»Kanon« im Buddhismus und die Anfänge der schriftlichen Überlieferung
von Ernst Steinkellner, Wien
Weil sich im Buddhismus eine geschichtsmächtige zentrale Institution nicht entwickelt hat, die Autorität für die Gestalt und Auslegung des Buddhawortes (buddhavacana) beanspruchen kann, kann man auch nicht von einer bestimmten Überlieferung als einem einzigen autoritativen Kanon sprechen. Vielmehr tradieren die verschiedenen älteren buddhistischen Schulen und die Richtungen des Mahāyāna- und Vajrayāna-Buddhismus, sowie die Gesellschaften Chinas und Tibets, Koreas und der Mongolei jeweils verschiedene Gruppen von Texten, die für sie als autoritativ gelten und durch die sie sich auch von anderen unterscheiden. Diese Sammlungen von »Buddhawort« weisen bei immer deutlicher Anerkennung eines gemeinsamen Kernes oft größte Verschiedenheit auf. Die Lehrtexte (Sūtren) der Überlieferung mit großen Übereinstimmungen bei den älteren Schulen werden ersetzt durch die Gattung der Mahāyānasūtren und Tantren, unter denen mehrere besondere Autoritätslinien entstehen. Quelle dieser Texte ist nicht mehr ein historischer Buddha, sondern die durch ihn in die Welt gebrachten Lehre, der überweltliche Dharma. Man spricht auch von einem chinesischen, tibetischen, koreanischen oder mongolischen Kanon und versteht darunter grob das gesamte jeweils direkt oder indirekt aus indischen Sprachen übersetzte Schrifttum an »Buddhawort« und exegetischer Literatur im weitesten Sinne. Es gibt also im Buddhismus mehrere Arten von Kanon, aber keinen einzigen von allen Buddhisten ohne weitere Interpretation anerkannten Kanon.
Der Buddha Śākyamuni namens Siddhārtha Gautama (zweite Hälfte des 5. Jh. v.u.Z.) hinterließ seiner Gemeinde (saṅgha) Lehrreden (sūtra) und Anweisungen für das Leben in der Gemeinde (vinaya). Sie stellen die Lehre (dharma) des Buddha dar. Diese nur mündlich überlieferten Texte wurden nach der Tradition gleich nach seinem Ableben im sogenannten Konzil von Rājagṛha in gemeinsamer Rezitation gesammelt. Dazu kamen bald Texte, in denen von seinen Schülern und deren Nachfolgern die Lehrgruppen und Begriffe aus den Sūtren systematisch geordnet und erklärt wurden (Abhidharma). Auch sie gelten als Buddhawort. Gemeinsam machen diese Texte einen »Urkanon« aus, den »Dreikorb« (tripiṭaka). Der Buddha, der vor allem in Magadha, einem östlichen Königtum um das heutige Patna tätig war, hat wohl eine Form der frühen Māgadhī, einer mittelindischen Sprache gebraucht, aber diese Sprachform nicht für verbindlich erklärt, sondern nur die inhaltlich richtige Wiedergabe seiner Worte betont. Die rasche regionale Ausbreitung der Gemeinde und Unterschiede in der Auffassung der Ordensregeln, verstärkt durch die Missionen unter dem Maurya-Kaiser Aśoka (~ 273-236 v.u.Z.) führten daher bald zu getrennten Überlieferungen des Buddhawortes. Damit war die Grundlage für erste sich sprachlich und inhaltlich unterscheidende Traditionsformen des Buddhawortes gegeben. In Aśokas Felsedikt von Bhābrā (auch Calcutta-Bairāṭ) finden sich erstmals mehrere Namen von Sūtren.
Von diesen frühen kanonischen Sammlungen ist nur der umfangreiche Kanon in Pāli, einer westlichen mittelindischen Sprache, im Original vollständig überliefert. Der Pāli-Kanon umfaßt das Buddhawort, wie es die Theravāda-Schule nach Sri Lanka gebracht hat, wo er nach guter Tradition unter dem König Vaṭṭagāmaňi Abhaya (1. Jh. v.u.Z.) erstmals schriftlich niedergelegt wurde. Von diesen Schriften ist natürlich nichts erhalten und der Wortlaut dieses Kanons ist erst durch die Kommentare belegt, die im 5. und 6. Jh. u.Z. verfaßt worden sind.
Texte der anderen Schulen sind, wenn überhaupt, nur in Form ihrer chinesischen Übersetzungen (Kataloge dieser Literatur ab dem späten 4. Jh. u.Z.) oder auch ihrer Übertragungen in das Sanskrit erhalten geblieben. Den Funden in Zentralasien und in Gilgit (Nordpakistan) in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts sind große Teile kanonischer Sammlungen in Sanskrit zu verdanken. Der Vergleich dieser Texte und der chinesischen Übersetzungen mit dem Pāli-Kanon hat gezeigt, daß die kanonischen Überlieferungen in der so erreichbaren Periode bereits stark differenziert sind. Daher kann man auch für den Pāli-Kanon nicht beanspruchen, daß er das Buddhawort am getreuesten repräsentiert.
Jüngste Entwicklungen haben nun für das gesamte indische Schrifttum des Buddhismus neue originale Texte zugänglich gemacht. Für die Blüte- und Spätzeit ist, wenn auch zur Zeit noch beschränkt, ein erster Zugang zu Photokopien der in Tibet nach der Übersetzung ins Tibetische aufbewahrten und meist gut erhaltenen Sanskrit-Manuskripte aus der Zeit vom 7. – 14. Jh. u.Z. wichtig. Zahlreiche bisher nur durch tibetische oder chinesische Übersetzungen oder noch gar nicht bekannte Originaltexte des Mahāyāna- und des tantrischen Buddhismus mit bedeutenden exegetischen und insbesondere philosophischen Werken werden in Zukunft zugänglich werden. Ihre Erschließung hat bereits begonnen und wird zu einer neuen Phase in der Erkenntnis des voll entwickelten Buddhismus in Indien führen.
Die heute ältesten Handschriften des Buddhismus aber sind erst durch die gewalttätigen gesellschaftlichen und politischen Veränderungen und Kriege der letzten Jahre in Afghanistan und Nordpakistan wieder ans Licht gekommen, Regionen, die bis zur Islamisierung durch eine reiche buddhistische Klosterkultur geprägt waren. Diese Dokumente in größeren und vielen kleinen Fragmenten sind in Kharoṣṭhī-Schrift geschrieben und in Varianten der Gāndhārī, der mittelindischen Sprache Nordwest-Indiens, und stammen aus dem ersten bis dritten Jahrhundert u.Z. Diese neuen Funde befinden sich heute in der British Library, London, und in zwei großen Privatsammlungen, der Senior-Sammlung, U.K., und der Schøyen-Sammlung, Norwegen. Ihrer sensationellen Bedeutung entsprechend sind sie teilweise bereits rasch und sorgfältig bearbeitet worden, so daß es heute bereits möglich ist, aufgrund dieser regionalen Materialien einen guten Eindruck vom Vorgang des Entstehens des buddhistischen Schrifttums zu gewinnen.
Erwiesen ist damit das Vorhandensein einer reichen Handschriftenkultur in dem nordwestlichen Gebiet, das man als Groß-Gandhāra bezeichnet. Aber die Nachricht von der Verschriftlichung des Kanons in Sri Lanka und die frühesten Fragmente in der Schøyen-Sammlung mit Gāndhārī- und Sanskrit-Texten und Brāhmī-Schrift legen nahe, daß diese buddhistische Handschriftenkultur nicht nur auf Gandhāra beschränkt war, sondern auch in anderen buddhistischen Zentren ganz Indiens gepflegt wurde. Der Vergleich der schon bearbeiteten neuen Sūtren-Texte mit denen anderer buddhistischer Traditionen dieser Zeit auf Basis späterer Handschriften und Übersetzungen zeigt Parallelen, aber auch starke Eigenständigkeiten. Während die meisten Handschriften individuelle Texte enthalten, weisen Teile der Senior-Sammlung den Charakter von geordneten Gruppen auf. Dennoch ist dabei noch weniger an das Vorhandensein eines geschriebenen Kanons, etwa des Saṃyuktāgama zu denken, als zunächst an Formen der schriftlichen Niederlegung der oralen Überlieferung zu verschiedenen praktischen oder rituellen Zwecken. Bemerkenswert ist auch das Fehlen von Standardisierung in Sprache, Schrift und Orthographie in diesen Fragmenten im Vergleich zu den späteren Fragmenten der Schøyen-Sammlung. Bemerkenswert ist ferner, daß sich unter den ältesten Fragmenten dieser Sammlung mit dem Bhadrakalpikasūtra auch ein reines Mahaāyaānasūtra findet.
Die Veröffentlichung und Erforschung all dieser neuen Dokumente aus der Zeit des noch in seinen Ursprungsgebieten lebendigen Buddhismus ist eine der wichtigstens Aufgaben der nächsten Zeit. Die frühen Gāndhārī-Fragmente sind jedenfalls ein erstes erhaltenes Zeugnis für den Übergang von einer oralen zur schriftlichen Überlieferung des Kanons, wie er in der Zeit der Kuṣāňa-Herrscher um Kaňiṣka (2. Jh. u.Z.) stattgefunden hat. ■
Weiterführende Literatur
M. Allon, R. Salomon, G. Jacobsen, U. Zoppi: Radiocarbon Dating of Kharoṣṭhī Fragments from the Schøyen and Senior Manuscripts Collecions. In: Jens Braarvig ed., Manuscripts in the Schøyen Collection:: Buddhist Manuscripts III. Oslo: Hermes Publishing 2006, 279-291
Jens Braarvig (ed.): Manuscripts in the Schøyen Collection: Buddhist Manuscripts I-III. Oslo: Hermes Publishing 2000, 2002, 2006
Oliver Freiberger / Christoph Kleine: Buddhismus. Handbuch und kritische Einführung. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2011
Richard Salomon: Ancient Buddhist Scrolls from Gandhāra: The British Library Kharoṣṭhī Fragments. Seattle: University of Washington Press & London: The British Library 1999
Richard Salomon: The Senior Manuscripts: Another Colllection of Gandhāran Buddhist Scrolls. Journal of the American Oriental Society 123, 2003, 73-92
Richard Salomon: Recent Discoveries of Early Buddhist Manuscripts and Their Implications for the History of Buddhist Texts and Canons. In: Patrick Olivelle (ed.), Between the Empires. Society in India 300 BCE to 400 CE. New York, Oxford University Press 2006, 349-381
Ernst Steinkellner: A Tale of Leaves. On Sanskrit Manuscripts in Tibet, their Past and their Future. Amsterdam: Royal Netherlands Academy of Arts and Sciences 2004
© Ernst Steinkellner | 24.10.2012
Ernst Steinkellner ist Professor emer. für Buddhismuskunde und Tibetologie an der Universität Wien. Von 1998 – 2006 war er Direktor des Instituts für Kultur- und Geistesgeschichte Asiens der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
Weiterführende Informationen
- Sensationelle Funde von Mahayana-Sutras aus dem 1. Jahrhundert – Jens-Uwe Hartmann