Zur Wiederverkörperung hochgestellter geistlicher Persönlichkeiten im tibetischen Buddhismus

Karl-Heinz Golzio
Universität Bonn
Indologisches Seminar

Die Dalai Lamas gelten historisch gesehen als eine der vielen Ketten von wiederverkörperten hohen geistlichen Lehrern (Lama / bla-ma) bzw. „Erleuchtungswesen“, die sich auf Erden immer wieder in einem Erscheinungsleib (Sanskrit: nirmāṇa, tibetisch: Tulku / sPrul-sku) manifestierten. Diese Form der Wiederverkörperung ist scharf von der allgemein buddhistischen Lehre zu unterscheiden, nach der sich irdische Existenzen aufgrund von karmischen Daseinsfaktoren früherer Lebensformen neu konstituieren, aber nicht mit diesen identisch sind. Dies ist das Rad der sich immer wieder reproduzierenden neuen Existenzen, die kein Ich oder Selbst bzw. einen beständigen Wesenskern besitzen, weshalb man auch von der Lehre des „Nicht-Selbst“ (Pāli: anattā) spricht. Die neue Existenz ist also nicht die Wiederverkörperung einer früheren Persönlichkeit (die es ja nach dieser Lehre gar nicht gibt, weil alles unbeständig [anicca / Sanskrit: anitya] ist). Dennoch wird die Kette des Wiederentstehens neuer Existenzformen als leidvoll angesehen, die man durchbrechen soll, indem man wie der historische Buddha durch einen mühevollen Prozeß die Erleuchtung (bodhi) und damit das Nirvāṇa (Pāli: nibbāna), das „Erlöschen“ aller Daseinsfaktoren erlangt. Im alten Buddhismus wird ausdrücklich hervorgehoben, daß dieser Weg sehr beschwerlich ist und die meisten Wesen dafür viele Existenzen durchlaufen müssen, um das Heilsziel zu erreichen. Dabei kann es keine Hilfe durch heiligmäßig lebende Personen oder den Buddha (der nach seinem Ableben nicht mehr erreichbar ist) geben, es sei denn durch Orientierung an ihrem Vorbild oder den Lehren.

Im Mahāyāna-Buddhismus wurde aus dem historischen Buddha ein transzendentes Wesen, das jenseits von Raum und Zeit schon immer existierte, sich aber in gewissen Abständen auf Erden manifestierte. Man begnügte sich auch nicht mehr mit der Gestalt des historischen Buddha und seinen auch schon im alten Buddhismus bekannten Vorläufern sowie dem zukünftigen Buddha Metteyya / Maitreya, sondern kannte jetzt außerdem eine große Anzahl von anderen Buddhas und Bodhisattvas (Erleuchtungswesen), die in eigenen Paradiesen residieren bzw. unter den irdischen Lebewesen wirken. Einige dieser Gestalten wie z. B. der Bodhisattva Avalokiteśvara sind schon früh bekannt, etwa aus der Gandhāra-Region (heutiges Nord-Pakistan und Ost-Afghanistan), ohne daß zu diesem Zeitpunkt das Mahāyāna schon voll ausgeprägt war. In dieser Strömung entwickelte sich die Anschauung, daß die Bodhisattvas den Gläubigen, die nicht selbst zur Erleuchtung fähig sind, als eine Art Mittler oder Heiland dienen. Zu diesem Zweck verzögerten sie aus Mitgefühl ihr endgültiges Eingehen in das Nirvāṇa (was dem parinirvāṇa entspricht, das mit dem physischen Tod des Buddha eintrat) und wirkten stattdessen weiterhin auf Erden für die Beschleunigung des spirituellen Heils der Wesen. Zwar hat jedes Wesen nach dieser Lehre grundsätzlich die Anlage zu einem Bodhisattva, aber im engeren Sinne handelt es sich bei ihnen um konkret benennbare Wesenheiten. Diese sind im Gegensatz zu anderen Existenzformen aufgrund ihres erleuchteten und transzendenten Wesens in gewisser Weise, die noch erläutert wird, im Kern unwandelbar und unzerstörbar, nicht aber ihre äußere Hülle, in der sie sich manifestieren. Daraus entwickelte sich die sogenannte Dreikörper (Trikāya)-Lehre: diese drei Körper sind 1) der Dharmakāya, der „Leib der Lehre“, die eigentliche unwandelbare, formlose und aus sich selbst existierende Wesenheit, die die reine Erleuchtung (bodhi) schlechthin repräsentiert; nach dem Mahāyānasūtrālaṃkāra (IX, 60) des Asaṅga (5. Jahrhundert?) wird dieser Körper als svābhāvika („mit eigener Existenz ausgestattet“) bezeichnet¹. Er ist bedingungslos und losgelöst und entspricht dem „keinen Ort habenden Nirvāṇa (apratiṣṭhitanirvāṇa); dennoch ist er nicht völlig losgelöst von der Welt, denn er wirkt 2) durch den Sambhogakāya oder „Genußleib“ die Form, die Buddhas als Bodhisattvas annehmen; so ist z. B. Avalokiteśvara der Sambhogakāya des Buddha Amitābha, der in seinem überirdischen Paradies Sukhāvatī verweilt; und schließlich 3) durch den Nirmāṇakāya oder „Erscheinungsleib“, die konkrete Materialisierung eines Erleuchtungswesen auf Erden. Im Sinne dieser Lehre war der historische Buddha, den man dann als Śākyamuni bezeichnete, der Nirmāṇakāya eines überweltlichen Buddha. Wenn also gesagt wird, daß irdische Manifestationen wie z. B. der Dalai Lama einen unwandelbaren Wesenskern besitzen, dann in dem Sinne, daß ihre Basis letztlich der Dharmakāya ist, der diese Eigenschaften besitzt. Diese Eigenschaft der Permanenz (nityatā) wird dem Buddha auch in dem wohl im 8. Jahrhundert entstandenen Abhisamayālaṃkāra (VIII, 11) zugeschrieben:

iti kāritra-vaipulyād buddho vyāpi nirucyate
akṣayatvāc ca tasyaiva nitya ity api kathyate

„Aufgrund der Ausgedehntheit seiner Handlungen wird der Buddha als alldurchdringend bezeichnet und aufgrund seiner Unerschöpflichkeit nennt man ihn beständig“.

Diese Aussage zur Trikāya-Lehre wurde von dem buddhistischen Mādhyamaka-Philosophen Haribhadra (8. Jh. n. Chr.) in seinem Kommentar zum Abhisamayālaṃkāra (Abhisamayālaṃkārāloka) dahingehend modifiziert, daß er den svābhāvikakāya als einen zusätzlichen, die Einheit der Buddhaschaft ausdrückenden Aspekt ansah, der den üblichen „drei Körpern“ zugrunde liegt. Er sagte, der dharmakāya bestehe aus einer Gruppe von Faktoren, die Erleuchtung … [usw.] fördere, aber tatsächlich steht dort im Sanskrit „und so wird der Dharmakāya (gewöhnlich) bezeichnet (… ceti dharmakāyo ʼbhidhīyate), was durchaus einen feinen Unterschied ausmacht. Diese Einführung eines vierten Körpers stand im Gegensatz zur Mehrheitsanschauung, daß der Begriff svābhāvikakāya nur ein Synonym für die absolute Realität des dharmakāya ist². Wie auch immer, Haribhadras Standpunkt wurde von Tsoṅ-kha-pa (1357-1419), dem Begründer des dGe-lug-Schule, übernommen. Hier wurde svābhāvikakāya als die Essenz („Leerheit“, dharmatā) der Erkenntnis, aber davon unterschieden. Doch selbst wenn man hier noch weiter abstrahiert zwischen dem Bedingten und dem Unbedingten, so bleibt trotz aller begrifflichen Unterscheidungen übrig, daß der svābhāvikakāya letztlich das Unbedingte ist, mag man von einem Mādhyamaka-Standpunkt auch die Bedingtheit in den Vordergrund stellen.

Es erhebt sich natürlich die Frage, ob von allen Gläubigen die wesentliche Unterscheidung zwischen diesem unzerstörbaren Kern und seiner Manifestierung in einem menschlichen Körper verinnerlicht wurde und wird. Nach der Mādhyamaka-Philosophie des Nāgārjuna (vermutlich 3. Jahrhundert n. Chr.), die zu einem Bestandteil der Schulen des Mahāyāna wurde³, sind alle Phänomene „leer“ (śūnya), d. h. sie besitzen keine unabhängige Existenz, was aber in etwas anderen Worten bereits der historische Buddha gelehrt hatte. In der philosophischen Systematisierung des Nāgārjuna wird zwar der Begriff svabhāva, „Eigenexistenz“, „aus sich selbst existierend“ benutzt, aber als nichtexistent betrachtet. Dennoch wurde daraus dann in der späteren Entwicklung des Mahāyāna im Zusammenhang mit der Trikāya-Lehre und deren Modifizierung durch Haribhadra der Begriff svabhāvikakāya geprägt. Diese Formulierungen gehen – was mit aller Deutlichkeit gesagt werden muß – nicht auf den Begründer dieser als Mādhyamaka („Mittlerer Weg“) bezeichneten Philosophie zurück, unter dessen Namen in späterer Zeit viele Werke firmieren, die nur noch wenig mit dieser Anschauung zu tun haben. Jedoch ist festzuhalten, daß im alten Buddhismus dem historischen Buddha folgende Aussage zugeschrieben wird (Majjhimanikāya XXVI [167]): „Mit Sicherheit bin ich erlöst. Das ist meine letzte Geburt, niemals gibt es eine Wiederverkörperung“ (akuppā me vimutti ayam antimā jāti naʼtthi dāni punabbhavo). Damit ist eigentlich ausgeschlossen, daß sich sein Wesenskern (etwa als Dharmakāya) in einem anderen Körper erneut manifestieren wird.

Solche Manifestationen wurden aber im Mahāyāna für möglich gehalten. So kam es besonders in Ostasien von Zeit zu Zeit vor, daß sich bestimmte Persönlichkeiten selbst und Teile ihre Anhängerschaft als Bodhisattvas betrachteten, oft im Zusammenhang mit von ihnen gerechtfertigten und durchgeführten Gewaltausbrüchen. So betrachete sich der Mönch Fǎqìng 法慶, der im Jahre 515 gegen die Dynastie der Nördlichen Wèi einen Aufstand unternahm, als Maitreya oder einen seiner Vorgänger. Er führte mehr als 50.000 Mönche an: wenn einer einen Mann getötet hatte, erhielt er den Titel Bodhisattva der „Ersten Residenz (Yīzhù 一住); je mehr jemand getötet hatte, desto fortgeschrittener war seine Heiligkeit, d. h. bei zehn Menschen erhielt er den Titel Bodhisattva der „Zehnten Residenz“ (Shízhù 十住). Die auch theoretische Rechtfertigung des Tötens im Mahāyāna, das doch das Mitgefühl (karuṇā) mit den Wesen so stark in den Vordergrund stellt, wird – wenn auch nicht generell - damit begründet, „weil die lebenden Wesen (sattva) nicht (wirklich) existieren und somit auch nicht die Sünde des Tötens, so daß es keinen Grund (śīla) gibt, es zu verbieten“. Eine derartige Aussage findet sich z. B. in dem Nāgārjuna zugeschriebenen Mahāprajñāpāramitopadeśa / Dàzhì Dùlùn 大智度論)⁴, das aber mit Sicherheit nicht auf den Madhyamaka-Lehrer zurückgeht, sondern auf einen Autor, der seine Lehre von der Leerheit falsch verstanden und ausgelegt hat, sich aber seines Namens bedient⁵. Ein weiteres Beispiel aus China ist der Aufstand des Mönches Gāo Tánchéng 高曇晟 im Jahre 618, der sich selbst zum Dàchéng huángdì 大乗皇帝 (Mahāyāna-Kaiser) proklamierte und die Nonne 靜宣 Jìngxuān zur Kaiserin Yéshū 邪輸 ausrief⁶.

Hier kam es jedoch nie zur Bildung von regelrechten Linien von Wiederverkörperungen. Diese Weiterung blieb dem tibetischen Buddhismus vorbehalten. Zunächst bezog sich dies auf hohe geistliche Würdenträger, in denen sich die bodhi manifestiert hatte und die sich nach ihrem Tode in einem anderen männlichen Wesen neu verkörperten. Eine der frühesten Ketten solcher Wiederverkörperungen ist die der Kar-ma-pa-Schule, die mit Dus-gsum mkhyen-pa (1110-1193) begann und für dessen 17. Verkörperung in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts zwei Prätendenten präsentiert wurden, was zu zum Teil zu gewalttätigen Auseindersetzungen führte. Die von Tsong-kha-pa (1357-1419) etablierte Schule der dGe-lugs-pa begründete ebenfalls eine Abfolge von Hierarchen, die zunächst den tibetischen Titel rGyal-ba Rin-po-che („Kostbarer Sieger“) führten. Diese seit dem dritten Amtsträger mit dem mongolischen Titel Dalai Lama versehenen Hierarchen galten zunächst nur als Wiederverkörperung des posthum zum I. Dalai Lama ernannten dGe-ʼdun-grub (1391-1475). Nach dem Ableben eines Dalai Lama oder eines anderen reinkarnierten Hierarchen suchte man nach einem danach geborenen männlichen Kind, das möglichst auch ähnliche Merkmale wie sein Vorgänger aufweisen sollte. Bei dieser Prozedur wird besonders darauf geachtet, ob Dinge, die der alten Wiederverkörperung lieb waren, die Aufmerksamkeit des Kindes erregen oder ob es bestimmte Eigenschaften oder Eigenarten des Verstorbenen besitzt. Bei der endgültigen Auswahl muß gegebenenfalls (wenn Zweifel bestehen bleiben) ein Orakel entscheiden. Wenn ein solches Kind identifiziert worden war, wurde es in ein entsprechendes Kloster gebracht und erhielt dort eine Ausbildung, dies es für seine zukünftigen Aufgaben vorbereitete.⁷

Die dGe-lugs-Schule hatte im 15. Jahrhundert verschiedene Klöster gegründet. Zu ihnen gehörte das 1409 von Tsoṅ-kha-pa errichtete dGaʼ-ldan und das 1447 vom I. rGyal-ba erbaute bKra-śis-lhun-po (Tashilhunpo). Mit der Gründung von Klöstern war immer auch der Besitz von Ländereien und auch eine weltliche Herrschaftsausübung verbunden. Das führte auch zu Rivalitäten mit anderen Schulen, so z. B. durch die Kar-ma-pa, die durch Don-yod-rdo-rje (gest. 1512) von den Rin-spuṅs-pa die dGe-lugs-pa unter Druck setzten. Der 1546 entdeckte III. rGyal-ba bSod-nams-rgya-mtsho (1543-1588) bekehrte 1578 auf einer Reise durch die Mongolei Altan Qan (1507-1582), den Herrscher (seit 1542) der Tümed-Mongolen, zum tibetischen Buddhismus und erhielt dafür den Ehrentitel „Dalai Lama“ („Ozeanlehrer“), den er auch seinen beiden Vorgängern verlieh und somit der III. Träger dieses Titels ist. Die Mongolen wurden durch diesen Bekehrungsakt zu Schutzherren der dGe-lugs-Schule. Der 1601 als IV. Dalai Lama inthronisierte Yon-tan-rgya-mtsho (1589-1617) stammte dann auch aus der Mongolei. Auf seine Veranlassung und die des (des später als I. Pan-chen Bla-ma gezählte) Chos-kyi-rgyal-mtshan (1570–1662) gründete im Jahre 1604 rGyal-sras-don-yod Chos-kyi- rgya-mtsho aus dem Kloster Dvags-po-grva-tshaṅ in Amdo das Kloster dGon-luṅ-byams-pa-gliṅ (chines. Yòuníng Sì 佑宁寺), um die Lehren der dGe-lugs-pa unter der dortigen Bevölkerung zu verbreiten, denn in Zentral-Tibet verschärften sich die Auseinandersetzungen mit anderen Schulen. Im Jahre 1605 griff Phun-thsogs-rnam-rgyal, der König von gTsaṅ (reg. 1603-1621) die dGe-lugs-Klöster ʼBras-spuṅs und Se-ra an und massakrierte angeblich 5.000 Mönche, worauf der IV. Dalai Lama in die Mongolei floh. Nachdem aber 1615 die mongolischen Qošoten die dGe-lugs-Lehren angenommen hatten, verbesserte sich auch die politische Situation dieser Schule. Nach der Intervention dieser Mongolen zugunsten der dGe-lugs konnten diese dann im Jahre 1622 Ṅag-dbaṅ-blo-bzaṅ-rgya-mtsho (1617-1682) zum V. Dalai Lama inthronisieren. Da die Spannungen zum neuen König von gTsaṅ, Kar-ma bsTan-skyoṅ (reg. 1621-1642), immer größer wurden, verstärkte der V. Dalai Lama seinen Einfluß unter den Mongolen. 1640 erkannte er Öndör Gegeen Zanabazar (Өндөр гэгээн Занабазар, tibet.: Blo-bzaṅ-bstan-paʼi-rgyal-mtshan, 1635-1723), Sohn eines Fürsten der Qalqa-Mongolen, als Reinkarnation des 1634 in Urga (heute Ulan Baatar) gestorbenen tibetischen Gelehrten Tāranātha (1575-1634) an und ernannte ihn zum I. Jebtsundamba Qutuktu, dem geistlichen Oberhaupt der Qalqa, einer Inkarnationslinie, deren Wiederverkörperung erst nach dem Tod des VIII. Inhabers im Jahre 1924 von der kommunistischen Regierung verboten wurde. Am 13. April 1642 wurde schließlich Kar-ma bsTan-skyoṅ mit Hilfe des Fürsten der mongolischen Qošoten, Guśri Qan (reg. 1630-1655) besiegt und damit die weltliche Macht der Dalai Lamas als Herrscher von ganz Tibet begründet. Der V. Dalai Lama bekämpfte nach der Übernahme der weltlichen Macht viele andere Schulen und wandelte zahlreiche Klöster in gTsaṅ in solche der dGe-lugs-pa um. Besonderes Interesse zeigte er jedoch an den Lehren der rÑiṅ-ma-pa, die er ausdrücklich förderte. Er bezeichnete sich selbst nicht nur als Inkarnation (sPrul-sku) seiner Vorgänger, sondern auch als Emanation (Trulba / sPrul-pa) des Bodhisattva Avalokiteśvara (sPyan-ras-gzigs). Seinen Lehrer Blo-bzaṅ Chos-kyi-rgyal-mtshan (1570-1662) machte er zum Abt des Klosters bKra-śis-lhun-po und verlieh ihm den Titel eines Pan-chen bLa-ma. Dieser I. Pan-chen bLa-ma (nach neuerer Zählung der IV.) gilt als Reinkarnation des Buddha Amitābha (Od-dpag-med), dessen Residenz das westliche Paradies Sukhāvatī und der unter dem Namen Amida 阿彌陀 auch in Japan besondere Verehrung genießt.

Es soll hier nicht die gesamte politische Geschichte der Dalai Lamas skizziert werden, aber einige wichtige Stationen verdienen es doch, besonders hervorgehoben zu werden. 1653 kam es zu einem Treffen des V. Dalai Lama mit dem sino-manjurischen Kaiser Aisin Gioro Fúlín 愛新覺羅福臨 (reg. 1643-1661; Regierungsdevise Shùnzì 順治) vor den Toren Běijīngs, deren Ergebnis die gegenseitige Anerkennung auf Basis der Gleichberechtigung war. Die Regierung des V. Dalai Lama und seiner Nachfolger versuchte die erlangte politische Stellung noch weiter auszubauen, nicht zuletzt mit Hilfe mongolischer Fürsten. Im Jahre 1658 kam Galdan (1644–1697), der vierte Sohn von Erdeni Baatur Hongtaiji, dem Gründer des Dzungaren-Reiches (reg. 1640-1653), zur geistlichen Ausbildung nach Tibet und wurde vom V. Dalai Lama und dem I. Pan-chen bLa-ma unterrichtet. Nach der Ermordung seines Bruders Sengge (1653-1671 Qan der Dzungaren) legte Galdan 1671 den geistlichen Stand nieder und und wurde Qan der Dzungaren (1671-1697). Bei seiner Anerkennung durch den Dalai Lama erhielt den Titel Bošuγtu Qan. Diese Beziehung zu den Dzungaren sollte sich langfristig als unheilvoll herausstellen. Der seit 1679 als Regent (sDe-srid) agierende Saṅs-ryas-rgya-mtsho (1653-1705) hielt den Tod des 1682 verstorbenen V. Dalai Lama 14 Jahre lang geheim und lehnte sich politisch an die Dzungaren an. Letztere fielen 1688 unter Galdan in das Gebiet der Qalqa-Mongolen ein und eroberten es. Viele Qalqa, darunter auch Öndör Gegeen Zanabazar, flohen daraufhin zu den Manjus, die unter ihrem Kaiser Aisin Gioro Xuányè 愛新覺羅玄燁 (Regierungsdevise Kāngxī 康熙, reg. 1661-1722) die Dzungaren bekämpften. Mit Unterstützung von Manju-Truppen besiegten dann 1690 die Qalqa bei Ulaan Budan die Dzungaren, und 1696 erlitt Galdan durch sino-manjurische Truppen bei Zuun-mod eine vernichtende Niederlage, worauf der I. Jebtsunfampa Qutuktu Öndör Gegeen Zanabazar in seine Heimat zurückkehrte. Ob der Regent unter dem Eindruck dieser Niederlage im gleichen Jahr den Tod des V. Dalai Lama bekannt gab und 1697 Tshaṅs-dbyaṅs-rgya-mtsho (1683-1706) zum VI. Dalai Lama inthronisierte, ist nicht bekannt. Dieser neue Dalai Lama zeichnete sich jedoch durch einen unkonventionellen Lebensstil aus, der nicht zuletzt in seinen Liebesliedern zum Ausdruck kam. Er legte daher im Jahre 1702 seine geistliche Würde ab, blieb aber formell weltlicher Herrscher Tibet, während die tatsächliche Macht weiterhin vom Regenten Saṅs-ryas-rgya-mtsho ausgeübt wurde. Aber ihm war im neuen Herrscher der Qošoten, Lasang Qan (tibet.: Lha-bzaṅ, reg. 1703-1717), der sich eng an die Manjuren anlehnte, ein Feind erwachsen, der 1705 lHa-sa eroberte und den Regenten tötete, an dessen Stelle er trat. Da Lasang Qan der VI. Dalai Lama als untragbar und daher als unrechtmäßig und unecht ansah, setzte er ihn 1706 ab und installierte mit Ye-śes-rgya-mtsho (1686-1723) einen zweiten VI. Dalai Lama. Der erste wurde nach China deportiert und starb auf dem Weg dahin. Die kaiserliche Regierung in Běijīng signalisierte zu diesem Zeitpunkt, daß sie geneigt sei, den neuen VI. Dalai Lama anzuerkennen. Da aber im Jahre 1708 ein Kind geboren wurde, das bald unter dem Namen bsKal-bzaṅ-rgya-mtsho (1708-1757) von vielen als Inkarnation des VI. und damit als VII. Dalai Lama betrachtet wurde, kam es bald zur Opposition gegen das neue Regime, was auch von den Dzungaren unter ihrem Fürsten Tsewang Arapten (tibet.: Tshe-dbaṅ-rab-brten, reg. 1697-1727) genutzt wurde, der sich 1717 des noch nicht anerkannten VII. Dalai Lama [der zeitweise auch als der dritte VI. Dalai Lama gehandelt wurde] bemächtigen wollte, was aber die Manjuren verhinderten. Die Dzungaren eroberten jedoch am 3. Dezember 1717 lHa-sa, töteten Lasang Qan und errichteten eine Terrorherrschaft, die sie zunehmend unbeliebter machte. Dies führte aber 1719 zu einem Gegenschlag des sino-manjurischen Reiches, der zur Vertreibung der Dzungaren und 1720 zur Inthronisation des VII. Dalai Lama und zur Errichtung des chinesischen Protektorats führte.⁸ Die sino-manjurische Regierung hatte bereits 1693 einen hohen inkarnierten Geistlichen, den II. lCaṅ-skya Bla-ma namens Ṅag-dbaṅ-blo-bzaṅ Chos-ldan (1642-1714), der im Kloster dGon-luṅ-byams-pa-gliṅ in Amdo residierte, zum Zhasake Lama 札萨克喇嘛 ernannt, d. h. zur höchsten Inkarnation des tibetischen Buddhismus in der Inneren Mongolei und Osttibets und 1701 sogar an den Kaiserhof geholt, wo er 1705 den Titel eines Qutuqtu erhielt. Dies war offensichtlich eine religionspolitische Maßnahme, um ein Gegengewicht zur Politik des Regenten Saṅs-ryas-rgya-mtsho und der Dzungaren zu bilden. Als es 1723 in Osttibet zu einem Aufstand des Blo-bzaṅ-dan-jin, eines Enkels des Guśri Qan, kam, wurde im Gefolge der Kämpfe auch das Kloster dGon-luṅ-byams-pa-gliṅ zerstört und der III. lCaṅ-skya Qutuqtu, lCaṅ-skya Rol pa’i-rdo-rje (1717-1786) 1724 an der Kaiserhof gebracht, wo er zusammen mit dem zukünftigen Kaiser Aisin Gioro Hongli 愛新覺弘曆 (lebte 1711-1799, reg. 1735-1796) erzogen wurde und später eine bedeutende Rolle in der Vermittlung zwischen Kaiserhof und tibetischer Geistlichkeit spielte. Von daher rühren bis heute alle Souveränitätsansprüche der jeweiligen chinesischen Regierungen. Daher sollen die weiteren politischen Entwicklungen, die auch an anderen Stellen nachzulesen sind, nicht weiterverfolgt werden.

Zusammenfassend kann man sagen, daß der V. Dalai Lama zwar – gemessen an seinem geistlichen Stand – stark zur Anwendung von Gewalt neigte, nicht aber, wenn man ihn mit anderen zeitgenössischen weltlichen Herrschern Asiens (zu denen er ja zusätzlich auch noch gehörte) vergleicht. Alle übrigen waren mit Ausnahme des XIII. Und des gegenwärtigen XIV. Dalai Lama kaum zu eigenständigem politischen Handeln fähig, weil sie entweder vor der Volljährigkeit starben oder unter der Kuratel von Regenten standen, für deren gelegentlich auftretende Gewaltausbrüche sie nicht verantwortlich gemacht werden können. Den 1879 als XIII. Dalai Lama inthronisierten Thub-bstan-rgya-mtsho (1876-1933) könnte man zwar in gewisser als Macht-, aber nicht als Gewaltpolitiker charakterisieren, während es beinahe überflüssig erscheint, auf die Friedfertigkeit des 1940 als XIV. Dalai Lama inthronisierten bsTan-ʼdzin-rgya-mtsho hinzuweisen.  ■


Fußnoten

¹ Siehe John J[oseph] Makransky, Buddhahood embodied. Sources of Controversy in India and Tibet, Albany, NY 1997, S. 87:

svābhāviko ’tha sambhogyaḥ kāyo nairmāṇiko ’paraḥ
kāyabhedā hi buddhānām prathamas tu dvayāśrayaḥ

„Denn die unterschiedlichen Körper der Buddhas sind der mit dem eigenen Wesen ausgestattete, der genießende und dann der sich manifestierende. Der erste aber ist die Basis der beiden [anderen].“

² Makransky, a. a. O.; S. 174.

³ In Bezug auf Nāgārjuna kann mit einiger Berechtigung die Frage erhoben werden, ob er, der Verfasser der Mūlamadhyamakārikā, bereits als ein Vertreter oder sogar als einer der Gründerväter des Mahāyāna betrachtet werden kann. In diesem Zusammenhang haben die Überlegungen von A[nthony] K[ennedy] Warder („Is Nāgārjuna a Mahāyānist?“, in: The Problem of two truths in Buddhism and Vedānta; ed. and introduced by Mervyn Sprung, Dordrecht & Boston 1973, S. 78-88), daß der Nāgārjuna der Mūlamadhyamakārikā nicht identisch mit den Verfassern einer Reihe anderer Werke ist, die unter diesem Autorennamen eingeordnet sind und er auch nicht genuin mahāyānistisch ist, einiges Gewicht.

⁴ Siehe die Übersetzung bei Étienne Lamotte, Le traité de la Grande Vertu de Sagesse de Nāgārjuna (Mahāprajñāpāramitopadeśa). Tome I-IV, Louvain 1944-49, S. 864. Paul Demiéville, „Le bouddhisme et la guerre“, Mélanges publiées par lʼInstitut des Hautes Études chinoises, Tome I, Paris 1957, S. 347-385, äußert sich auf S. 353 folgendermaßen; „Das Hīnayāna, das dazu neigt, das Leben zu negieren, verharrt streng in seinem Verbot des Tötens; das Mahāyāna verehrt das Leben, aber bei ihm findet man letztendlich Entschuldigungen für Mord und sogar dessen Glorifizierung.“

⁵ Einige Gelehrte vermuten, daß der bedeutende Übersetzer Kumārajīva (344-413), der diese Arbeit im Jahre 401 abschloß, selbst der Verfasser dieses (nur auf Chinesisch überlieferten) Werkes ist. Herausgeber war Kumārajīvas Schüler Sēngruì 僧瑞 (352-436).

⁶ Hubert Michael Seiwert, Popular religious movements and heterodox sects in Chinese history, Leiden 2003, S. 121, liest 邪輸 als Xiéshū und deutet dies - allerdings mit ? - als „Siegerin über die Heterodoxie“ (wörtlich: „Wegräumerin des Bösen“), während mit „Yéshū“ vermutlich Yaśodharā (der Name der Frau des historischen Buddha) gemeint ist.

⁷ Einen guten Überblick bietet noch immer Günther Schulemann, Geschichte der Dalai-Lamas, Leipzig 1958.

⁸ Zu diesem Abschnitt sei auf folgende bibliographische Angaben verwiesen:

  • a) Aris, Michael: Hidden treasures and secret lives. A study of Pemalingpa (1450-1521) and the Sixth Dalai Lama (1683-1706). London, New York 1989.
  • b) Kraft, Eva Sussane: Zum Dsungarenkrieg im 18. Jahrhundert. Berichte des Generals Funingga. Aus einer mandschurischen Handschrift übersetzt und an Hand der chinesischen Akten erläutert. Leipzig 1953.
  • c) Lange, Kristina: Die Werke des Regenten Sans rgyas rgya mcʼo (1653 – 1705). Eine philologisch-historische Studie zum tibetischen Schrifttum. Berlin 1976.
  • d) Perdue, Peter C.: China marches west. The Qing conquest of Central Eurasia. Cambridge, Mass. [u.a.] 2005.
  • e) Petech, Luciano: China and Tibet in the early 18th century. History of the establishment of Chinese protectorate in Tibet. Leiden 1950.
  • f) Rockhill, William W[oodville]: The Dalai Lamas of Lhasa and their relations with the Manchu Emperors of China, 1644-1908. Leyden 1910.

Dr. Karl-Heinz Golzio ist Indologe und Religionswissenschaftler. Er arbeitet am Indologischen Seminar der Universität Bonn und schrieb zahlreiche Bücher zu Geschichte und Religion Süd- und Südostasiens – u.a. zur Geschichte Kambodschas – und verfaßte, zusammen mit Pietro Bandini, Die vierzehn Wiedergeburten des Dalai Lama.

© 2011 Karl-Heinz Golzio & www.info-buddhismus.de

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Titelbild: Besuch Seiner Heiligkeit des 14. Dalai Lama in Frankfurt am Main im Jahr 2014. © Manuel Bauer.