Tibetischer Buddhismus
- Geschichte des Buddhismus in Tibet und Bildung der tibetisch-buddhistischen Schulen
- Die Dalai Lamas
- Tibetischer Buddhismus im Westen
- Die Lehren des Tibetischen Buddhismus
- Tabellarischer Überblick über die vier Hauptschulen des Tibetischen Buddhismus
Geschichte des Buddhismus in Tibet und Bildung der tibetisch-buddhistischen Schulen
Tibetische Historiker geben als Beginn der Verbreitung des Buddhismus in Tibet das Jahr 233 v. u. Z. an. Legenden berichten, dass in dieses Jahr auf magische Weise buddhistische Schriften in Sanskrit und Reliquien auf dem Dach des Palastes des Königs Totori Nyentsen erschienen.¹ Eine andere tibetische Quelle sagt aus, dass diese aus Indien eingeführt wurden, der König aber ihren Ursprung verbarg, nachdem er einen Traum hatte, dass erst vier Generationen später ein König in der Lage sein würde, diese Schriften zu lesen und zu verstehen.²
Die erste erfolgreiche Übertragung und Adaption des Buddhismus in Tibet fällt in die Zeit des tibetischen Königs Songtsen Gampo (ca. 604–650).³ Bevor er an die Macht kam, war Tibet kulturell und politisch zersplittert. Unter seiner militärischen Führung wird Tibet zu einer Hauptmacht in Zentralasien, und am Ende seiner Herrschaft ist Tibet auf dem Weg zur kulturellen Einheit. Songtsen Gampo entsendet den Gelehrten Tönmie Sambhota und einige Studenten nach Indien, um ein Tibetisches Alphabet nach dem Vorbild des Sanskrit-Alphabetes zu entwickeln und festzuschreiben. Die Einführung und Festlegung der tibetischen Schrift und Grammatik bildet die Grundlage sowohl der neuen intellektuellen buddhistischen Kultur als auch der soziokulturellen und politischen Entwicklung.⁴ In der tibetisch-buddhistischen Geschichtsschreibung wird Songtsen Gampo später als der erste von drei religiösen Königen bezeichnet. Die anderen beiden religiösen Könige Tibets sind Trisong Detsen und Relbachen.
Bevor der indische Buddhismus der Sanskrit-Tradition in Tibet Fuß fassen konnte, war die verbreitete Religion in Tibet die Bön-Religion. Der Bön dieser Zeit wird als eine animistische oder schamanistische Naturreligion beschrieben, in der auch Tieropfer gemacht wurden. Durch den Einfluss und die Dominanz des Buddhismus in Tibet hat sich ein ›transformierter‹ Bön entwickelt, der sich stark dem Buddhismus angepasst hat und kaum noch von ihm zu unterscheiden ist.⁵
- Die Dalai Lamas
- Regierungsverantwortung der Dalai Lamas
- V. Dalai Lama, Ngawang Lobsang Gyatso
- V. Dalai Lama, Ngawang Lobsang Gyatso – Beurteilungen Herrschaft I
- V. Dalai Lama, Ngawang Lobsang Gyatso – Beurteilungen Herrschaft II
- XIII. Dalai Lama, Thubten Gyatso
- XIII. Dalai Lama, Thubten Gyatso – Beurteilungen seiner Herrschaft
- XIV. Dalai Lama, Tenzin Gyatso
- Geistliche Herrschaft in Tibet
- HHDL
The XIVth Dalai Lama, Tenzin Gyatso.
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Die Dalai Lamas
»Die Dalai Lamas werden von ihren Anhängern als fortgeschrittene Mahayana Bodhisattvas angesehen, mitfühlende Wesen, die sozusagen ihren eigenen Eintritt in das Nirvana zurückgestellt haben, um der leidenden Menschheit zu helfen. Sie sind demnach auf einem guten Wege zur Buddhaschaft, sie entwickeln Perfektion in ihrer Weisheit und ihrem Mitgefühl zum Wohle aller Wesen. Dies rechtertigt, in Form einer Doktrin, die soziopolitische Mitwirkung der Dalai Lamas, als Ausdruck des mitfühlenden Wunsches eines Bodhisattvas, anderen zu helfen.«
»Hier sollten wir zwei Dinge feststellen, die der Dalai Lama nicht ist: Erstens, er ist nicht in einem einfachen Sinne ein ›Gott-König‹. Er mag eine Art König sein, aber er ist kein Gott für den Buddhismus. Zweitens, ist der Dalai Lama nicht das ›Oberhaupt des Tibetischen Buddhismus‹ als Ganzes. Es gibt zahlreiche Traditionen im Buddhismus. Manche haben ein Oberhaupt benannt, andere nicht. Auch innerhalb Tibets gibt es mehrere Traditionen. Das Oberhaupt der Geluk Tradition ist der Abt des Ganden Klosters, als Nachfolger von Tsong kha pa, dem Begründer der Geluk Tradition im vierzehnten/fünfzehnten Jahrhundert.«
Paul Williams, »Dalai Lama«, in
Clarke, P. B., Encyclopedia of New Religious Movements
(New York: Routledge, 2006), S. 136.
Regierungsverantwortung der Dalai Lamas
»Nur wenige der 14 Dalai Lamas regierten Tibet und wenn, dann meist nur für einige wenige Jahre.«
»In der Realität dürften insgesamt kaum mehr als fünfundvierzig Jahre der uneingeschränkten Regierungsgewalt der Dalai Lamas zusammenkommen. Die Dalai Lamas sechs und neun bis zwölf regierten gar nicht, die letzten vier, weil keiner von ihnen das regierungsfähige Alter erreichte. Der siebte Dalai Lama regierte uneingeschränkt nur drei Jahre und der achte überhaupt nur widerwillig und auch das phasenweise nicht allein. Lediglich der fünfte und der dreizehnte Dalai Lama können eine nennenswerte Regieruagsbeteiligung oder Alleinregierung vorweisen. Zwischen 1750 und 1950 gab es nur achtunddreißig Jahre, in denen kein Regent regierte!«
Jan-Ulrich Sobisch,
Lamakratie – Das Scheitern einer Regierungsform, S. 182,
Universität Hamburg
Der Fünfte Dalai Lama, Ngawang Lobsang Gyatso (1617–1682)
»Der fünfte Dalai Lama, der in der tibetischen Geschichte einfach ›Der Große Fünfte‹ genannt wird, ist bekannt als der Führer, dem es 1642 gelang, Tibet nach einem grausamen Bürgerkrieg zu vereinigen. Die Ära des fünften Dalai Lama (in etwa von seiner Einsetzung als Herrscher von Tibet bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts, als seiner Regierung die Kontrolle über das Land zu entgleiten begann) gilt als prägender Zeitabschnitt bei der Herausbildung einer nationalen tibetischen Identität – eine Identität, die sich im Wesentlichen auf den Dalai Lama, den Potala-Palast der Dalai Lamas und die heiligen Tempel von Lhasa stützt. In dieser Zeit wandelte sich der Dalai Lama von einer Reinkarnation unter vielen, wie sie mit den verschiedenen buddhistischen Schulen assoziiert waren, zum wichtigsten Beschützer seines Landes. So bemerkte 1646 ein Schriftsteller, dass dank der guten Werke des fünften Dalai Lama ganz Tibet jetzt »unter dem wohlwollenden Schutz eines weißen Sonnenschirms zentriert« sei; und 1698 konstatierte ein anderer Schriftsteller, die Regierung des Dalai Lama diene dem Wohl Tibets ganz so wie ein Bodhisattva – der heilige Held des Mahayana Buddhismus – dem Wohl der gesamten Menschheit diene.«
Kurtis R. Schaeffer, »Der Fünfte Dalai Lama Ngawang Lobsang Gyatso«, in
DIE DALAI LAMAS: Tibets Reinkarnation des Bodhisattva Avalokiteśvara,
ARNOLDSCHE Art Publishers,
Martin Brauen (Hrsg.), 2005, S. 65
Der Fünfte Dalai Lama: Beurteilungen seiner Herrschaft I
»Gemäß der meisten Quellen war der [5.] Dalai Lama nach den Maßstäben seiner Zeit ein recht toleranter und gütiger Herrscher.«
Paul Williams, »Dalai Lama«, in
(Clarke, 2006, S. 136)
»Rückblickend erscheint Lobsang Gyatso, der ›Große Fünfte‹, dem Betrachter als überragende, allerdings auch als widersprüchliche Gestalt.«
Karl-Heinz Golzio / Pietro Bandini,
»Die vierzehn Wiedergeburten des Dalai Lama«,
O.W. Barth Verlag, 1997, S. 118
»Einmal an der Macht, zeigte er den anderen Schulen gegenüber beträchtliche Großzügigkeit. […] Ngawang Lobsang Gyatso wird von den Tibetern der ›Große Fünfte‹ genannt, und ohne jeden Zweifel war er ein ungewöhnlich kluger, willensstarker und doch gleichzeitig großmütiger Herrscher.«
Per Kvaerne, »Aufstieg und Untergang einer klösterlichen Tradition«, in:
Berchert, Heinz; Gombrich, Richard (Hrsg.):
»Der Buddhismus. Geschichte und Gegenwart«,
München 2000, S. 320
Der Fünfte Dalai Lama: Beurteilungen seiner Herrschaft II
»Viele Tibeter gedenken insbesondere des V. Dalai Lama bis heute mit tiefer Ehrfurcht, die nicht allein religiös, sondern mehr noch patriotisch begründet ist: Durch großes diplomatisches Geschick, allerdings auch durch nicht immer skrupulösen Einsatz machtpolitischer und selbst militärischer Mittel gelang es Ngawang Lobzang Gyatso, dem ›Großen Fünften‹, Tibet nach Jahrhunderten des Niedergangs wieder zu einen und in den Rang einer bedeutenden Regionalmacht zurückzuführen. Als erster Dalai Lama wurde er auch zum weltlichen Herrscher Tibets proklamiert. Unter seiner Ägide errang der Gelugpa-Orden endgültig die Vorherrschaft über die rivalisierenden lamaistischen Schulen, die teilweise durch blutigen Bürgerkrieg und inquisitorische Verfolgung unterworfen oder außer Landes getrieben wurden.
Jedoch kehrte der Dalai Lama in seiner zweiten Lebenshälfte, nach Festigung seiner Macht und des tibetischen Staates, zu einer Politik der Mäßigung und Toleranz zurück, die seinem Charakter eher entsprach als die drastischen Maßnahmen, durch die er zur Herrschaft gelangte. Denn Ngawang Lobzang Gyatso war nicht nur ein Machtpolitiker und überragender Staatsmann, sondern ebenso ein spiritueller Meister mit ausgeprägter Neigung zu tantrischer Magie und lebhaftem Interesse auch an den Lehren anderer lamaistischer Orden. Zeitlebens empfing er, wie die meisten seiner Vorgänger, gebieterische Gesichte, die er gegen Ende seines Lebens in seinen ›Geheimen Visionen‹ niederlegte.«
(Golzio, Bandini 1997: 95)
Der Dreizehnte Dalai Lama, Thubten Gyatso (1876–1933)
»Ein anderer, besonders wichtiger Dalai Lama war der Dreizehnte (1876–1933). Als starker Herrscher versuchte er, im Allgemeinen ohne Erfolg, Tibet zu modernisieren. ›Der große Dreizehnte‹ nutzte den Vorteil des schwindenden Einflusses China im 1911 beginnenden Kollaps dessen Monarchie, um faktisch der vollständigen nationalen Unabhängigkeit Tibets von China Geltung zu verschaffen. Ein Fakt, den die Tibeter von jeher als Tatsache erachtet haben.«
Paul Williams, »Dalai Lama«, in
(Clarke, 2006, S. 137)
»Manche mögen sich vielleicht fragen, wie die Herrschaft des Dalai Lama im Vergleich mit europäischen oder amerikanischen Regierungschefs einzuschätzen ist. Doch ein solcher Vergleich wäre nicht gerecht, es sei denn, man geht mehrere hundert Jahre in der europäischen Geschichte zurück, als Europa sich in demselben Zustand feudaler Herrschaft befand, wie es in Tibet heutzutage der Fall ist. Ganz sicher wären die Tibeter nicht glücklich, wenn sie auf dieselbe Art regiert würden wie die Menschen in England; und man kann wahrscheinlich zu Recht behaupten, dass sie im Großen und Ganzen glücklicher sind als die Völker Europas oder Amerikas unter ihren Regierungen. Mit der Zeit werden große Veränderungen kommen; aber wenn sie nicht langsam vonstatten gehen und die Menschen nicht bereit sind, sich anzupassen, dann werden sie große Unzufriedenheit verursachen. Unterdessen läuft die allgemeine Verwaltung Tibets in geordneteren Bahnen als die Verwaltung Chinas; der tibetische Lebensstandard ist höher als der chinesische oder indische; und der Status der Frauen ist in Tibet besser als in beiden genannten Ländern.«
Sir Charles Bell, »Der Große Dreizehnte:
Das unbekannte Leben des XIII. Dalai Lama von Tibet«,
Bastei Lübbe, 2005, S. 546
Der Dreizehnte Dalai Lama: Beurteilungen seiner Herrschaft
»War der Dalai Lama im Großen und Ganzen ein guter Herrscher? Dies können wir mit Sicherheit bejahen, auf der geistlichen ebenso wie auf der weltlichen Seite. Was erstere betrifft, so hatte er die komplizierte Struktur des tibetischen Buddhismus schon als kleiner Junge mit ungeheurem Eifer studiert und eine außergewöhnliche Gelehrsamkeit erreicht. Er verlangte eine strengere Befolgung der mönchischen Regeln, veranlasste die Mönche, ihren Studien weiter nachzugehen, bekämpfte die Gier, Faulheit und Korruption unter ihnen und verminderte ihren Einfluss auf die Politik. So weit wie möglich kümmerte er sich um die zahllosen religiösen Bauwerke. In summa ist ganz sicher festzuhalten, dass er die Spiritualität des tibetischen Buddhismus vergrößert hat.
Auf der weltlichen Seite stärkte er Recht und Gesetz, trat in engere Verbindung mit dem Volk, führte humanere Grundsätze in Verwaltung und Justiz ein und, wie oben bereits gesagt, verringerte die klösterliche Vorherrschaft in weltlichen Angelegenheiten. In der Hoffnung, damit einer chinesischen Invasion vorbeugen zu können, baute er gegen den Widerstand der Klöster eine Armee auf; vor seiner Herrschaft gab es praktisch keine Armee. In Anbetracht der sehr angespannten tibetischen Staatsfinanzen, des intensiven Widerstands der Klöster und anderer Schwierigkeiten hätte er kaum weiter gehen können, als er es tat.
Im Verlauf seiner Regierung beendete der Dalai Lama die chinesische Vorherrschaft in dem großen Teil Tibets, den er beherrschte, indem er chinesische Soldaten und Beamte daraus verbannte. Dieser Teil Tibets wurde zu einem vollkommen unabhängigen Königreich und blieb dies auch während der letzten 20 Jahre seines Lebens.«
Sir Charles Bell in (Bell 2005: 546–47)
Der Vierzehnte Dalai Lama, Tenzin Gyatso
»Der jetzige vierzehnte Dalai Lama (Tenzin Gyatso) wurde 1935 geboren. Die Chinesen besetzten Tibet in den frühen 1950er Jahren, der Dalai Lama verließ Tibet 1959. Er lebt jetzt als Flüchtling in Dharamsala, Nordindien, wo er der Tibetischen Regierung im Exil vorsteht. Als gelehrte und charismatische Persönlichkeit, hat er aktiv die Unabhängigkeit seines Landes von China vertreten. Durch seine häufigen Reisen, Belehrungen und Bücher macht er den Buddhismus bekannt, engagiert sich für den Weltfrieden sowie für die Erforschung von Buddhismus und Wissenschaft. Als Anwalt einer ›universellen Verantwortung und eines guten Herzens‹, erhielt er den Nobelpreis im Jahre 1989.«
Paul Williams, »Dalai Lama«, in
(Clarke, 2006, S. 137)
Biografie (engl.)
Moralische Legitimation der Herrschaft Geistlicher
Für Sobisch ist die moralische Legitimation der Herrschaft Geistlicher »außerordentlich zweifelhaft«. Er konstatiert:
»Es zeigte sich auch in Tibet, daß moralische Integrität nicht automatisch mit der Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Menschen erlangt wird, sondern allein auf persönlichen Entscheidungen basiert. Vielleicht sind es ähnliche Überlegungen gewesen, die den derzeitigen, vierzehnten Dalai Lama dazu bewogen haben, mehrmals unmißverständlich zu erklären, daß er bei einer Rückkehr in ein freies Tibet kein politische Amt mehr übernehmen werde. Dies ist, so meine ich, keine schlechte Nachricht. Denn dieser Dalai Lama hat bewiesen, daß man auch ohne ein international anerkanntes politisches Amt inne zu haben durch ein glaubhaft an ethischen Grundsätzen ausgerichtetes beharrliches Wirken einen enormen Einfluss in der Welt ausüben kann.«
Jan-Ulrich Sobisch,
Lamakratie – Das Scheitern einer Regierungsform, S. 190,
Universität Hamburg
Wirklich bedeutsam und einflussreich wird der Buddhismus in Tibet aber erst durch die Aktivitäten des Königs Trisong Detsen (ca. 740–798), der den Buddhismus als Staatsreligion einführt und das Kloster Samye gründet, Tibets erstes Hauptkloster buddhistischen Lernens. In Samye werden die ersten sieben Mönche auf Probe ordiniert, was später als der Beginn des Mönchstum in Tibet betrachtet wird.⁶ Der Sanskrit-Gelehrte Acarya Shantarakshita und der tantrische Meister Padmasambhava, aus Indien eingeladen und angereist, unterstützten Trisong Detsen bei der Verbreitung des Buddhismus in Tibet. Trisong Detsen fördert aktiv die Übersetzung buddhistischer Schriften aus dem Sanskrit in das Tibetische, lädt dazu Übersetzer aus Indien, Kashmir und China ein und sendet junge Tibeter zur Ausbildung nach Indien.
Diese Entwicklung wird durch den dritten Dharmakönig, Relbachen, der 815 König Senalek ablöst, fortgesetzt und forciert. Die Periode seiner Herrschaft ist gekennzeichnet von einer umfassenden Förderung des Buddhismus und der buddhistischen Gemeinschaft (Sangha), die u.a. die Verfeinerung der tibetischen Schriftsprache einschließt und eine sorgfältige und präzise Übersetzung der indischen Sanskrit-Schriften durch indische und tibetische Gelehrten gewährleistet. König Relbachen widmet sich der Verbreitung des Buddhismus so sehr und fördert ihn so stark, dass es zu Spannungen in seiner Regierung kommt. Schließlich wird er von zwei seiner Minister umgebracht und zwei Jahre später von König Lang Darma, der von 838–842 regiert, ersetzt.⁷
Die Nyingma Schule (»Schule der ursprünglichen Übersetzung«) des Tibetischen Buddhismus beruft sich auf diese Periode der ersten Ausbreitung und Übertragung des Buddhismus von Indien nach Tibet. Sie hat anfangs nur wenige klösterliche Zentren und besteht meist aus tantrischen Praktizierenden, die in ihren eigenen Familien leben und praktizieren. Später entstehen aber viele klösterliche Zentren und Institutionen, z.B. Kathog (1159) als erstes von sechs großen Nyingma-Klöstern. Heute zählt man sechs hauptsächliche Nyingma-Schulen. Sie sind mit diesen sechs großen Nyingma-Klöstern verbunden. Dies sind das Sechen-Kloster, das Dzogchen-Kloster, Kloster Kathog, Kloster Mindroling und das Palyul- und Dorje Drak-Kloster. Die Nyingma-Tradition konnte sich aus fast allen politischen Kämpfen heraushalten.⁸
König Lang Darma wird zugeschrieben, den Buddhismus bekämpft zu haben, so dass Buddhisten in den Untergrund gehen mussten. Laut tibetischen Quellen wird Lang Darma schließlich vom buddhistischen Mönch Belgyi Dorje ermordet. Danach bricht das Tibetische Imperium in Zentralasien zusammen, China erlangt die Kontrolle über seine ursprünglichen Gebiete zurück. Dieser Zustand endet erst 1247, als der mongolische Fürst Godan, ein Enkel Dschingis Khans, Sakya Pandita Kunga Gyaltsen (1182–1251) von der Sakya-Schule zu seinem persönlichen religiösen Lehrer und gleichzeitig zum Oberherrn Tibets bestimmt.⁹
Die zweite Verbreitung des Buddhismus in Tibet geht gemäß traditioneller Quellen auf den westtibetischen König Tsenpo Khore zurück, der dem Königsthron entsagt und buddhistischer Mönch mit dem Namen Yeshe Ö wird. Um dem Buddhismus zu neuer Blüte zu verhelfen, entsendet Yeshe Ö 21 begabte tibetische Mönche zum Studium nach Kashmir und Indien. Alle sterben – bis auf die später berühmt gewordenen Gelehrten und Übersetzer Rinchen Sangpo und Lekbe Sherap. Die Rückkehr von Rinchen Sangpo und Lekbe Sherap aus Indien im Jahr 978, begleitet von einigen indischen Gelehrten, markiert die sogenannte »zweite Ausbreitung des Buddhismus« in Tibet.¹⁰ Rinchen Sangpo ist die bedeutendste tibetische Person dieser Zeit. Er betreut die Übersetzung zahlreicher Mahayana Sutras und Tantras und deren umfangreiche Kommentarliteratur aus dem Sanskrit ins Tibetische, reist 17 Jahre in Indien von Lehrer zu Lehrer, um Einweihungen, mündliche Unterweisungen und Kopien buddhistischer Texte zu empfangen.
Diese Entwicklung wird zusätzlich beflügelt, als es Yeshe Ö unter großen Mühen und um dem Preis seines eigenen Lebens schließlich gelingt, den herausragenden indischen Gelehrten und realisierten Meister Atisha (Dipamkara Shrijnana, 982–1054) aus Indien nach Tibet einzuladen. Atishas große Reputation, seine Gelehrsamkeit und sein Vorbild beeinflussen den Buddhismus in Tibet enorm. Sie führen später dazu, dass durch die Aktivitäten seines Hauptschülers Dromdön (1008–1064) die Kadam Schule entsteht. Das Hauptkloster Reting wird im Jahre 1057 durch Dromdön gegründet. Atisha übersetzte eine Fülle der Geheimlehren des Vajrayana in das Tibetische. Viele Übertragungslinien des Vajrayana gehen auf Atisha zurück.¹¹
Auch die Gründung des Klosters Sakya im Jahre 1073 durch Gönchog Gyelpo (1034–1102) von der Khön-Familie entsteht im Geist der Lehren und Reformen Atishas.¹² Die Gründung des Sakya-Kloster ist der Grundstein für die Entstehung der Sakya-Schule, die auf den Übersetzer Drogmi (992–1072) zurückgeht.¹³
Einhundert Jahre später entstehen Klöster der Kagyü-Schule, z.B. das Drikung Thil-Kloster, gegründet im Jahre 1167¹⁴ durch Drikung Kyobpa Jigten Gönpo Rinchen Päl (1143–1217) und das Kloster Tsurphu, das im Jahre 1189¹⁵ durch den ersten Karmapa Düsum Khyenpa (1110–1193) gegründet wird. Karmapa Düsum Khyenpas Nachfolger Karma Pakshi (1204–1283) begründet das Tulku-System der bewusst wiedergeborenen Lamas bei der Nachfolge politisch-religiöser Würdenträger.¹⁶
Der Begriff Kagyü bedeutet ›mündliche Übertragung‹, und der Begriff kann theoretisch auf jede Übertragungslinie tantrischer Lehren von Meister zu Schüler angewandt werden.¹⁷ Die Kagyü-Tradition besteht aus zwei Hauptschulen. Dies sind die Dagpo Kagyü-Schule, welche auf den indischen Meister Tilopa zurückgeht, und die Shangpa Kagyü-Schule, welche auf die indischen Meisterinnen Niguma und Sukhasiddhi zurückgeht.
Die Dagpo Kagyü-Schule umfasst vier Haupt- und acht Unterschulen, die auf Gampopa (1079–1153), einen Schüler der Kadampas und Milarepas (1040–1123), zurückgehen. Die vier Hauptschulen sind die Karma Kagyü-Schule, deren Oberhaupt der Karmapa ist, die Tsalpa Kagyu-, Barom Kagyu-, und Phagtru Kagyu-Schule. Die Phagtru Kagyu-Schule wiederum besteht aus acht Unterschulen, die auf Schüler von Phagmo Drupa Dorje Gyalpo (1110–1170) zurückgehen. Von diesem acht existieren heute noch die Drikung Kagyü-, Drukpa Kagyü- und Taklung Kagyü-Schule. Eine neuere Linie ist die Ugyen Nyendrup Kagyü-Schule.¹⁸
Im 19. Jh. stand die Shangpa Kagyü-Linie kurz vor dem Erlöschen und wurde von Jamgön Kongtrul Lodrö Thaye im Rahmen der Rime-Bewegung wiederbelebt.
Im Jahre 1409 gründete der tibetische Gelehrte und Meister Tsongkhapa Lobsang Dragpa (1357–1419) das Kloster Ganden. Seine Nachfolger werden bekannt als Gandenpas und bezeichnen sich später als Gelugpas.¹⁹ Tsongkhapas Lehrrichtung wird damit als Gelug Schule bekannt und einem seiner engsten Schüler, Gendün Drup (1391–1475), wird später posthum²⁰ vom mongolischen Herrscher Altan Khan der Titel des Ersten Dalai Lama verliehen.²¹
Damit wäre die Entstehung der vier existenten tibetisch buddhistischen Hauptlinien, Nyingma-, Sakya-, Kagyü- und Gelug-Tradition, kurz skizziert. Die Kernlehren der Kadam-Tradition wurden in alle vier Traditionen integriert. Im 16. Jahrhundert hört sie auf, weiterhin als eigenständige Schule zu bestehen.²²
Als Antwort auf zunehmendes Sektierertum und Intoleranz formiert sich Ende des 19. Jahrhunderts, hauptsächlich unter Jamyang Khyentse Wangpo und Jamgon Kongtrul Lodro Thaye, die Rime-Bewegung mit dem Ziel, einen Mittelweg zu finden, der die unterschiedlichen Sichtweisen und Stile der verschiedenen Traditionen für ihren individuellen Beitrag zum Buddhismus würdigt, statt sie als falsch zurückzuweisen oder sie zu marginalisieren und zu verbannen.²³ Rime ist keine eigenständige buddhistische Schule oder Tradition, sondern ein offener, unparteilicher und unsektiererischen Ansatz buddhistischer Praxis, in der der Adept in der Regel in einer Tradition verwurzelt ist und andere Traditionen respektiert und von ihnen lernt.²⁴
Die Karmapas, die Dalai Lamas, Sakya-Linienhalter, Je Tsongkhapa und bedeutende Nyingma- und Kagyü-Meister haben Lehren und tantrische Einweihungen von verschiedenen Schulen und Linien erhalten.
Die Dalai Lamas
Die Geschichte Tibets und die der tibetisch-buddhistischen Traditionen sind sehr komplex. Religion und Politik sind eng miteinander verbunden.
Dem 5. Dalai Lama, Ngawang Losang Gyatso (1617–1682), wird zugeschrieben, nach Zeiten innerer Unruhen in Tibet die zentrale politische und religiöse Macht in sich vereint und »eine relativ stabile kulturelle und wirtschaftliche Blüte des Landes« eingeleitet zu haben.²⁵ Seit dem 5. Dalai Lama sind die Dalai Lamas politische und religiöse Herrscher in Tibet; wobei die wenigsten umfassend Einfluss ausüben konnten, da sie entweder recht früh starben und Regenten die Macht ausübten oder sie mit politischen Opponenten konfrontiert waren, vor denen sie mitunter ins Ausland fliehen mussten. Erst der 13. und 14. Dalai Lama kommen zu ähnlichem Ansehen und Macht, wie der »Große Fünfte« (Dalai Lama). Beide sind Reformer des verkrusteten tibetischen Regierungssystems, das seit dem 5. Dalai Lama eng mit der Gelug-Schule und ihren konservativen monastischen Institutionen verbunden ist.
Neben Reformen des Regierungssystems und dem Aufbau einer Armee zur Verteidigung Tibets leitet der 13. Dalai Lama, Thubten Gyatso (1876–1933), umfassende und dringend nötige gesellschaftliche und spirituelle Reformen ein. So beschneidet er u.a. die Rechte der Aristokraten, schwächt die weltliche Macht der Klöster, bekämpft Gier, Faulheit und Korruption unter Mönchen, stärkt Recht und Gesetz, führt humanere Grundsätze in Justiz und Verwaltung ein, stärkt Gerechtigkeit und die Rechte der armen Bevölkerung, und verbessert den Standard der monastischen und weltlichen Ausbildung sowie die Beziehungen Tibets mit dem Ausland. Die politische und geistliche Machtausübung des 5. und 13. Dalai Lama wird unter Tibetern, Asiaten und Westlern weitgehend positiv bewertet.²⁶
Von allen religiösen Persönlichkeiten Tibets sind die Inkarnationslinien der Dalai Lamas und Karmapas sicher die bedeutendsten. Sowohl die Dalai Lamas als auch die Karmapas werden als Manifestationen des Bodhisattva des Mitgefühls, Chenrezig (Avalokiteshvara), angesehen und es heißt, ihre Inkarnationslinien seien von Padmasambhava prophezeit worden.
Die Dalai Lamas sind jedoch weder »Gottkönige« noch sind sie Oberhaupt der Gelugpas – letzteres sind die Ganden Tripas – und sie sind auch kein Oberhaupt des Tibetischen Buddhismus.²⁷ Viele tibetische Traditionen haben eigene nominelle Oberhäupter, einige haben keine. Obzwar der gegenwärtige 14. Dalai Lama, Tenzin Gyatso, keinen offiziellen Titel eines Oberhaupts des Tibetischen Buddhismus besitzt – de facto und auch protokollarisch ist er politisches und spirituelles Oberhaupt der Tibeter.²⁸
Der 14. Dalai Lama, Tenzin Gyatso, der 1998 den Friedensnobelpreis und seit seiner Flucht aus Tibet zahllose Auszeichnungen und Ehrendoktorwürden erhielt, wird weltweit in großer Verehrung gehalten: »die Tiefe seiner Gelehrsamkeit, Weisheit und tiefgründigen Einsicht in die Natur des menschlichen Seins hat ihn hunderttausende Freunde auf der ganzen Welt gewinnen lassen. Sein Humor, seine Herzenswärme und mitfühlende Energie sind ein lebendiger Beweis der Kraft und Wirksamkeit des Tibetischen Buddhismus und seines Wertes für die menschliche Gemeinschaft.«²⁹
Tibetischer Buddhismus im Westen
Mit der Besetzung Tibets durch die Volksrepublik China im Jahre 1950 und der Flucht des 14. Dalai Lama und zehntausender Tibeter aus Tibet im Jahre 1959, kommen die über tausend Jahre bewahrten und praktizierten Lehren in die westliche Welt. Nach jahrhundertelanger Isolation bekommen nun viele bedeutende tibetische Meister, die aus Tibet ins Exil nach Indien oder Nepal flüchten mussten, Kontakt mit Menschen aus dem Westen, die ihrerseits auf der Suche nach Lebenssinn und spiritueller Entwicklung sind. Die Persönlichkeit der tibetischen Meister – häufig durchdrungen vom Resultat jahrzehntelangen Trainings in Weisheit, Liebe und Mitgefühl – wie auch ihr enormes Wissen über den Buddhismus, ihr Wissen und ihre Erfahrungen in meditativen Praktiken, haben den Westen nachhaltig beeinflusst.
Nicht nur entstehen in der Folge der nationalen Tragödie Tibets vor allem in Europa und den USA zahlreiche Tibetisch-Buddhistische Zentren. Auch die moderne Wissenschaft erfährt eine nachhaltige und noch andauernde Belebung durch den Tibetischen Buddhismus. So entstehen in den 60er Jahren zahlreiche Lehrstühle der Tibetologie, eine Fülle wissenschaftlicher Abhandlungen zur Philosophie des Tibetischen Buddhismus werden verfasst, Sutras und Tantras sowie deren Kommentarwerke werden übersetzt, die Geschichte Tibets wird erforscht. Es gibt Forschungsprojekte zur Auswirkung der Meditation auf das Gehirn, die Gesundheit und das Wohlbefinden, Kooperation und Austausch zwischen buddhistischen Lehrern und Psychologen, Achtsamkeitstrainings u.v.m.
Die tibetische Exilgemeinde unter Führung des Dalai Lama hat eine demokratische Verfassung entworfen und ein demokratisch gewähltes Exilparlament wurde installiert. Die erfolgreiche Exilgemeinde der Tibeter kann für die ca. 33 Millionen offiziellen und inoffiziellen Flüchtlinge dieser Erde durchaus als Modell und Vorbild dafür dienen, wie man trotz Exil, ohne eigenes Land kulturelle Identität bewahren und gewaltfrei leben kann.³⁰
Die Lehren des Tibetischen Buddhismus
Der Buddha hat seine Lehren nicht kategorisiert. Um Studium und Verständnis zu fördern, kann man seine individuell gegebenen Lehren, die in verschiedenen Sutras und Tantras niedergeschrieben und mündlich überliefert wurden, aber in Kategorien darstellen. Eine übliche Darstellung im Tibetischen Buddhismus, die auf indische Gelehrte zurück geht³¹, ist die Präsentation der Lehren in drei Gruppen von Unterweisungen: Shravakayana (Hinayana), Bodhisattvayana (Mahayana) und Vajrayana.³²
Für diese drei Gruppen von Unterweisungen, die vom Sanskrit in das Tibetische übersetzt wurden, gibt es ausführliche kanonische Literatur, wobei die Worte des Buddha in 108 Bänden des Kangyur (›Die übersetzten Worte‹) zusammengestellt wurden und die Kommentarliteratur, die aus 3.626 Texten besteht, in 224 Bänden des Tangyur (›Übersetzte Abhandlungen‹). Zusammen beinhalten Kangyur und Tangyur 4.569 Texte.³³ Da es verschiedene Ausgaben des Tangyur und Kangyur gibt, variieren die Anzahl und die Auswahl der eingebundenen Quellen.
Ergänzt mit einer vierten Kategorie, der Volksreligion, ergeben sich vier Schichten, die wechselseitig zueinander in Beziehung stehen und sich überlappen.³⁴1. Shravakayana – Das Fahrzeug der Hörer
Das Shravakayana wird oft als ›Hinayana‹ (›kleines Fahrzeug‹) bezeichnet, ein Begriff, der für viele einen herabsetzenden Beigeschmack hat. Einige buddhistische Lehrer vermeiden deshalb diesen Begriff.³⁵ Das Shravakayana beinhaltet die grundsätzlichen Unterweisungen des Buddha, wie die Vier Edlen Wahrheiten, den Achtfachen Edlen Pfad und die Vinaya (Ethik der ordinierten Nonnen und Mönche) mit ihrem Herzstück der Pratimoksha (Lehre zur individuellen Befreiung), die auch die Ethik für Nicht-Ordinierte (Laien-Gelübde) darlegt. Dies sind Lehren, wie man sie auch im Theravada-Buddhismus vorfindet. Sie beinhalten die klassische buddhistische Weltsicht, die sich auf die Lehren über Samsara, Karma und die individuelle Befreiung konzentrieren.
Samsara ist der kontinuierliche, leidvolle Kreislauf von Geburt und Tod, der zutiefst unbefriedigend, voller Leid und von nur flüchtigem Glück ist. Er wird verursacht durch Handlungen (Karma), die in Verblendungen (klesha) – also in Unwissenheit, Begierde und Wut – wurzeln. Der Weg zur Befreiung (moksha) ist der Achtfache Edle Pfad, zusammengefasst in den Drei Höheren Schulungen von Ethik, Konzentration und Weisheit.
Im Tibetischen Buddhismus werden diese Lehren selten ausschließlich präsentiert, sondern sind fast immer verbunden mit der zweiten Schicht, den Lehren und Praktiken, wie sie in den Mahayana-Sutras gelehrt werden. Ohne die Basis der grundsätzlichen Lehren des Shravakayana, kann man die Lehren des Bodhisattvayana und Vajrayana nicht verstehen.³⁶
2. Bodhisattvayana – Das Vollkommenheitsfahrzeug des Bodhisattva
Das Bodhisattvayana (meist als ›Mahayana-Fahrzeug‹ bezeichnet) betont das Ideal des Bodhisattva, der nach der vollen Erleuchtung des Buddha strebt, um allen Wesen gemäß ihrer Kapazität zu helfen, eine der drei Arten der Erleuchtung zu erlangen: die eines Hörers (Shravaka), eines Alleinverwirklichers (Pratekyabuddha) oder die eines vollständig erwachten Buddhas (Samyaksambuddha). Dieses ambitionierte und anspruchsvolle Anliegen setzt eine außergewöhnlich großherzige und mutige Motivation voraus, deshalb wird dieser Weg in der Sanskrit-Mahayana-Literatur als Mahayana (»großes Fahrzeug«) bezeichnet.
Handlungen der Bodhisattvas schließen tätige Wohlfahrt ein und orientieren sich an der Kapazität und den Wünschen, dem Wohlergehen der anderen. Im Mittelpunkt der Praxis eines Übenden dieses Weges stehen vor allem die Entfaltung von unparteiischer Liebe und ein Mitgefühl, das alle Wesen einschließt, einhergehend mit der stufenweise und extrem langwierigen Entwicklung der Sechs Vollkommenheiten (Geben, Ethik, Geduld, Bemühen, Konzentration und Weisheit). Dieser Weg ist als Vollkommenheitsfahrzeug (Paramitayana) bekannt. Gemäß Bodhisattvayana hat der Buddha sich drei ›unermessliche Weltzeitalter‹ (Äonen) in den Übungen eines Bodhisattva geschult, um den Zustand der vollkommenen Erleuchtung zu erlangen. Ein vollkommen Erleuchteter ist frei von allen geistigen Schleiern – also von Konflikt erzeugenden Emotionen, Täuschung und Nicht-Wissen – und hat alle heilsamen Qualitäten vollkommen entfaltet.
3. Vajrayana – Die Lehren des Geheimen Mantras
Diese Gruppe von Unterweisungen beinhaltet die Lehren der geheimen Tantras, auch als Geheimes Mantra oder Vajra-Fahrzeug (Vajrayana) bekannt. Das Fundament für die Praxis dieser anspruchsvollen Lehren ist eine stabile Entfaltung der vorher genannten Lehren im eigenen Geistesstrom. Die Lehren des Shravakayana und Bodhisattvayana werden nicht als verschieden vom Vajrayana betrachtet: alle drei Fahrzeuge formen ein ganzheitliches System von Anweisungen.³⁷
Die Lehren des Vajrayana sind äußerst komplex und ihre Bedeutung lässt sich nur schwer erschließen. Deshalb spielt hier die enge Beziehung zu einem authentischen tantrischen Meister (Guru, Lama) für den Adepten eine außerordentlich wichtige Rolle. Da fast alle Tibeter Praktizierende des Vajrayana sind, hat die Betonung der Lehrer-Schüler-Beziehung in diesem Zusammenhang fälschlicherweise dazu geführt, dass der Tibetische Buddhismus vor einiger Zeit noch als »Lamaismus« oder degenerierte Form des Buddhismus bezeichnet wurde. Tatsächlich gibt es aber verschiedene Formen³⁸ der Lehrer-Schüler-Beziehung, darunter auch nicht-tantrische. Die Lehren des tantrischen Buddhismus, die Buddhaschaft in einem Leben versprechen, wurden in Tibet äußerst populär. Deshalb wurden anfängliche Reglements allmählich ausgehöhlt, die den Zugang zum Tantra zunächst nur besonders qualifizierten Schülern nach eingehender beiderseitiger Prüfung erlaubt und so eine sinnvolle Qualitätskontrolle über die Praxis ausgeübt hatten.³⁹
Vajrayana ist eine Methode für sehr begabte Praktizierende des Bodhisattvayana.⁴⁰ Durch geschickte und effektive Methoden versetzt er sie in die Lage, den langwierigen Weg eines Bodhisattva, der über mindestens drei (jedoch auch bis zu einhundert) große Weltzeitalter führt, im besten Fall auf nur ein Leben zu verkürzen.
Schriften und Lehren des Vajrayana umfassen u.a. Meditationen über buddhistische Gottheiten, innere Energiekanäle und Energiezentren (Chakren), aber auch die Mahamudra- und Dzogchen-Lehren sowie Lehren zu Heilung und Medizin.
Hoch entwickelte männliche oder weibliche Bodhisattvas können sich ab einem bestimmten Punkt der geistigen Entwicklung auch auf einen qualifizierten tantrischen Gefährten stützen, um zu lernen, wie man die subtilsten inneren Energien, die den Geist tragen, kontrolliert. Obwohl die sexuelle Vereinigung und die damit verbundene Praxis bei Westlern stets reges Interesse und Projektionen hervorruft, sollte nicht unterschätzt werden, dass die allerwenigsten für sie qualifiziert sind. Auf die Frage, wer denn dazu qualifiziert sei, antwortete der Dalai Lama, dass nur eine solche Person qualifiziert sei, die alle Phänomene der Erscheinungswelt (des Existenzkreislaufes, Samsara) mit vollkommener Unparteilichkeit / Gleichmut betrachtet:
Wahrhaftig, man kann diese Praxis nur ausüben, wenn man überhaupt kein sexuelles Verlangen mehr hat. Die Art der Realisation die erforderlich ist kann man wie folgt beschreiben: Wenn jemand dir einen Kelch mit Wein und ein Glas mit Urin gibt oder einen Teller mit deliziösem Essen und einen mit Exkrementen, musst du geistig in der Lage sein, ohne Unterscheidung von allen vieren zu kosten. Es darf für dich kein Unterschied sein, was du zu dir nimmst. Dann vielleicht kannst Du diese Praxis [der sexuellen Vereinigung] praktizieren.⁴¹
Der Dalai Lama gab zu, dass er keinen Lama nennen könne, von dem er denkt, dieser habe diese Ebene der Verwirklichung erreicht. Lediglich große Meister, wie z.B. der Inder Tilopa (988–1069), die alle Anhaftungen an konventionelle Dinge transzendiert haben, seien in der Lage sexuelle tantrische Praktiken zu nutzen, ohne sich selbst oder ihren Schülern zu schaden. Aber solche außergewöhnlichen Individuen, fügte er hinzu, seien sehr selten.⁴¹
4. Volksreligion
Neben diesen drei Schichten oder Gruppen von Unterweisungen des Tibetischen Buddhismus, stellt Dreyfus als vierte Schicht die ›Volkspraktiken‹ vor. Diese sind populär in der Kultur der Tibeter und eng mit dem Vajrayana verknüpft. Sie beinhalten u.a. Rituale für ein langes Leben, Exorzismus, Vermehrung von Reichtum, Rituale zum Abwenden von Hindernissen, Epidemien und Katastrophen; Rituale zur Heilung, Prophezeiung und der Kult von Hausgöttern und Orakeln. Meist sind diese Praktiken in den Tantras beschrieben und basieren auf tantrischen Visualisierungen. ■
Tabellarischer Überblick über die vier Hauptschulen des Tibetischen Buddhismus
Nyingma | Sakya | Kagyü | Gelug | |
---|---|---|---|---|
Gründer | Padmasambhava (8.Jh) | Khön Könchog Gyalpo (1034–1102) | Marpa (1012–1097), sein Schüler Milarepa (1040–1123) und dessen Schüler Gampopa (1079–1153) | Tsongkhapa (1357–1419) |
Mutterkloster | Samye
(gegr. 774) heute: Mindroling (gegr. 1670) |
Sakya (gegr. 1073) | Tsurphu (gegr. 1185/1189) | Ganden (gegr. 1409) |
Wichtige Klöster | einige in Ost-Tibet (Kham) | Gyantse, Ngor (gegr. 1429) | Taglung, Drikung, Densatil, Rumtek in Sikkim | Sera, Drepung, Reting, Tashi Lhünpo |
Meditative Hauptwege | Dzogchen Atiyoga (Große Vollendung) |
Lamdre (Weg und Frucht) |
Chagchen Mahamudra (Großes Siegel) |
Lamrim (Stufenweg) |
Spirituelle Führer | Padmasambhava, Shantarakshita | Virpupa, Atisha, Drogmi, Sakya Pandita, Phagpa, Tsongkhapa | Tilopa, Naropa, Marpa, Milarepa, Gampopa, Karma Pakshi (gest. 1283) | Atisha, Dromtön, Tsongkhapa, die Dalai Lamas |
Nominelles Oberhaupt | Minling Trichen | Sakya Trizin | Karmapa | Gaden Tripa |
Wichtigste Gottheiten | Hayagriva, Vajrakila, Vajrapani, Mahakala, Bardo | Mahakala, Hevajra, Nairatma, Cakrasamvara | Mahakala, Cakrasamvara, Hevajra, Vajravarahi, Vajradhara | Avalokiteshvara, Manjushri, Mahakala, Guhyasamaja, Vajravarahi, Vajradhara, Schutz-Gottheiten: Palden Lhamo, Begtse |
Quelle: Wangpo Tethong (2001), »Ein Mausklick vom Nirvana entfernt« in »Tibet: Buddhas · Götter · Heilige«, Hrsg. Wilpert C.B., S. 17, Prestel Verlag. (Für die Gelug Tradition wurde als wichtigste Gottheit Guhyasamaja ergänzt.)
Literaturverzeichnis
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Brück, M. v. (1999). Religion und Politik im Tibetischen Buddhismus. München: Kösel-Verlag.
Clarke, P. B. (2006). Encyclopedia of New Religious Movements. New York: Routledge.
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Rabjam, L. (2007). The Precious Treasure of Philosophical Systems. Junction City, California: Padma Publishing.
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Wilpert, C. B. (2001). Tibet. Buddhas – Götter – Heilige. Munich-London-New York: Prestel Verlag.
Fußnoten
¹ Powers, 1995:126
² Powers gibt Tsepon Shakabpa dafür als Quelle an, der wiederum eine tibetische Quelle zitiert.
³ Dreyfus, 2003:17
⁴ (Dreyfus, 2003:18) und (Powers, 1995:128)
⁵ mehr zur Bön Religion siehe (Powers 1995:431–47)
Ringu Tulku Rinpoche merkte 2009 in Berlin an, dass S.H. der Dalai Lama betont, dass Bön keine buddhistische Tradition sei. Die Einteilung Sir Charles Bells in ›schwarzen‹ und ›weißen‹ Bön, erscheint nach wie vor korrekt. Von dieser Beobachtung ausgehend, gibt es gegenwärtig zwei Linien des Bön, der sogenannte ›schwarze‹ (animistische) Bön und der ›weiße‹ (durch den Einfluss des Buddhismus reformierte) Bön. Ringu Tulku bemerkte, dass z.B. in Sikkhim die Linie des ›untransformierten Bön‹ nach wie vor existiert und dass Behauptungen über die Jahrtausende alte Existenz von Schriften der Vertreter des ›transformierten Bön‹, historisch schwer nachvollziehbar seien. Vertreter des ›transformierten Bön‹, wie z.B. Geshe Tenzin Wangyal Rinpoche, sehen sich selbst als Buddhisten, da sie die Zuflucht zu den Drei Juwelen anerkennen, das Gesetz von Ursache und Wirkung und ein Leben nach dem Tod akzeptieren und auch alle Phänomene als leer [von inhärenter Existenz] betrachten; Punkte, die wesentliche Grundprinzipien des Buddhismus seien. (s.a. Interreligiöser Dialog [mp3 Aufzeichnung] zwischen Ringu Tulku Rinpoche und Tenzin Wangyal Rinpoche, August 2009, Berlin.)
⁶ Powers, 1995:129
⁷ Powers, 1995:133–34
⁸ Dreyfus, 2003:24
⁹ (Powers, 1995:136); (Dreyfus, 2003:23); siehe auch von (Brück, 1999:49ff)
¹⁰ Powers, 1995:136
¹¹ Jinpa, 2008:5
¹² Brück, 1999:49
¹³ Dreyfus, 2003:23
¹⁴ Brück, 1999:51
¹⁵ Powers, 1995:136
¹⁶ Brück, 1999:55
¹⁷ Smith, 1970a, 2001:40
¹⁸ Powers, 1995:349
¹⁹ Preston & Cozort, 2003:IX
²⁰ Erst der dritte Dalai Lama, Sönam Gyatso (1543–1588), bekam den Titel dalai (mong. ›Ozean‹) von Altan Khan verliehen, dadurch wurde Gendün Drup posthum zum ersten Dalai Lama. Entgegen der weit verbreiteten Auffassung, dieser Titel bedeute ›Ozeangleicher Lehrer‹ oder gar ›Ozean der Weisheit‹, handelt es sich ursprünglich lediglich um eine Übertragung von Sönam Gyatsos Namen ins Mongolische. (Tibet und Buddhismus, 3/2010, S. 26) So widerspricht auch der 14. Dalai Lama, Tenzin Gyatso, der Darstellung der Verleihung eines Titels »Dalai Lama« und vertritt eben diese Ansicht, dass Dalai Lama eine Übersetzung des Namens Sönam Gyatso in das Mongolische ist. (Laird, Thomas (2006). The Story of Tibet: Conversations with the Dalai Lama, pp. 142. Grove Press, New York.)
²¹ Brück, 1999:62
²² Jinpa, 2008:10
²³ Elizabeth M. Callahan in (Kongtrul, 2007:10)
²⁴ Ringu Tulku, 2006:2
²⁵ Brück, 1999, S. 64
²⁶ z.B. Paul Williams in (Clarke, 2006, p. 136): »By most accounts the [5th] Dalai Lama was by the standards of his age a reasonably tolerant and benevolent ruler.« und »The other Dalai Lama who was particularly important was the Thirteenth (1876–1933). A strong ruler he tried, generally unsuccessfully, to modernize Tibet. The 'Great Thirteenth' also took advantage of weakening Chinese influence in the wake of the 1911 imperial collapse to reassert de facto what Tibetans have always considered to be truly the case, the complete independence of Tibet as a nation from China.« (p. 137) oder (Bell, 2005, S. 546) »War der [13.] Dalai Lama im Großen und Ganzen ein guter Herrscher? Dies können wir mit Sicherheit bejahen, auf der geistlichen ebenso wie auf der weltlichen Seite.« für Bells Begründung siehe S. 544–547. Sir Charles Bells Werk wurde die Auflistung einiger der Leistungen des 13. Dalai Lamas entnommen.
²⁷ Paul Williams in (Clarke, 2006, p. 137)
Von Brück geht detailliert auf die ›modernen Projektionen‹ und ›Angriffe gegen den Tibetischen Buddhismus‹ ein, die ›weder neu noch originell und selten von abwägender Sachkenntnis geleitet [sind].‹ Er erklärt: »Der Begriff ›Gottkönig‹ hat sich bis heute gehalten und wird fälschlicher Weise auf den Dalai Lama angewendet, der weder Gott (die buddhistische Kultur, auch die tibetisch-buddhistische, kennt keine Gottesvorstellung im westlichen Sinne) noch ein König ist. Ein König zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass er dynastisch seinem Vorgänger folgt, und genau das ist bei den Dalai Lamas nicht der Fall. Der Dalai Lama ist auch kein ›orientalischer Despot‹, der dem westlichen Klischee vom orientalischen Herrscher, der willkürlich und in verschwenderischem Luxus regiert, entsprechen würde…« (von Brück, 1999:27–28)
In einem Interview 1960 erwiderte der Dalai Lama auf die Frage „Er wird ja angenommen, dass Sie ein ,lebender Buddha‘ oder ,Gottkönig‘ seien, wie fühlt sich das an?“ „Was für eine Bemerkung! Ich bin nur ein gesegneter Anhänger von Buddha.“
²⁸ Robert Barnett bemerkt dazu »For example, the perception of the Dalai Lama as supreme pontiff of Tibetan Buddhism is a recent phenomenon, reported to be an arrangement that other religious schools reached in the 1960s partly to simplify their relations with foreigners.« Essay: The Tibetans in Lehman, Steve and Robert Barnett (1998): The Tibetans—Struggle to Survive; New York: Umbrage, p. 192; siehe auch Biography by Nobleprize.org http://nobelprize.org/nobel_prizes/peace/laureates/1989/lama-bio.html
²⁹ (Powers, 1995, p. 187) Powers zitiert Mullin, Glenn (1982). Selected Works of the II Dalai Lama, Seite 220
³⁰ Pico Iyer, »A Monk’s Struggle«, Time Magazine, 19.03.2008
³¹ Dalai Lama, Tenzin Gyatso, 1987:37; Tsong Khapa erwähnt Ratnakarashanti’s Presentation of the Three Vehicles (Triyanavyavasthana) 1987:134. Die Drei Fahrzeuge sind nicht identisch mit den Drei Drehungen des Dharmarades. Näheres zu den Drei Drehungen des Dharmarades: The Three Turnings of The Wheel of Dharma – Why They Are Each Essential To All of Us, Jay Garfield, 2011.
³² Ringu Tulku, 2005:15
³³ Stein, 1962:152
³⁴ (Dreyfus, 2003:18) Georges Dreyfus schlägt dieses Modell vor. Während die Nyingma Schule neun Yanas (Fahrzeuge) präsentiert, ist für die Gelug, Sakya und Kagyü Schulen eine Präsentation in drei Fahrzeuge, Hinayana (Shravakayana), Mahayana (Bodhisattvayana) und Vajrayana üblich.
Der Sanskrit-Begriff yanā hat zwei Bedeutungen: die Methoden mit denen man auf dem Pfad fortschreitet und das Ziel zu dem man fortschreitet. (Dalai Lama, 1987:43).
In dieser Abhandlung zum tibetischen Buddhismus wird nicht untersucht, ob Mahayana und Vajrayana auf den historischen Buddha zurück gehen oder ob der Theravada ,authentischer‘ als Mahayana und Varjayana sind. Alle drei Fahrzeuge werden statt dessen als vom Buddha stammend betrachtet.
Die neun Yanas der Nyingma Schule sind: Die ersten drei Yanas – das Shravakayana, Pratyekabuddhayana und Bodhisattvayana [die drei Sutra Fahrzeuge] – die hauptsächlich auf dem Verständnis der Vier Edlen Wahrheiten basieren. Die nächsten drei Yanas – Kriya, Upa, and Yoga [Fahrzeuge, die mit den drei äußeren Klassen des Tantra verbunden sind] – betonen die Praxis der Reinheit. Und dann die letzten drei Yanas – Maha, Anu, und Ati [Fahrzeuge, die mit den drei inneren Klassen des Tantra verbunden sind] – betonen die Praxis der Kontrolle des Geistes. (Quelle: Dalai Lama, The Dalai Lama’s Reflections on the Realistic Approach of Buddhism: Part Three: Buddhism in the Twenty-first Century, 2010)
³⁵ (Ringu Tulku, 2005:15)
Auch der 14. Dalai Lama, Tenzin Gyatso, vermeidet diesen Begriff und benutzt stattdessen die Begriffe ‚Pali-Tradition‘ und ‚Sanskrit-Tradition‘.
The late Chief Reverend of Brickfield’s Vihara K.Sri Dhammananda and Ven. Dr. Walpola Rahula, a well-known Theravada scholar, highlight: “We must not confuse Hinayana (“Lesser vehicle”) with Theravada (“Path of the Elders”) because the terms are not synonymous. The term Hinayana Buddhism is used by scholars for a group of 18 early Buddhist schools, which none exist today. Theravada as it appears today is usually traced back to the 3rd century BCE in Sri Lanka. In 1950, the World Fellowship of Buddhists, inaugurated in Colombo, Sri Lanka, unanimously decided that the term Hinayana should be dropped when referring to Buddhism existing currently in Sri Lanka, Thailand, Burma, Cambodia, Laos, which follow the Theravada tradition.” (Ven. Dr. W. Rahula, Gems of Buddhist Wisdom, Buddhist Missionary Society, Kuala Lumpur, Malaysia, 1996)
Der Sanskrit-Begriff hinā bedeutet „schlecht, niedrig, minderwertig“. Die Identifikation des Shravakayana mit dem Hinayana und des Bodhisattvayana mit dem Mahayana geht auf Nagarjuna zurück. Den Theravada kann man nicht wirklich mit dem Hinayana gleichstellen, da es auch dort praktizierende Bodhisattvas gibt. Näheres siehe The Bodhisattva Ideal In Theravada von Samuels, Jeffrey, http://ccbs.ntu.edu.tw/FULLTEXT/JR-PHIL/jeffrey2.htm
³⁶ Ringu Tulku, 2005:16
³⁷ Ringu Tulku, 2005:16
³⁸ Wilpert, 2001:14–15
³⁹ (Wilpert, 2001:15) Der tibetische Historiker Wangpo Tethong merkt an, dass tantrische Einweihungen früher nur an ausgesuchte Schüler weitergegeben wurden, die vom Lehrer über sechs Jahre geprüft wurden. »Die Schüler selbst wurden dazu angehalten, sich nicht wie ›nach Innereien gierende Schakale‹ auf die tantrischen Lehren zu stürzen, sondern ihrerseits den Meister sechs Jahre lang genau zu prüfen, bevor sie sich einer Einweihung unterzogen.« Durch die schnelle Verbreitung und Popularität des Tantra, verbreitete sich auch die Vorstellung unbedingter Loyalität zum Lama, was dann wiederum die nicht-tantrische Lehrer-Schüler-Beziehung beeinflusste.
⁴⁰ Dreyfus, 2003:20
⁴¹ Powers, 1995:252
Der Dalai Lama sagte 1993 auf einer Lehrer-Konferenz in Dharamsala: »Auf einer sehr fortgeschrittenen Ebene der höchsten tantrischen Praktiken ist die Vereinigung der männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane eine Technik, den subtilsten Geist zu manifestieren und die tiefste Weisheit über die Realität zu erlangen. Hierbei nutzt man den physischen Körper als Werkzeug, um Einsicht zu vertiefen, aber es gibt dabei keine Gier, keine Ausscheidungen und keinen Orgasmus. Vielmehr ist es eine Methode, Gier zu überwinden. In der Vergangenheit musste ein Praktizierender in Tibet in der Lage sein, übernatürliche Fähigkeiten zu demonstrieren, etwa durch die Luft fliegen, um sich für solche Praktiken zu qualifizieren. Wenn er das nicht tun konnte, wurde es ihm nicht erlaubt, diese Techniken zu nutzen. Gegenwärtig gibt es wenige tibetische Meister, die sich auf dieser Ebene befinden. Dilgo Khentse Rinpoche, den ich respektiere, machte die Anmerkung, dass es heute einige wenige realisierte Praktizierende gebe, die so etwas ausüben könnten. Ich weiß, dass einige Meditierende in den Bergen, die sich strikt an den Vinaya halten, eine außerordentliche Verwirklichung erreicht haben.«
In indo-tibetisch tantrischen Kommentaren heißt es im Allgemeinen, dass ein Yogi/eine Yogini, der/die mittels des Vajrayana-Fahrzeuges Erleuchtung erlangen möchte, sich auf eine tatsächliche Handlungs-Mudra stützen muss, um den Pfad des Sehens zu erreichen. Zu diesem Zeitpunkt hat man bereits die Erzeugungsstufe (Pfad der Ansammlung) gemeistert und praktiziert die Vollendungsstufe auf dem Pfad der Vorbereitung. Das heißt, man hat die Vereinigung von geistiger Ruhe (Shamatha) und besonderer Einsicht (Vipassana) erlangt und kann das Mandala der Gottheit in allen groben und subtilen Aspekten in einem Augenblick in der Größe eines Tropfens erzeugen und so lange mit völliger Klarheit aufrecht erhalten wie man möchte. Außerdem wurde innerhalb der Vollendungsstufe, die Isolation des Körpers und die Isolation der Rede erlangt und man kann vier der fünf Wurzel-Winde in den Zentralkanal beim Herzen auflösen und die Klare Weiße Erscheinung erfahren. Um nun die Isolation des Geistes zu erreichen müssen alle Winde, inklusive der alles-durchdringende Wind, im Herzchakra des Zentralkanals in den Unzerstörbaren Tropfen aufgelöst werden. Um dies zu erreichen, muss man sich auf eine qualifizierte Handlungs-Mudra als äußere Bedingung stützen. Dadurch wird schließlich die endgültige Isolation des Geistes erlangt, d.h. alle Winde lösen sich in den unzerstörbaren Tropfen im Herzchakra auf und der sehr subtile Geist, das Klare Licht, wird manifest. Mit dem sehr subtilen Geist des Klaren Lichts realisiert der Yogi/die Yogini die Leerheit konzeptionell (Beispiel-Klare-Licht). Danach wird der Unreine Illusorische Körper erlangt und durch fortgesetzte Meditation mit dem subtilsten Geist des Klaren Lichts über Leerheit verwirklicht man schließlich Leerheit (Shunyata) direkt und nicht-konzeptionell (das Eigentliche Klare Licht) und tritt in den Pfad des Sehens ein. Innerhalb von ca. 20 Minuten wird dieser Yogi oder Yogini alle Verblendungen und deren Prägungen, sowohl die intellektuell gebildeten als auch die innewohnenden, überwinden und Arhatschaft erlangen.
In einigen wenigen Kommentaren, wie dem von Yangchen Gawai Lodro, wird gesagt, dass ein tantrisch praktizierender Bodhisattva mit sehr hoher Intelligenz auch ganz ohne tatsächliche Handlungs-Mudra den Pfad des Sehens erlangen kann. Er oder sie stützt sich dann stets auf eine vorgestellte Handlungs-Mudra.
Eine qualifizierte tantrisch praktizierende Person, kann sich auch schon während der Erzeugungsstufe (Pfad der Ansammlung) auf eine qualifizierte Handlungs-Mudra stützen, um die Winde in den Zentralkanal aufzulösen. Dies ist aber nicht ungefährlich, da die Gefahr besteht sowohl tantrische als auch Vinaya Gelübde zu brechen, was zu einer Wiedergeburt in den niederen Bereichen führt. Erst ab der Ebene der Isolation des Geistes ist es (auch für Ordinierte) ungefährlich, sich auf eine Handlungs-Mudra zu stützen. Deshalb ist es besser, die grobe und subtile Erzeugungsstufe (Pfad der Ansammlung) mittels einer vorgestellten Weisheits-Mudra zu verwirklichen und mittels dieser dann in die zentralen Punkte des Körpers einzudringen.
(Ngawang, Palden (2011). Grounds and Paths of Secret Mantra.)
Der ordinierte Yogi Je Tsongkhapa (Sakya/Gelug) hat sich nicht auf eine wirkliche tantrische Weisheitsgefährtin gestützt, um die Bedeutung der Vinaya und des Zölibats zu betonen und um ein gutes Beispiel für seine Schüler zu geben. Je Tsongkhapa nutze den Auflösungsprozess des Todes, um mit dem Klaren Licht des Todes diese Meditation über Leerheit zu praktizieren und die entsprechenden Verwirklichungen zu erreichen.
Juni 2009, Tenzin Peljor
überarbeitet: 02. Dezember 2013
¹ Der tabellarische Überblick über die vier Hauptschulen des Tibetischen Buddhismus sowie Abbildung 2 und deren Beschreibung sind nicht in der PDF Datei enthalten.