richtet er seine Lehrreden zunehmend an internationale Kreise. Er war noch vor kurzem in Europa. Es gibt Anzeichen, dass seine Aktivitäten der chinesischen Regierung eher genehm sind, zum Beispiel, dass manche Freundschaftsvereine und andere Institutionen Werbematerial über seine Reisen vertreiben. Dies, mag man annehmen, geschieht deshalb, weil China einen tibetisch-buddhistischen Lehrer nur begrüßen kann, der nicht im Exil lebt. Es gibt soweit keine Anzeichen, dass der Lama für diese Freiheit bezahlen muss. Er scheint dem offiziellen Staatsbuddhismus, seinen Organisationen und seinen Veranstaltungen gegenüber auf Distanz bleiben zu dürfen. Damit gehört er wahrscheinlich zu den wenigen, denen Spielraum zugestanden wird.
„Mittlerweile gilt das Institut als das größte Kloster der Welt, obwohl es formal gar kein Kloster ist, und es wird immer wieder in den Weltmedien präsentiert.“
Es gibt aber auch einige im Exil ansässige Lamas, die noch enge Kontakte zu ihrem Ursprungskloster in Tibet unterhalten, bzw. nach 1980 wieder geknüpft haben. Manche von ihnen, besonders zu erwähnen ist zum Beispiel Khyentse Norbu Rinpoche – auch als Regisseur des Film ‚The Cup‘ bekannt – haben mittlerweile zahlreiche Anhänger in China, die zu ihren Zentren in Nepal, Bhutan und sogar – falls sie ein Visum bekommen – nach Indien reisen. Bislang müssen solche Exil-Lamas keinen politischen Preis bezahlen, außer dass sie sich strikt unpolitisch verhalten.
Es gibt schließlich auch Chinesen, die direkte Anhänger von hohen Lamas sind, die noch im Exil leben und aufgrund ihrer hohen Stellung keine Möglichkeit haben, nach Tibet oder China zu reisen. Ihre Anhänger verfolgen die Belehrungen ihres Lamas meistens über die Medien und informelle Kommunikationsnetzwerke. Wo immer sie können, machen sie auch von der Möglichkeit Gebrauch, in Nachbarländer wie Nepal, Malaysia, Singapur oder andere zu reisen, um an Belehrungen jener Lamas teilzunehmen. Manche Chinesen kommen sogar nach Dharamsala, um diskret an Belehrungen des Dalai Lama teilzunehmen. Sie werden von beiden vor Ort tätigen Informationsdiensten – dem chinesischen und dem indischen – mit einigem Argwohn betrachtet. Vor nicht allzu langer Zeit konnten sogar einige chinesische Prominente, wie der Schauspieler und Kampfsportler Jet Li, nach Dharamsala kommen, um den Dalai Lama persönlich zu treffen. Dies wurde allerdings nach den Ereignissen von 2008 schwierig.
Konsequenzen für Tibet
Dies wirft noch einmal die Frage auf, ob die wachsende chinesische Anhängerschaft des tibetischen Buddhismus politische Unterstützung für die tibetische Sache bedeutet. Auch hier muss man vorsichtig sein und differenzieren. Auch der typische chinesische Anhänger des tibetischen Buddhismus ist meistens recht unpolitisch. Zumal er in einer Umgebung aufwuchs, wo kaum Interesse an Politik bestand, dafür aber Gewissheit, dass Beschäftigung damit nicht unbedingt sinnvoll für das eigene Wohlergehen ist. Das bedeutet allerdings nicht, dass diese Gläubigen unkritisch gegenüber der chinesischen Regierung und dem Regime sind. Sie mögen persönlich sogar tiefsitzende Vorbehalte gegenüber der Regierung haben, das aber mündet nicht in politischen Aktivismus und politische Interessen. Viele, wahrscheinlich die meisten, befürworten die heutigen Verhältnisse in Tibet nicht. Allerdings wird das Problem eher systemisch aufgefasst; d.h. es wird nicht zwischen den politischen Problemen in China und Tibet unterschieden. Viele betrachten die Regierung als ebenso repressiv gegenüber ethnischen Chinesen. Die Probleme werden also nicht als nationale Probleme zwischen China und Tibet oder ethnische Probleme zwischen Chinesen und Tibetern wahrgenommen, sondern als politische Probleme der gesamten Volksrepublik China. Politische Probleme sind aber Dinge, womit sich die Menschen nicht unbedingt befassen wollen. Vielmehr ist die übliche Reaktion, von Politik und vom Staat und seinen Repräsentanten fernzubleiben, soweit das möglich ist. Das ist nicht unbedingt das Holz, aus dem man Revolutionäre schnitzt.
„Um religiöse Hinwendung von Chinesen zum tibetischen Buddhismus in politischen Wandel zu übersetzen, wird man warten müssen, bis sich das Regime wandelt.“
Das bedeutet aber nicht, dass die Politik des Dalai Lama, Kontakte zu chinesischen Buddhisten besonders zu pflegen, keinen Sinn macht. Auf lange Sicht sind derartige Sympathieträger natürlich eine große Hilfe für Tibet. Das wird sich erst an dem Tag zeigen, an dem die Volksmeinung in China eine Rolle spielen wird. Das Regime, wie es heute in China herrscht, ist an der Volksmeinung nicht interessiert und muss es auch nicht sein. Um religiöse Hinwendung von Chinesen zum tibetischen Buddhismus in politischen Wandel zu übersetzen, wird man wohl so lange warten müssen, bis sich das Regime aufgrund inneren oder äußeren Drucks wandelt. Erst dann könnte der Buddhismus helfen, die politische Sache Tibets voranzubringen.
Wenn die Aussicht, über den Buddhismus politischen Wandel in Tibet zu ermöglichen, ohnehin nur eine langfristige Option ist, unterlässt umgekehrt das Regime keinen Versuch, über den Buddhismus politische Vorteile zu erzielen. Chinas Propaganda projiziert gern ein Bild von Toleranz und Akzeptanz des Buddhismus. Er wird sogar ausdrücklich als einer der großen zivilisatorischen Kräfte im traditionellen China deklariert. Darüber hinaus sind viele Organisationen, die dem chinesischen Staat bzw. der Partei – oft mittels der Vereinigten Front – unterstehen, sehr bemüht, über den Buddhismus international Einfluss für China zu gewinnen. Bekannt geworden ist zum Beispiel ein Projekt am Geburtsort Buddhas in Lumbini, Nepal. Um dort eine ‚internationale Friedensstadt‘ zu bauen, sollte eine Chinanahe Stiftung angeblich drei Milliarden US$ investieren. Dieses und viele weniger bekannte Projekte versuchen seit Jahren, Buddhisten für die Sache des chinesischen Staates einzubinden. Die meisten haben allerdings nicht sehr viel Erfolg. Interessanterweise wurden sie oft – nach einem bekannten Muster – von asiatischen oder asienstämmigen Buddhisten, insbesondere ethnischen Chinesen aus Südostasien, unterstützt, welche wirtschaftliche Interessen in China haben. Zum Teil erschienen diese Buddhisten tatsächlich überzeugt – wie tief mag dahingestellt bleiben – dass Unterstützung solch chinesischer Projekte mehr Freiraum für die Entfaltung des Buddhismus in China bedeuten würde. Jedenfalls warben sie damit für jene Projekte.
Das World Buddhist Forum
Unter diesen Projekten verdient der Versuch besondere Erwähnung, eine internationale, aber von offiziellen, regierungstreuen, chinesischen buddhistischen Vereinigungen kontrollierte, buddhistische Plattform zu erschaffen, das World Buddhist Forum (WBF). Einer der wesentlichen Mitbegründer des WBF ist ein ehemaliger Staatsbeamter, der einst in Beijing bei der Planungskommission arbeitete. Er ist auch in Erscheinung getreten als Förderer einer konfuzianischen Vereinigung für chinesischstämmige US-Bürger, als Herausgeber von Schriften Mao Zedongs und nicht zuletzt als Mittelsmann für Investitionen internationaler Firmen in China. Das letzte Treffen des WBF hat vor kurzem in Wuxi, China, stattgefunden. Bezeichnenderweise war der von Beijing gewählte Panchen Lama eine zentrale Figur der bisherigen WBF-Treffen, und dies in so exponierter Stellung, dass man sich wundern muss, ob sein Erscheinen nicht gar der Hauptzweck des Treffens war. Auch immer dabei waren die Hauptvertreter der Shugden-Gruppe, die bekanntlich der Dalai Lama ablehnt und deren westliche Anhänger Demonstrationen überall dort veranstalten, wo der Dalai Lama offizielle Reisen durchführt. Das kafkaeske World Buddhist Forum hat es in seiner mittlerweile zehnjährigen Geschichte kaum geschafft, seinen Mitgliederkreis über diverse buddhistische Vereinigungen über die chinesischsprachige Welt hinaus auszuweiten. Dies bezeugt zwar, dass der internationale Durchbruch des Beijingtreuen Buddhismus noch lange auf sich warten lassen wird. Der dort propagierte und inszenierte nationale Buddhismus kann jedoch auf einige Unterstützung aus der weiteren chinesischen Welt rechnen. ■
© Dieser Artikel erschien in Brennpunkt Tibet, 4/2015.
Mit freundlicher Erlaubnis von Klemens Ludwig und Thierry Dodin.
Thierry Dodin wurde 1960 in Paris geboren und entdeckte mit 12 Jahren sein Interesse an Tibet. Später studierte er Tibetologie, Ethnologie und Religionswissenschaft in Göttingen, Köln und Bonn. Seine Schwerpunktthemen sind Kulturgeschichte, moderne Geschichte sowie soziale, politische und ökologische Fragen in Tibet und den Himalaya-Ländern. Zuletzt leitete er ein Forschungsprojekt über die Globalisierung des tibetischen Buddhismus. Er wirkte auch an verschiedenen Entwicklungsvorhaben in Tibet mit. 1998 wurde er in den Aufsichtsrat des Tibet Information Network (TIN) in London berufen und drei Jahre später dessen Direktor. Als TIN 2005 schließen musste, gründete er zusammen mit den ehemaligen TIN-Mitarbeitern den Informationsdienst TibetInfoNet, den er heute noch leitet.