Die Problematik der Nutzung des Tibetbildes für die Verbreitung des Buddhismus im Westen¹

Loden Sherab Dagyab

Zunächst möchte ich anhand einer historischen Skizze die Entstehung des westlichen Tibetbildes untersuchen. Grundsätzlich nehmen wir das Fremde immer unter zwei Aspekten wahr: Was ist anders als bei uns, was ist so ähnlich wie bei uns? Beides wird dann entweder positiv oder negativ bewertet. Im Falle Tibets heißt das: Die Europäer nehmen an Tibet vor allem das wahr, was ihnen vertraut vorkommt – etwa Ähnlichkeiten des religiösen Lebens mit der katholischen Kirche. Andererseits bewerten sie die Andersartigkeit der Tibeter entweder als Rückständigkeit oder sehen sie positiv als Verkörperung dessen, was im Westen verlorenging.

Die geographische Lage Tibets bedingte, daß bis vor kurzem nur wenige Informationen nach Europa drangen. Seine Abgeschiedenheit verlieh dem Land die Aura des Geheimnisvollen und Magischen. Gerade deswegen bot es sich an als Projektionsfläche westlicher Phantasien.

Die wesentlichen Elemente des westlichen Tibetbildes waren bereits im 18. Jahrhundert voll ausgeprägt. Im folgenden möchte ich nachweisen, daß diese Stereotypen bis heute unverändert wiederholt werden. Dazu gehören zum Beispiel der Vergleich von tibetischem Buddhismus und Katholizismus oder die Betrachtung der Rolle der Lamas in der tibetischen Gesellschaft. Was sich ändert, ist ihre positive oder negative Bewertung.

Das Bild Tibets ist eingebettet in den Dualismus von Asien und Europa. Europa definiert sich selbst als rational, ›aufgeklärt‹ und ›vernünftig‹, diskursiv, wissenschaftlich, aktiv und demokratisch. Der Osten gilt hingegen als irrational, unaufgeklärt, läßt Gegensätze verschwimmen statt sie zu betonen; er ist gefühlsbetont, passiv-kontemplativ. In politischer Hinsicht ist Asien despotisch: Es gibt nur absolute Herrscher und rechtlose Untertanen. Für Tibet heißt das: Die »Priesterherrschaft« der Lamas erscheint dem Europäer als ein mittelalterliches Relikt.

Die Asiaten erscheinen dem Europäer als alterslos und in sich ruhend. Diese Vorstellung kann Ängste auslösen, insbesondere die Angst, in einer unterschiedslosen Einheit aufzugehen, in der sich die eigene Persönlichkeit völlig auflöst. Asien erscheint in dieser Sicht als Kulturraum, der dem Pantheismus und der Mystik verfallen ist. Wenn Europa sich selbst behaupten will, muß es hingegen die Verlockung der All-Einheit abwehren. Genau diese Vorstellung vom Aufgehen in der All-Einheit kann aber auch zur Sehnsucht werden, sich vom eigenen Ich zu befreien und den Dualismus von Gott und Mensch, Mensch und Natur aufzuheben. Diese Ambivalenz von Abwehr und Sehnsucht bestimmt das Asienbild der Europäer unterschwellig bis heute. So schreibt der deutsche Schriftsteller Paul Cohen-Portheim 1920:

Das europäische Ideal ist ein aktives, ein individuelles, ein intellektuelles. Der Westen empfindet den Menschen als von der Natur getrennt und ihr entgegengesetzt, er unterwirft sich die Natur […] Der Geist des Westens ist aktiv, weil er die Macht sucht. […] Passivität, Universalität und Intuition kennzeichnen den Osten. Nicht von der Natur getrennt, sondern als einen Teil der Natur fühlt sich dort der Mensch. […] Er sucht nicht die Macht, sondern die Harmonie mit allem Lebenden. Er will in der Natur aufgehen, sich ihr ergeben, eins mit ihr werden. Darum nenne ich ihn passiv. Darum auch widerstrebt ihm der Individualismus.²

Ein sehr frühes Zeugnis des westlichen Tibetbildes sind die Artikel ›Tibet‹ und ›Lama‹ in Zedlers Universal-Lexicon von 1744. Dieses riesige Lexikon war bis 1800 das wichtigste Nachschlagewerk in Deutschland. Die Informationen beruhen auf den Reiseberichten des 17. Jahrhunderts, als erstmals westliche Missionare nach Tibet gelangten. Zu ihnen gehörten insbesondere der Österreicher Johannes Grueber (1660), italienische Kapuziner (1707-33) und der Jesuit Ippolito Desideri (1716). Die Perspektive ist die von Missionaren, die Religion steht im Zentrum.

In ihren Aufzeichnungen sehen wir deutlich, wie die Religion der Tibeter nur soweit wahrgenommen wird, wie sie Ähnlichkeiten mit dem katholischen Christentum hat: Es wird konstatiert, daß die Tibeter an eine Dreifaltigkeit sowie Himmel und Hölle glauben, daß es Exorzismen gibt, daß die Gläubigen Rosenkränze verwenden und der Klerus über die Laien herrscht. Die Religion der Tibeter wird so nicht als etwas Eigenständiges wahrgenommen, sondern erscheint den Europäern als verzerrtes Abbild ihrer eigenen Kultur.

Die Verehrung der Lamas, insbesondere des ›Großen Lamas‹ (das heißt, des Dalai Lama), erscheint dem Europäer als unglaublicher Götzendienst. Das Tulku-System gilt als Betrug, mit dem Auffinden neuer Inkarnationen täuschen die Lamas das Volk und sichern ihre Macht. In dem Abschnitt über den Dalai Lama heißt es (paraphrasiert):

Er wird der große Lama genannt. Um dem Volk weiszumachen, daß er ewig lebt, setzen die andern Priester sofort, wenn er stirbt, einen andern an seine Stelle, und setzen so den Betrug fort. Die Priester schwatzen dem Volk vor, daß der Lama seit mehr als 700 Jahren gelebt habe und auch in alle Ewigkeit leben werde.³

Dem aufgeklärten Europäer des 18. Jahrhunderts erscheinen somit die Tibeter als unaufgeklärte Barbaren. So bezeichnet auch Johann Gottfried Herder 1787 die Tibeter als rauhes Bergvolk, dessen Religion im Grunde hart und unmenschlich ist. Gleichzeitig bemüht Herder sich jedoch, die tibetische Kultur aus den klimatischen Gegebenheiten und der historischen Entwicklung zu verstehen. Für Herder ist der Buddhismus zwar noch immer ein ›Wahn‹, aber er ist auch das Produkt der orientalischen Mentalität und ein Schritt in Richtung der Humanität, die die Europäer erreicht haben. Der Buddhismus hat daher das Verdienst, die wilden Tibeter humanisiert und auf eine höhere Kulturstufe gehoben zu haben.⁴

Wesentlich negativer ist das Tibetbild bei Immanuel Kant. Seine Bemerkungen über Tibet formulieren beispielhaft das europäische Selbstverständnis gegenüber den Asiaten und sind wesentlich abschätziger als die Herders. Für Kant ist die Religion der Tibeter das beste Beispiel für ›Mystik‹, ›Pantheismus‹ und ›Schwärmerei‹, das heißt für Irrationalität. Anstatt vernünftig zu denken und zu arbeiten, sitzen die Asiaten in dunklen Zimmern, starren die Wand an und brüten vor sich hin – so Kant fast wörtlich in seinem Aufsatz Über das Ende aller Dinge.

In seiner Abhandlung Zum ewigen Frieden macht Kant aber auch eine lange Anmerkung, in der er die Frage diskutiert, ob ein bestimmter Begriff der griechischen Mystik vielleicht aus dem Tibetischen stammt. Kant stellt die Theorie auf, daß es bereits in der Antike Kontakte zwischen Tibet und dem Westen gab. Obwohl sein Versuch in diesem Fall absurd ist, ist er in gewisser Weise dennoch bedeutsam: Er versucht, ein Stück der europäischen Überlieferung aus Asien herzuleiten. Tibet erscheint hier als der Ursprung alter Weisheit, die im Westen verlorengegangen ist: In Tibet ist vielleicht noch vorhanden, was in Europa vergessen wurde. Diese Vorstellung von Tibet als mythischem Ursprungsort ist außerordentlich folgenreich: So suchen spätere Autoren in Tibet beispielsweise die Heimat der ›Arier‹ oder den Ursprung des ungarischen Volkes. Vorstellungen dieser Art bilden die Grundlage des positiven Tibet-Mythos, der sich im 19. und 20. Jahrhundert herausbildet.

Im 19. Jahrhundert erobert Europa die Welt – sowohl politisch wie wissenschaftlich. Parallel zur kolonialen Expansion beginnt die philologische Erforschung des Buddhismus und die geographische Erfassung der letzten ›weißen Flecken‹ auf der Landkarte. Einer dieser ›weißen Flecken‹ ist Tibet. Dabei dienen die Versuche, in das Innere von Tibet einzudringen, nicht allein der Wissenschaft. So versuchen die Briten seit den Reisen von Bogle (1775) und Turner (1783), Tibet für den Handel zu öffnen; dies führt 1903/04 schließlich zu Younghusbands gewaltsamem Marsch nach Lhasa. Lediglich die katholischen Missionare Huc und Gabet haben 1846 noch religiöse Absichten. In ihren Reiseberichten erscheint Tibet als rückständiges, archaisches Land.

Die Reiseberichte von Bogle und Turner, die 1775 und 1783 mit dem 3. und 4. Panchen Rinpoche zusammentreffen, sind hingegen positiv gehalten. Sie interessieren sich ausdrücklich nicht für religiöse Fragen (sind aber verblüfft über die Ähnlichkeit von Katholizismus und dem sogenannten ›Lamaismus‹), sondern für Handelskontakte und den politischen Zustand Tibets. Sie konstatieren, daß das Land gut verwaltet wird und sind von den Lamas persönlich sehr beeindruckt, insbesondere vom Panchen Lama.

Im Lauf des 19. Jahrhunderts wird das Tibet-Bild jedoch wieder negativer. Vor allem die Erforschung des Buddhismus führt ab 1850 zu einer Abwertung des tibetischen Buddhismus. Die Frage, welcher Buddhismus der echte ist, beantworten die westlichen Forscher historisch: natürlich der älteste. Der ›reine‹ Buddhismus wird folglich mit dem Pali-Kanon und dem Theravada identifiziert. Alle späteren Entwicklungen gelten hingegen als fortschreitende ›Entartung‹, wobei der tantrische Buddhismus als ärgste Dekadenz gilt. Der tibetische Buddhismus wird als ›Lamaismus‹ bezeichnet, was eindeutig abwertend gemeint ist. Bis heute hat sich ja diese Wortschöpfung leider in vereinzelten Veröffentlichungen gehalten. Diese Sicht des Buddhismus orientiert sich offenbar an der protestantischen Theologie des 19. Jahrhunderts und ihrer historisch-kritischem Methode. Der Mahayana und der tibetische Buddhismus erscheinen den Autoren als eine Art Katholizismus: Die Hierarchie der Lamas benutzt den Aberglauben, um das Volk in Abhängigkeit zu halten. Inbegriff und Symbol des Aberglaubens ist für die westlichen Autoren dabei die ›Gebetsmühle‹ (Khorlo).

Für Austine Waddell ist der tantrische Buddhismus 1895 schlicht nichts an­deres als ›Teufelsanbetung und Zauberei‹:

Der Hauptteil des Lamaismus jedoch enthält viel von tief verwurzelter Teufelsverehrung und Zauberei, … denn der Lamaismus ist nur dünn und unvollkommen mit buddhistischer Symbolik übertüncht. Dahinter dräuen die finsteren Produkte eines poly-dämonistischen Aberglaubens dunkel herauf …⁶

Meyers Konversations-Lexikon faßt dieses angeblich ›wissenschaftliche‹ Tibetbild 1889 so zusammen:

Den Charakter des Tibeters kennzeichnen kriechende Unterwürfigkeit gegen Mächtige, Übermut gegen Niedrige. … Gesellschaftlich gliedert sich die Bevölkerung in Geistliche und Laien; leider übt die Welt- und Klostergeistlichkeit beider Geschlechter keinen guten Einfluß auf die Sittlichkeit des Volkes aus. … Die Mönche sind sehr ungebildet, dabei von lockeren Sitten. Die religiösen Gebräuche unterstützen den Aberglauben, weltbekannt ist die Anwendung des Gebetsrades … bei jedem sonstigen Anlaß braucht man den Lama als Geisterbeschwörer, der dabei große Fertigkeit in höherer Gaukelei bekundet. Der eigentliche Gottesdienst ist durch Gepränge, Musik und Weihrauch geistverwirrend.⁷

Ihre Religion hat die Tibeter passiv und schwach gemacht. Daher sind sie selbst schuld, wenn fremde Mächte in ihr Land eindringen. Francis Younghusband rechtfertigt so seine gewaltsame Expedition von 1904.

Andererseits übt Tibet vor allem ab 1880 eine besondere Anziehungskraft auf westliche Forscher und Entdecker aus. Es beginnt ein regelrechter Wettlauf, wem es als erstem gelingt, in die ›verbotene Stadt‹ Lhasa zu gelangen. Tibet wird in dieser Zeit zum Inbegriff des Geheimnisvollen und Unerforschten. Zur Popularisierung dieses Bildes tragen erfolgreiche Schriftsteller wie Rudyard Kipling⁸ und andere bei. Ein Reisebericht des Amerikaners William Rockhill macht den ›Yeti‹ im Westen bekannt.

Ab 1880 kommt der Tibet-Mythos unter westlichen Esoterikern in Mode. Für sie ist Tibet das geheimnisvolle Land, in dem noch uraltes ›geheimes‹ Wissen überlebt hat. So behauptet Helena Petrowna Blavatsky, die Begründerin der Theosophie, ihre ›Geheimlehre‹ stamme von ›Mahatmas‹, die in Tibet lebten. In tibetischen Klöstern werde auch ein uraltes ›Buch Dzyan‹ aufbewahrt, das die Quelle aller anderen heiligen Bücher sei. Frau Blavatsky behauptete auch, drei Jahre in Tibet gewesen zu sein, allerdings nur mit ihrem ›Astralkörper‹. Einer ihrer engsten Mitarbeiter, der deutsche Theosoph Franz Hartmann, schreibt 1898:

Tatsache ist aber, dass Blavatsky mitunter tagelang in einem todesähnlichen Schlafe lag, und dann beim Erwachen ihren Freunden freudestrahlend erklärte, dass sie in ihrer ›Heimat‹, in Tibet, gewesen sei.

Tatsächlich haben die Lehren der Theosophen mit dem tibetischen Buddhismus wenig zu tun. Die Theosophie ist vielmehr der erste Synkretismus aus westlicher Esoterik und Hinduismus und stellt den ersten Versuch dar, östliche Religionen in die westliche Kultur zu integrieren. Die Bedeutung der Theosophie für die Rezeption des Buddhismus im Westen ist bisher übrigens so gut wie gar nicht untersucht worden.⁹ ›Tibet‹ ist in diesem esoterisch angehauchten Umfeld nicht das reale Land, sondern ein Symbol für den Ursprung: ›Tibet‹ verkörpert die geheime Tradition, die ›geistigen Meister‹ und ›Menschheitslehrer‹, die hinter den Kulissen die Welt lenken. Das hat zur Folge, daß auch das Bild der Lamas ungeheuer aufgewertet wird: Die Lamas verkörpern nun den Archetyp des alten Weisen. Sie sind die Hüter uralter Traditionen und haben alle übernatürliche Kräfte. Das wirkt bis heute nach: Die Berufung auf ›Tibet‹ und ›tibetische Lamas‹ ist bis heute in der Esoterik-Szene als Legitimation äußerst beliebt – vor allem, weil sie so schwer nachzuprüfen ist.

Nach der Younghusband-Expedition zu Beginn des 20. Jahrhunderts beginnt in Tibet eine bescheidene Modernisierung: Junge Tibeter werden zur Ausbildung nach Indien geschickt, eine Telegraphenleitung verbindet Lhasa mit der Außenwelt, der 13. Dalai Lama hat 1921 ein Telefon und zwei Autos. In der westlichen Tibet-Literatur ist davon nichts zu spüren. Sie interessiert sich vielmehr für das Magisch-Mystische: In den 30er und 40er Jahren sind das vor allem die Suche nach Shambala, die Beschreibung seltsamer Phänomene wie der Lunggompa-Tranceläufer und natürlich das sogenannte ›Tibetische Totenbuch‹. Für die desillusionierten Westler wird Tibet zur Utopie, zum positiven Gegenbild der eigenen Kultur. In James Hiltons Bestseller Der verlorene Horizont (1933) wird Tibet endgültig zu Shangri-La, dem letzten Zufluchtsort vor der nahenden Katastrophe.

Mit der Besetzung Tibets durch die Chinesen gelangten in den 50er und 60er Jahren erstmals tibetische Lamas in den Westen. Damit kommt es im Westen erstmals zu einem direkten Kontakt mit der tibetischen Kultur und dem tibetischen Buddhismus. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die historischen Muster unvermindert weiterwirken. Nach wie vor sehen Westler in Tibet entweder das Spiegelbild eigener Feindbilder oder das Symbol ihrer Sehnsüchte. Dies gilt insbesondere für die Massenmedien wie Presse, Film und Fernsehen.

Auf der einen Seite ist das negative Tibet-Bild nach wie vor vorhanden. So machen linke, ›kritische‹ Autoren den westlichen Anhängern des tibetischen Buddhismus den Vorwurf, eine Art von Katholizismus zu betreiben und den Dalai Lama als ›Papst‹ zu verehren.

Auf der anderen Seite wirkt der Tibet-Mythos vom Ende des vorigen Jahrhunderts bruchlos fort. Wie schon bei den Theosophen oder bei James Hilton gilt Tibet als der Ort, an dem sich ›esotensches Wissen‹ erhalten hat. Und je mehr die reale tibetische Kultur von den Chinesen zerstört wurde, desto beliebter wurde dieses Tibet-Bild im Westen. Heute ist das Klischee von den weisen alten Lamas bis in die Massenmedien vorgedrungen, wo es tausendfach wiederholt wird. So schreibt die Illustrierte ›Bunte‹ 1995 in einem Artikel über den amerikanischen Schauspieler Richard Gere:

»Richard Gere traf den Dalai Lama, als er auf eine Reise in den Himalaya ging. Der Dalai-Lama ist der tibetanische Papst der Buddhisten. Die Tibetaner sind die Hüter der buddhistischen Tradition. Die Alten, die Weisen, die Oberpriester einer Religion, …« und so weiter.

Auch hier werden die Lamas und der tibetische Buddhismus wieder mit der katholischen Kirche verglichen. Dieser Vergleich ist hier aber durchaus positiv gemeint: ›Tibet‹ steht hier für Werte wie Tradition, Gemeinschaft, Weisheit, Religion, Geborgenheit. Der Begriff ›Tibet‹ wird zum Symbol für all die Qualitäten, die Westler bei sich selbst vermissen: Lebensfreude, Harmonie, Wärme, Spiritualität. ›Tibet‹ verkörpert heute für viele Westler erneut das Ursprüngliche, das Eigentliche und Echte: ihre eigentliche ›Heimat‹. Diese Einstellung führt zur Mythisierung des Landes und seiner Bewohner. Tibet wird zur Utopie; die Tibeter werden zu ›edlen Wilden‹. Die Beschreibung der Tibeter wird zum Wunschbild, das als Kritik der Europäer an ihrer eigenen Zivilisation funktioniert.

Wie wirkt sich nun dieses Tibetbild mit seinen negativen und positiven Aspekten auf die Verbreitung des Buddhismus im Westen aus?

Seit dem Ende der 60er Jahre lehren tibetische Lamas im Exil den authentischen tibetischen Buddhismus in Europa und den Vereinigten Staaten. Zahlreiche Gruppen, Organisationen und Zentren sind seitdem entstanden. Damit schien für viele Menschen im Westen der Tibet-Mythos greifbare Realität zu werden. Die ›großen Weisen‹ konnten plötzlich live bewundert werden, man konnte persönlichen Kontakt mit ihnen aufnehmen und sogar eine Lehrer-Schüler-Beziehung anknüpfen. Und was wurde und wird nicht alles in diese Lehrer-Schüler-Beziehung hineininterpretiert!

Nach etwa 30 Jahren der dynamischen Ausbreitung des tibetischen Buddhismus im Westen können wir feststellen, daß das romantische Tibetbild sich hartnäckig hält und nur sehr zögernd einer realistischeren Betrachtungsweise weicht. Dieses Festhalten am Mythos zeigt, wie dringend er zur Kompensation innerer Bedürfnisse benötigt wird; es sagt mehr aus über den Zustand der westlichen Gesellschaft als über den Buddhismus selbst. Bis heute erleben wir, daß in manchen Gruppierungen westliche Gläubige die tibetischen Lamas zu erleuchteten Buddhas und unfehlbaren Gurus stilisieren – trotz ihrer offensichtlichen menschlichen Unzulänglichkeiten. Gerade desillusionierte Menschen, die im Laufe ihres Lebens das Zerbrechen sämtlicher Ideale und Vorbilder erleben mußten, klammern sich an das Wunschbild der heilen und heilenden tibetischen Überlieferung. Wo Lebensangst und das Gefühl der Schutzlosigkeit und des Ausgeliefertseins besonders stark sind, wird die Sehnsucht nach einer überlegenen, gleichsam väterlichen Macht in den Lama projiziert. Ein falsches Verständnis buddhistischer Lehren, insbesondere des Vadschrayana, leistet diesem Prozeß noch Vorschub.

Auf diese Weise wirkten der Tibet-Mythos und die westliche Sinnkrise zusammen und ermöglichten eine rasche, aber zunächst eher oberflächliche Ausbreitung des tibetischen Buddhismus im Westen. Nun hat ja der tibetische Buddhismus durchaus mehr zu bieten als eine exotische Symbolik und magisch-mystische Sensationen. Er ist ein ernstzunehmender Weg, beruhend auf klaren Unterweisungen und einer disziplinierten, systematischen Praxis. An der Frage, wie weit westliche Praktizierende in der Lage sind, hinter dem traditionellen Bild diesen Weg zu erkennen und zu gehen, scheiden sich nun die Geister.

Seit etwa zehn Jahren zeichnet sich eine Entwicklung in zwei Richtungen ab. Die eine führt über das bewußte Aufgeben des Mythos zu mehr Realismus und letztlich echter spiritueller Qualität. Nur so kann die kulturneutrale Botschaft des Buddhismus allmählich erfaßt und auf der individuellen Ebene umgesetzt werden, wobei dann nicht mehr Tibet oder der Lama im Mittelpunkt stehen, sondern der Praktizierende selbst. Die andere Richtung jedoch ist gekennzeichnet durch ein nach wie vor unverändertes Festklammern am romantischen Tibetbild, notfalls unter Vernachlässigung der Realität. Abergläubische Vorstellungen, Sektierertum und Dogmatismus sind die Folgen dieser Haltung, die wiederum bei außenstehenden Beobachtern die negativen Aspekte des Mythos aktiviert. Eine innere Entwicklung, wie der Buddhismus sie lehrt, ist unter diesen Umständen nicht möglich, stattdessen beobachten wir Stagnation, Realitätsflucht und eine starre, dualistische Verteidigungshaltung.

Leider müssen wir feststellen, daß auch unter den tibetischen Lamas selbst beide Richtungen vertreten sind. Die besonderen Bedingungen des Exils tragen sicherlich dazu bei, daß manche es an kritischer Reflexion fehlen lassen. Sei es, daß sie selbst der Verführung des Mythos erlegen sind und sich im Licht der Projektionen sonnen, sei es, daß sie ihn für ihre mehr oder weniger religiösen Ziele zu benutzen suchen.

Obwohl man davon ausgehen kann, daß die meisten der Lamas ein aufrichtiges Interesse daran haben, die religiöse Kultur Tibets im Exil zu erhalten und zu verbreiten, besteht doch für ihre Integrität und Glaubwürdigkeit eine große Gefahr, sobald sie versuchen, die Rolle des ›großen Weisen‹ zu spielen. Zunächst scheint es die Arbeit und den Zugang zu den Menschen zu erleichtern, aber mit der Zeit wird dadurch eine ungesunde Dynamik in Gang gesetzt, der man sich nicht mehr entziehen kann. Beispielhaft an der Person des Dalai Lama können wir dagegen erleben, wie die klare Absage, ein bestimmtes Bild zu bedienen, seiner persönlichen Glaubwürdigkeit sowie der Glaubwürdigkeit seiner Botschaft dient.

Man könnte dem entgegenhalten, daß ja auch im historischen Tibet selbst die Lamas von der Bevölkerung idealisiert und geradezu angebetet wurden. Die Antwort darauf lautet, daß das einer der Gründe für religiöse und gesellschaftliche Degenerationserscheinungen war, denen der Dalai Lama durch seine Reformbestrebungen entgegenzuwirken versuchte. In Tibet konnten gläubige Buddhisten bei großen öffentlichen Veranstaltungen stunden- und sogar tagelang den Belehrungen eines Lamas zuhören – und kein Wort davon verstehen. Sie waren zufrieden mit dem Segen seiner Anwesenheit und praktizierten den Buddhismus gemäß ihrem Verständnis zwar hingebungsvoll, aber auch naiv und abergläubisch. Das konnte schon für Tibet nicht als Dauerzustand akzeptiert werden, um wieviel weniger dann noch im Westen.

Eine weitergehende, kritische Untersuchung des Tibet-Mythos und seiner Auswirkungen wäre meines Erachtens notwendig, um schädliche Entwicklungen dieser Art zu verhindern. Der Rückblick auf die letzten 30 Jahre lehrt uns jedenfalls, daß die positiven Aspekte des überlieferten Tibetbildes sich bei der Verbreitung des Buddhismus auf die Dauer eher als nachteilig erwiesen haben, während die negativen Aspekte zumindest den Vorteil hatten, die tibetischen Lamas und ihre Schüler zu einer kritischen und letztlich fruchtbaren Selbstüberprüfung anzuregen.  ■


Anmerkungen

¹ Deutsche Formulierung in Zusammenarbeit mit Dr. Thomas Lautwein und Regine Leisner.

² Cohen-Portheim 1920: 29, 31; meine Hervorhebungen.

³ Zedlers Universal-Lexicon, 44. Band, Leipzig 1745, Sp. 28-29.

⁴ Herder 1909: 23.

⁵ Kant 1983: 185.

⁶ Waddell 1895: XI.

⁷ Meyers Konversationslexikon, 4. Aufl., Leipzig 1889: 689.

⁸ Kipling 1898.

⁹ Siehe den Aufsatz von Poul Pedersen im vorliegenden Band (Anm. d. Hg.).

Dagyab Rinpoche

Loden Sherab Dagyab Rinpoche wurde 1940 im Osten Tibets geboren und mit vier Jahren als der IX. Kyabgön (Schutzherr) der Region Dagyab anerkannt. Er zählt zu den ranghöchsten Tulkus (Hotuktu).

Als die VR China im Jahre 1959 Tibet überfiel und besetzte floh er zusammen mit dem Dalai Lama nach Indien ins Exil. Nach seiner Flucht aus Tibet erwarb er im indischen Exil den akademischen Grad eines Geshe Lharampa. Von 1964 bis 1966 leitete er das Tibethaus in New Delhi, welches als international anerkanntes Institut zur Erhaltung und Förderung der tibetischen Kultur gilt.

Einer Einladung der Universität Bonn folgend kam Dagyab Rinpoche 1966 nach Deutschland, lebte für ca. vierzig Jahre mit seiner Familie in der Nähe von Bonn und arbeitete an der Bonner Universität als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Seit 2009 lebt er mit seiner Familie in Berlin. Er ist spiritueller Leiter des Tibethauses in Frankfurt am Main.

S. E. Dagyab Kyabgön Rinpoche wird als derjenige tibetisch-buddhistische Meister angesehen, der die meisten Übertragungslinien der Gelugpa-Linie, aber auch umfassende Übertragungslinien der Sakya- und Kagyü-Schulen hält.

© 1997 Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH, Bonn, Thierry Dodin und Heinz Räther

Dieser Artikel wurde in »Mythos Tibet. Wahrnehmungen, Projektionen, Phantasien« / hrsg. von der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Zusammenarbeit mit Thierry Dodin und Heinz Räther veröffentlicht; Köln: DuMont, 1997, ISBN 3-7701-4044-3, S. 318-325.

»Mythos Tibet« basiert auf dem gleichnamigen Symposium, das im Mai 1996 in Zusammenarbeit mit dem Seminar für Sprach- und Kulturwissenschaft Zentralasiens der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn im Forum der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland stattgefunden hat. Das Symposium wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstützt.

Veröffentlicht mit freundlicher Erlaubnis der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, des Autors und Thierry Dodin.

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