Lamas, Zaren und Kommissare — Buddhismus in Rußland
von John Snelling
Nur wenig abseits des geschäftigen Primorskij Prospekt in Staraja Derewnja, einem nördlichen Vorort von Leningrad, steht ein gedrungenes Gebäude aus rötlichem Granit inmitten monotoner Wohnblocks und einiger nach dem Zweiten Weltkrieg gebauter Hochhäuser. Anders als die im Stadtzentrum prunkenden Barock- und Rokokobauwerke zeigt sich hier ein ausgesprochen tibetisch-mongolischer architektonischer Einfluß mit einem Anflug von Art Nouveau. Zwar ist das Gebäude heute baufällig, aber es ist ein buddhistischer Tempel, der erste, der in Westeuropa gebaut wurde.
Wie, so mag man fragen, konnte eine solche Anomalie in einem so fremden Milieu entstehen? Die Antwort darauf ist nicht schwer zu finden. Als sich der Moloch namens Russisches Reich im vergangenen Jahrhundert erbarmungslos ausbreitete, verschlang er bald auch asiatische Völker wie die Burjäten, ein mongolisches Nomadenvolk, das seine Herden in der Steppe östlich des Baikal-Sees in Ostsibirien weidete. Anfang des 18. Jahrhunderts war der tibetische Buddhismus in Form des Gelugpa (der Gelbmützen) durch tibetische und mongolische Lamas hierher gebracht worden, und später reisten burjätische Lamas wie Lobsan Shimba Achaldajew und Damba Darsha Sagajew nach Urga und Lhasa, den Hauptstädten der Mongolei und Tibets, um religiöse Unterweisung zu erhalten. Nach ihrer Rückkehr begannen sie mit der Weihe einheimischer Lamas und mit dem Bau von Tempeln (hier Datsan genannt, nach dem tibetischen Dratsang = Mönchskolleg), die immer mehr wurden und Bedeutung als Zentren der Kultur, der Heilkunst und der Erziehung erlangten. Anders als man vermuten könnte, standen die Behörden des Russischen Reichs dieser Entwicklung nicht feindselig gegenüber, wenngleich sie darum besorgt waren, ein gewisses Maß an staatlicher Kontrolle auszuüben. So schuf Zarin Elisabeth 1741 das Amt des Khambo Lama (später Khambo Bandido Lama), des Oberhaupts der Buddhisten in Rußland, dessen Amtssitz sich im Datsan Gussinoje Osero bei Selenginsk befand.
Eine andere Gruppe nomadischer mongolischer Buddhisten, die Kalmyken, war Anfang des 17. Jahrhunderts in Massen von Dshungarien in Mittelasien in das gesetzlose Kosakengebiet zwischen Wolga und Don gewandert. Zwar kehrten einige 1770–71 in ihre alte Heimat zurück, aber viele blieben in der Steppe zwischen Stawropol und Astrachan zurück. In der ersten Zeit ihrer Wanderung konnten sie Verbindungen mit Lhasa, dem Zentrum des tibetischen Buddhismus, aufrechterhalten, und viele fromme Kalmyken nahmen die beschwerliche Reise auf sich, um höhere religiöse Studien zu betreiben. Bedeutend unter ihnen war Zaya Pandita, der nach seiner Rückkehr in die heimatliche Steppe viele tibetische Texte in seine Muttersprache übersetzte. Jedoch waren die Verbindungen vom frühen 18. bis ins späte 19. Jahrhundert unterbrochen, und obwohl es danach zu einer Art vorübergehendem Wiederaufleben kam, waren die Kalmyken für praktische Zwecke einfach zu weit weg, um in den Hauptstrom des tibetischen Buddhismus richtig integriert zu werden.
Schließlich ging der Buddhismus eine einzigartige Verbindung mit dem ekstatischen Schamanismus der Mongolen in Tannu-Tuva ein, einer kleinen Region, die einst innerhalb der Grenzen der Äußeren Mongolei lag, aber 1944 von der UdSSR annektiert wurde. Wie russische Beobachter berichten, wurde in einer Region Tannu-Tuvas der Oberste Lama mit der Großen Schamanin verheiratet.
Das Bestehen buddhistischer Ethnien innerhalb des Russischen Reiches hatte bedeutende Auswirkungen auf die Entwicklungen im europäischen Rußland. Insbesondere wurde die Wissenschaft angeregt, und Akademiemitglieder wie I.P. Minajew, S.F. Oldenburg, O. Rosenberg und F.I. Schtscherbazkij (dessen auf Englisch geschriebener Klassiker über buddhistische Logik noch heute gedruckt wird) wurden zu Pionieren der Buddhismusstudien, vor allem was die Übersetzung und das Studium von Mahayana-Texten betrifft. Das Orient-Institut der Russischen (später sowjetischen) Akademie der Wissenschaften unterstützte ihre Bemühungen, und es wurde eine Bibliotheca Buddhica eingerichtet, in der ihre Werke veröffentlicht wurden. Von 1928 bis 1930 gab es sogar ein Institut für buddhistische Kultur, dessen Direktor Schtscherbazkij war. Daneben suchten viele europäisch-russische Gelehrte und Intellektuelle, die das orthodoxe Christentum als einengend empfanden, nach neuen geistigen Richtungen, und einige fühlten sich zur buddhistischen Philosophie hingezogen, was zur Folge hatte, daß um die Jahrhundertwende in der alten Hauptstadt Sankt Petersburg eine buddhistische Gemeinschaft entstand, die aus burjätischen und kalmykischen Buddhisten und russischen Sympathisanten bestand. Das hatte auch politische Auswirkungen, denn diejenigen in den obersten politischen Kreisen, die eine Ausdehnung Rußlands in Asien befürworteten – unter ihnen besonders der einflußreiche Zeitungsverleger und Unternehmer Fürst Je. Je. Uchtomskij und der populäre Arzt Dr. P.A. Badmajew – erkannten sofort die Möglichkeit, die burjätischen und kalmykischen Verbindungen in die Mongolei und nach Tibet zu nutzen.
Der herausragende moderne russische Buddhist war Agwan Dorshijew (1854-1938), der an der Mönchsuniversität Drepung bei Lhasa studierte und einen solchen Ruf als philosophischer Virtuose erwarb, daß er zum tsenzhab, zum Diskussionspartner des 13. Dalai Lama ernannt wurde. Er übte auch politischen Einfluß aus, indem er den jungen Dalai Lama drängte, sich zwecks Unterstützung gegen die Übergriffe von seiten Britisch-Indiens und Mandschu-Chinas Rußland zuzuwenden. Dorshijews mehrfache quasidiplomatische Missionen nach Rußland, bei denen er mit dem letzten Zaren Nikolaus II. persönlich sprach, fachten alte britische Befürchtungen bezüglich russischer Ambitionen auf Indien erneut an und dienten als einer der Gründe für die Invasion Tibets unter Oberst Younghusband im Jahre 1904.
Bei einer Audienz mit Nikolaus II. um die Jahrhundertwende gelang es Dorshijew durch sein legendäres diplomatisches Geschick, die Erlaubnis zum Bau des erwähnten buddhistischen Tempels zu erlangen. Die beträchtlichen Kosten wurden durch Beiträge des Dalai Lama, der Burjäten und Kalmyken sowie aus der Inneren und Äußeren Mongolei aufgebracht. Das Projekt blieb einige Jahre liegen, bevor etwa 1909 mit dem Bau begonnen wurde. Verständlicherweise gab es, vor allem von seiten ultrarechter Gruppen wie der Union des russischen Volkes, erheblichen Widerstand gegen die Idee, im christlichen Sankt Petersburg einen heidnischen Tempel zu bauen. Dorshijew, ein Mann von großer Willenskraft, ließ sich jedoch nicht beirren, und der Tempel wurde schließlich 1915 vollendet und geweiht. Es ist ein großartiges Gebäude mit zwei Hauptbestandteilen: einem zweistöckigen Dukhang, der den Hauptversammlungssaal der Mönche enthält, und einem vierstöckigen hinteren Bereich mit dem Gonkhang, der an der Spitze über dem Dukhang-Dach gelegenen Kapelle des Schutzherren. Es darf vermutet werden, daß der Tempel in seiner Blütezeit voll mit Schätzen war, einschließlich einer vergoldeten Buddha-Statue, die ein Geschenk von König Rama VI. von Siam war. Da er zudem eher als ein Arbeits-Datsan und nicht nur als Schauobjekt gedacht war, gehörten zu seinem Personal Lamas, die in anliegenden Gebäuden untergebracht wurden.
Zwei Jahre nach der Weihe des Tempels erschütterte die bolschewistische Revolution die Welt und stellte Rußland auf den Kopf. Aber anders als man vermuten könnte, waren die ersten Jahre der Sowjetmacht für die russischen Buddhisten eine Periode der Befreiung, besonders in Burjätien, wo es kühne Versuche gab, eine Anpassung zwischen Buddhismus und Bolschewismus auszuarbeiten. Der Buddhismus, so wurde argumentiert, sei „wissenschaftlich“, er verehre keinen Schöpfergott und sei somit eine „atheistische Religion“, er sei der gültige kulturelle Ausdruck einiger Minderheitenvölker und sei ebenso wie der Marxismus mitfühlend besorgt, daß „die Schwachen nicht unterdrückt werden, sondern daß man sich um sie kümmert“. Manche Buddhisten gingen sogar so weit zu behaupten, nicht Lenin, sondern Buddha sei der Begründer des Kommunismus. In Agwan Dorshijew hatten die russischen Buddhisten zudem einen fähigen Vorkämpfer, der die marxistisch-leninistische Literatur zitieren und so große Wirkung bei Parteifunktionären auf der zentralen wie auf der lokalen Ebene erzielen konnte. Es gibt Zeugnisse dafür, daß der Große Lama anfänglich von der durch die beiden Revolutionen von 1917 erzeugten idealistischen Atmosphäre angetan war und besonders die Garantie religiöser Freiheit und Gleichheit – bis dahin war die Orthodoxe Kirche privilegiert gewesen – und die Absicht begrüßte, den nationalen Minderheiten ein gewisses Maß an Selbstbestimmung zu gewähren. In den frühen zwanziger Jahren bewegte er sich im Bestreben, mit dem neuen Regime zusammenzuarbeiten, an den linken Rand seiner Religionsgemeinschaft und wurde zum Anführer einer radikalen Reformbewegung, die sich dafür aussprach, daß die Lamas ihre schönen Gewänder, ihren Besitz und ihre Privilegien ablegen und zur Armut eines idealisierten Frühbuddhismus zurückkehren sollten. Die Folge war eine buddhistische Renaissance, in Ostsibirien wurden in dieser Zeit neue Tempel eröffnet und alte renoviert, und die Zahl der Lamas stieg in die Tausende. Aber die Sache hatte auch ihren Preis: Die sowjetischen Behörden wollten, wie schon ihre zaristischen Vorgänger, die burjätischen und kalmykischen Verbindungen nach Tibet für politische Zwecke nutzen, und es gibt tatsächlich Hinweise darauf, daß Dorshijew während der gesamten zwanziger Jahre eng mit dem Narkomindel (Volkskommissariat für auswärtige Angelegenheiten) zusammenarbeitete und sogar bereit war, an einigen seiner eher finsteren Pläne, nämlich dem Schüren der Revolution im Land des Schnees, mitzuwirken.
Diese Freiheit war leider nur von kurzer Dauer. 1929 ließ Stalin seine Schreckensherrschaft gegen ideologische und Klassengegner im ganzen Land anlaufen. Fast umgehend erschienen in der Parteipresse antibuddhistische Ausfälle, und der burjätische Zweig der Militanten Gottlosen erklärte, daß „der buddhistische Atheismus nichts mit dem auf dem marxistischen Verständnis der Gesetze von Natur und Gesellschaft basierenden Atheismus zu tun hat“. Zuerst wurden den Klöstern hohe Steuern auferlegt, dann wurde „als Reaktion auf ein Volksvotum der burjätischen Werktätigen“ mit ihrer Schließung begonnen. Später wurden sie alle zerstört – allein in Burjätien 121 in einem Jahr, und zwar nicht von auswärtigen Schlägerbanden, sondern von örtlichen Jugendlichen, die die Zerstörung als großen Spaß ansahen. Die Lamas waren inzwischen zunächst gezwungen worden, im Laienstand zu leben, dann wurden sie verhaftet oder ins Exil geschickt. Schließlich begannen Liquidierungen. Was den Leningrader Tempel betrifft, so wurde dort die letzte Zeremonie 1933 abgehalten, und 1938 wurde er vom Staat beschlagnahmt.
Trotz seines diplomatischen Geschicks und seiner Überlebenskunst fiel Agwan Dorshijew bei den Behörden in Ungnade, und 1934 zwangen sie ihn, seine Heimat, das Transbaikal-Gebiet, zu verlassen, da sie fürchteten, er könnte unter seinen burjätischen Landsleuten Unruhe stiften. Er lebte dann bis 1937 in einer Datscha in Olgino, direkt hinter der nördlichen Stadtgrenze von Leningrad und nicht weit von seinem Tempel. Eines Nachts in demselben Jahr fuhr vor dem Haus neben dem Tempel ein Gefangenentransportwagen vor, NKWD-Offiziere drangen in das Gebäude ein und nahmen die verbliebenen Lamas mit in das NKWD-Hauptquartier am Litejnyj Prospekt. Sie wurden kollektiv vor Drei-Mann-Tribunalen des NKWD nach dem berüchtigten Paragraphen 58 des Strafgesetzbuchs angeklagt, für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Es wurden hier keine herkömmlichen juristischen Feinheiten beachtet. Gemäß der gängigen Praxis wurden die Verurteilten in derselben Nacht in die schalldichten Keller des Gebäudes gebracht und durch Genickschuß hingerichtet. Danach wurden ihre Leichen abtransportiert, um in unbezeichneten Massengräbern auf einer Brache in Lewaschowo am Nordrand der Stadt beerdigt zu werden. Viele russische Orientalisten erlitten ein ähnliches Schicksal, und bald darauf wurde auch Dorshijew, der nach Burjätien zurückgekehrt war, unter verschiedenen Anschuldigungen nach Paragraph 58 verhaftet. Unter anderem sollte er eine panmongolische Terrororganisation angeführt haben. Aber die buddhistische Entsprechung göttlicher Intervention kam gnädig dazwischen: Bevor Schlimmeres geschehen konnte, erkrankte er, und am 29. Januar 1938 erlag er im Gefängniskrankenhaus der burjätischen Hauptstadt Ulan Ude einem Herzschlag. Seine Leiche wurde ordnungsgemäß an seine Angehörigen übergeben, die ihn nach burjätischer Sitte im Wald begruben.
Kurz danach, während des sogenannten Großen Vaterländischen Krieges (1941–45), ereilte eine besonders schlimme Tragödie die Kalmyken. Weil einige von ihnen mit den einmarschierenden Deutschen zusammengearbeitet hatten, brach Stalins ganzer drakonischer Zorn mit voller Wucht über die gesamte Nation herein, und nicht weniger als zehntausend von ihnen wurden in die arktische Einöde Sibiriens deportiert, wo eine zahllose Menge von ihnen verschwand. Wer Glück hatte, konnte ins Exil ins Ausland fliehen, vor allem nach Deutschland und in die USA. Diejenigen, die in der UdSSR geblieben waren, durften erst nach Stalins Tod in das Gebiet an der unteren Wolga zurückkehren.
Den Burjäten ging es um einiges besser. Um sich ihrer Unterstützung im Krieg zu versichern, mußte Stalin solchen Minderheiten wie ihnen Konzessionen machen. So wurde der Buddhismus im Transbaikal-Gebiet aus pragmatischen Gründen wieder toleriert – wenn auch gleichzeitig die antireligiöse Propaganda wieder anlief um sicherzustellen, daß der Freiraum nicht zu groß wurde. Diese Politik wurde nach dem Krieg fortgesetzt, zweifellos deshalb, weil Stalin um sein Image im buddhistischen Ostasien besorgt war. Aber wenn auch der Bau eines neuen Datsan, Iwolga bei Ulan-Ude, gestattet wurde und ein alter, Aga im Gebiet Tschita, wieder aufgebaut werden durfte, waren die wenigen Lamas und Novizen, die dort leben und ihre Religion ausüben durften, schweren Restriktionen unterworfen. Der Staat übte seine Gesamtkontrolle über buddhistische Aktivitäten durch die Einrichtung des Buddhistischen Zentralamts der UdSSR aus, dessen Hauptquartier sich im Datsan Iwolga befand und das ein mit Russen besetztes Büro in Moskau zur Pflege der auswärtigen Beziehungen unterhielt. Der Bandido Khambo Lama, nun ganz und gar im Gewand eines politischen Sympathisanten, erschien mittlerweile auf buddhistischen Konferenzen in Asien, wo er in Agitprop-Manier für den „Frieden“ sprach. Was den Leningrader Tempel betrifft, so diente er trotz verschiedentlicher Aufrufe, ihn einer angemesseneren Bestimmung zuzuführen, mal als Erholungseinrichtung der Gewerkschaften, mal als Funkleitstelle für Flugzeuge im Krieg, als Störsender im Kalten Krieg und zuletzt als Labor für experimentelle Morphologie, in dem – was für Buddhisten besonders beleidigend ist – Experimente mit Vivisektion durchgeführt wurden.
In der relativ liberaleren Atmosphäre, die nach Stalins Tod 1953 einsetzte, waren es zwei Ereignisse, die unter den europäischen Russen Studium und Praxis des Buddhismus stimulierten. Das erste war die Rückkehr des hervorragenden Tibetologen und Mongologen Georg Rörich (1902-60), Sohn des berühmten Malers, in die UdSSR, wo er eine Stelle am Orient-Institut der Akademie der Wissenschaften der UdSSR in Moskau annahm. Das zweite Ereignis war die Freilassung des burjätischen Lamas Bidja Dandaron (1914-74) aus der Gefangenschaft. Er war nicht nur ein ausgezeichneter klassischer Buddhologe, sondern auch ein Eingeweihter des Tantra und Guru. Obwohl ihm nur noch kurze Zeit verblieb – das repressive politische Klima hatte seine Gesundheit geschwächt – setzte Rörich eine Renaissance der großen russischen Tradition der akademischen Orientalistik in Gang. Auf der anderen Seite lag Dandarons Beitrag in der Förderung einer Laientradition der Tantrapraxis unter nichtethnischen russischen Buddhisten.
Insgesamt verbrachte Dandaron etwa 22 Jahre seines Lebens im Gulag, die ihn in seiner Sicht – ein vielleicht auf seine buddhistische Seelenstärke zurückzuführender Gedanke – besonders zu seiner spirituellen Praxis hingeführt hatten. Nach seiner zweiten Freilassung 1956 übernahm er einen Posten im Burjätischen Institut für Sozialwissenschaften in Ulan-Ude, und schon bald zog es Studenten aus Moskau und Leningrad, den baltischen Staaten und der Ukraine hierher. Die kommunistischen Behörden waren alarmiert, und sie verhafteten Dandaron 1972 zum drittenmal, diesmal unter der Beschuldigung, eine illegale religiöse Gruppe organisiert zu haben. In seinem Prozeß war auch die Rede von Trinkgelagen, von Versuchen, diejenigen, die die Gruppe verlassen wollten, einzuschüchtern und sogar zu ermorden sowie von finanziellen Unregelmäßigkeiten. Dandaron wurde schuldig gesprochen und zu einer erneuten Frist im Gulag verurteilt, während einige seiner Studenten einer „ambulanten gerichtspsychiatrischen Diagnose“ unterzogen und zeitweilig in psychiatrische Einrichtungen gesperrt wurden. Leider hatte Dandaron nicht mehr die Kraft, der Härte und den Mißhandlungen, denen er im Lager Wydrino ausgesetzt war – er mußte wiederholt mit gebrochenem Arm und Bein weiterarbeiten – zu widerstehen, und er starb 1974.
Die Affäre Dandaron war ein Schlag, aber kein vernichtender. Die in den fünfziger und sechziger Jahren gebildeten kleinen, hingebungsvollen Gruppen europäisch-russischer Buddhisten, von denen einige aus Schülern Dandarons oder sogar aus Schülern seiner Schüler bestanden, führten, obwohl in den Augen der Behörden nach wie vor illegal, ihre Praxis während der gesamten siebziger Jahre im Untergrund fort. Mangels qualifizierter Lehrer mußten sie jedoch hauptsächlich auf Bücher zurückgreifen, einige konnten auch akademische Orientalisten überreden, sie in klassischem Tibetisch zu unterrichten, so daß ihnen grundlegende Texte zugänglich wurden. Auch wurden buddhistische Werke aus westeuropäischen Sprachen übersetzt und kursierten dann als Samisdat-Literatur. Eine unmittelbare Folge davon war, daß die russischen Buddhisten in andere Schulen des Buddhismus als die traditionelle, ursprünglich aus Tibet über die Mongolei vermittelte Gelugpa eingewiesen wurden. Zen beispielsweise zog durch die Schriften von Dr. D.T. Suzuki ein gewisses Interesse auf sich, und einige „populärere“ buddhistische Ideen drangen zusammen mit anderen westlichen Einflüssen während der Hippie-Ära in die UdSSR ein.
In der freien Atmosphäre der Glasnost in der Ära Gorbatschow verbesserte sich die Situation gewaltig. Vor allem, weil der Buddhismus nicht mehr als politisch umstritten angesehen wurde, wurde es einigen buddhistischen Gruppen in Leningrad und anderen größeren Zentren schließlich möglich, das Stigma der Illegalität abzuwerfen, indem sie sich bei den Behörden offiziell registrieren ließen. Zu den Gruppen, die bei einer Versammlung im Mai 1991 im Leningrader Tempel vertreten waren, auf der über die Gründung einer Schirmorganisation zur Koordinierung der Aktivitäten beraten wurde, gehörten die Lettische Buddhistische Gemeinschaft Riga, die Estnische Buddhistische Gemeinschaft Tallinn, die Leningrader Religionsgemeinschaft der Buddhisten, das in der Universität Tartu (Estland) angesiedelte Mahayana-Institut (unter der Leitung von Linnert Mall, einem angesehenen Orientalisten und führenden Vertreter der nicht vertretenen Nationalbewegung), sowie die Buddhistische Gemeinschaft Nowosibirsk, die durch Kungpa Nyimo, einen Sohn von Bidja Dandaron, vertreten war. Vermutet wurde auch die Existenz buddhistischer Gruppen in Moskau, Kiew und Charkow, während es in Taschkent, wo man derartiges vielleicht am wenigsten erwarten würde, eine koreanische Zen-Gruppe geben sollte. Auch im Transbaikal-Gebiet fand eine Regeneration statt. Die Datsans Zugol und Gussinoje Osero wurden wieder aufgebaut, und es wurde von 17 bis 20 kleineren buddhistischen Zentren berichtet. In der kalmykischen Hauptstadt Elista gab es inzwischen in einem Haus ein kleines Zentrum für kalmykische Buddhisten. Und schließlich war es jetzt auch für asiatische und westliche Lehrer und Schüler möglich, die UdSSR zu besuchen, eine Entwicklung, die mit dazu beitrug, die lange Isolation der sowjetischen Buddhisten zu überwinden.
Das Ereignis mit der größten symbolischen Bedeutung war aber sicher die 1991 erfolgte Rückgabe des Datsan Kuntsechoinei, wie der Name von Dorshijews Leningrader Tempel richtig lautet, in buddhistische Hände. Der neue Abt dort ist Gelong Tenzin-Khetsun Samajew, ein englischsprechender Lama aus Ostsibirien, der im Kloster Gandan in Ulan-Bator, in der Schule für buddhistische Dialektik in Dharamsala und in der Mönchsuniversität Drepung in Südindien ausgebildet wurde. Als ich 1991 mit ihm sprach, hoffte er, den Tempel, der wie alles in Leningrad in einem sehr armseligen und verfallenen Zustand war, wieder aufbauen zu können und auch die konfiszierten Schätze zurückzuerhalten. Er plante auch, eine Mönchsschule einzurichten, denn er sah in der geringen Zahl ausgebildeter Lamas das Hauptproblem des sowjetischen Buddhismus. Außer ihm selbst, der in den Vierzigern steht, gebe es im ganzen Land nur sieben voll qualifizierte Lamas, die alle schon über achtzig seien. Vor allem vertraue er darauf, daß der Buddhismus in dem nach dem verlorenen Glauben an den Marxismus-Leninismus hinterlassenen ideologischen und geistigen Vakuum etwas anzubieten habe.
Nur drei Monate, nachdem ich in Leningrad war – das jetzt natürlich wieder Sankt Petersburg heißt – brachen das kommunistische Regime und die Sowjetunion buchstäblich über Nacht zusammen. Sicher weiß heute noch niemand, was aus Staub und Trümmern erstehen wird, aber es ist sehr wahrscheinlich, daß es zu einer Art religiöser Wiedergeburt kommen wird, weil zum einen das Volk – ein im Grunde sehr religiöses Volk – richtige geistige Nahrung so lange hat entbehren müssen und zum anderen, weil die bevorstehenden Zeiten ganz sicher sehr schwer und anstrengend sein werden. Da der Buddhismus heutzutage auf der ganzen Welt so populär ist, scheint es möglich, daß er bei einer solchen Wiedergeburt eine Rolle spielt. In diesem Falle kann die starke 950 Jahre alte, von Tibet über die Mongolei nach Rußland gebrachte Tradition des Buddhismus ein neues und erregendes Leben eingehaucht bekommen, und Agwan Dorshijews Tempel wird – etwa 75 Jahre nach seiner Weihe – werden, was sein Gründer gewünscht hat: ein blühendes Zentrum des Buddhismus, wo Ost und West sich begegnen.
Aus »Chö-Yang, The Voice of Tibetan Religion and Culture«, Nº 5; Department of Religion and Culture, Dharamsala, 1992,
© Tibet-Office in Genf & Tibet-Forum
Über den Autor John Snelling | Mehr von John Snelling
Veröffentlicht in Tibet-Forum 1/98, Seiten 27–31.
Mit freundlicher Erlaubnis von Monika Deimann-Clemens.