Anti-Dalai Lama-Proteste von Pro-Shugden-Gruppen
Ein Interview mit Robert Barnett
Robert Barnett
Zeitgenössische Tibet-Studien
Columbia University, New York
F: Seit den 1990er Jahren und verstärkt seit 2008 haben Shugden-Anhänger Proteste gegen den Dalai Lama organisiert. Können Sie den sogenannten „Dorje Shugden Konflikt“ in aller Kürze erklären? Einen „Geist“ anzubeten, ist für Westler schwer nachzuvollziehen …
Robert Barnett: Wie die meisten Religionen erkennt auch der tibetische Buddhismus die Existenz von zahlreichen lokalen Göttern oder Geistern an. Die meisten von ihnen werden als dumm und gefühlsbetont betrachtet, sie neigen zu Wut und Eifersucht. Einige aber sieht man als mächtige und bösartige Kräfte an, die den Menschen ernsthaft schaden können. Traditionell glauben tibetische Buddhisten, dass man solche Kräfte befrieden oder beschwichtigen muss, damit sie keinen Schaden anrichten. Bei lokalen Gottheiten geschieht dies durch Rituale, zum Beispiel durch das Darbringen von Weihrauch oder die symbolische Opferung von Speisen oder Getränken.
Von einer kleinen Zahl dieser machtvollen Geister glaubt man, dass sie Buddhisten nicht nur helfen, sondern dass sie sogar selbst Anhänger des Buddha geworden sind. Die mächtigsten von ihnen bezeichnet man als Beschützer oder Schutzgottheiten. Praktizierende rufen sie oft mit komplizierten Gebeten und Ritualen an und bitten sie, ihnen bei der Erreichung ihrer religiösen Ziele zu helfen.
Im aktuellen Streit geht es darum, ob man eine besonders grimmige Schutzgottheit namens „Shugden“ oder „Der Mächtige“ anbeten soll. Viele Lamas, die der Hauptschule oder Sekte des tibetischen Buddhismus, der Gelug-Tradition, angehören, pflegten ihre Anhänger aufzufordern, diese Gottheit anzurufen. Diese Praxis verbreitete sich unter den Gelugpa-Anhängern vor allem seit den 1940er Jahren. In den letzten vier Jahrzehnten jedoch hat der Dalai Lama vor der Anrufung dieses Geistes gewarnt, da dies zu Zwietracht [unter den Buddhisten] führe und sogar gefährlich sei. 1996 schließlich hat er seine Anhänger kategorisch aufgefordert, Shugden nicht mehr anzubeten. Eine Gruppe anderer Gelugpa-Lamas aber hält daran fest, dass es für ihre Anhänger wichtig sei, diese Gottheit um Schutz zu bitten. Sie geht sogar so weit zu unterstellen, dass Unglück sie ereilen könne, wenn dies nicht geschähe. So geht es im Grunde nicht um die Frage, ob dieser Geist bösartig, mächtig oder wirksam ist für den, der ihn anruft – es geht darum, ob es ungefährlich oder moralisch vertretbar ist, ihn anzurufen.
Hinter all dem steht letztlich ein größerer Streit um Sektierertum. In der Vergangenheit gehörten die Shugden-Förderer zu den Vertretern der herrschenden Gelugpa-Schicht. In einigen ihrer Texte wird ihre Schutzgottheit ausdrücklich aufgefordert, andere buddhistische Schulen und auch alle Mitglieder der Gelugpa-Schule, deren Ansicht von der ihren abweicht, zu verleumden oder zu vernichten. Die heutigen Shugden-Anhänger im Westen behaupten, dass der Schutz, den ihr Geist bietet, sich auf die Verteidigung der „Reinheit“ ihrer Version der Gelugpa-Lehre bezöge. Für sie bedeute dies lediglich, dass ihre Anhänger keine Unterweisungen von Lamas annehmen, die einer anderen Schule angehören. Es gibt jedoch viele Menschen, die befürchten, dass sich die aggressive Seite der Shugden-Praxis nicht geändert hat. Der Dalai Lama nimmt, obwohl er selbst der Gelugpa-Schule angehört, Unterweisungen von Lamas anderer Schulen an, arbeitet eng mit ihnen zusammen und fordert alle auf, jegliche Formen des tibetischen Buddhismus zu respektieren. Er und seine Anhänger erklären, dass sie die Shugden-Praxis zum Teil auch wegen ihrer Verbindung zum Sektierertum ablehnen.
Diese Spannungen über Sektierertum spiegeln eine tiefgehende Spaltung über die künftige Ausrichtung der Tibeter im Allgemeinen wider. Die Nicht-Sektierer sind einer Vision verpflichtet, in der die Tibeter mit dem Dalai Lama im Zentrum als einheitliche Gemeinschaft oder Nation stehen. Die aktiveren Shugden-Lamas andererseits streben die Schaffung autonomer, von Lamas geführter Zentren oder Organisationen auf der ganzen Welt an, die ihre Anhänger unterstützen und ihre Version der tibetischen religiösen Lehren fördern sollen. Diese beiden Sichtweisen, wie die Tibeter in der modernen Welt am besten überleben können – durch den Wiederaufbau einer einzigen Nation im Exil oder die Errichtung separater Institutionen, geführt von einzelnen Lamas – sind zu einem offenen Konflikt ausgebrochen. Vielleicht auch deshalb, weil nach 55 Jahren des Exils und angesichts des Alters des Dalai Lama, der Einsatz für die tibetische Gemeinschaft so hoch ist.
In den letzten Jahren ist dieser Streit noch komplexer geworden, da jetzt einige Pro-Shugden-Lamas behaupten, dass Shugden nicht nur eine Schutzgottheit, sondern auch ein voll erleuchteter Buddha sei. Sie haben ihn also, christlich ausgedrückt, von einem lokalen Geistwesen auf die Stufe der Gottheit selbst erhoben, was zwangsläufig bedeutet, dass er keinerlei Schaden verursachen wird. Ich bin nicht sicher, wie weit dieser Glaube unter den tibetischen Shugden-Anhängern verbreitet ist, aber unter den westlichen Anhängern wird dies jetzt überall propagiert. Möglicherweise wissen sie gar nicht, dass dieses Wesen von anderen als eine Art umstrittener lokaler Geist gesehen wird, und sie werden wahrscheinlich jede Kritik an ihm als Angriff auf den buddhistischen Glauben selbst sehen. Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie die Art des Streits sich im Laufe der Zeit verändert, wenn neue Strategien und Argumente ins Spiel gebracht werden, die den Einsatz jedes Mal erhöhen und eine Lösung immer schwieriger machen.
F: Ist die Shugden-Frage ein rein religiöses Problem oder hat sie auch politische Aspekte?
Robert Barnett: Der Grund, dass dieser Streit so heftig und polarisierend geworden ist, liegt darin, dass er verschiedene ganz unterschiedliche Themen berührt, die den Kern der tibetischen Identität treffen. Vordergründig gesehen ist das Thema für die gewöhnlichen Tibeter, die Shugden anrufen, eine religiös und persönliche Angelegenheit – ihr Lama sagt ihnen, welche Schutzgottheit sie anrufen sollen, ob die Anrufung dieser Gottheit ihr Leben oder das Leben ihrer Familie verbessern wird oder nicht, und ob es Ärger mit den Anhängern anderer Lamas geben wird. Die Zahl dieser Personen muss deutlich geringer angesetzt werden, als die Demonstranten behaupten (sie sprechen von vier Millionen, aber der Beweis dafür fehlt), aber für all jene, die unmittelbar davon betroffen waren, muss der Streit sehr schwierig und schmerzhaft gewesen sein. Das Schicksal dieser Menschen jedoch, so wichtig es auch sein mag, scheint nicht immer im Fokus der gegenwärtigen Proteste zu stehen.
Dies wird deutlich, wenn wir die Parolen und Forderungen der Shugden-Demonstranten anschauen. Wenn die Anführer der Proteste sich an die Medien oder ihre allgemeine Anhängerschaft wenden, äußern sie ihrer Sorge, ob tibetische Shugden-Anhänger wegen ihres Glaubens verfolgt werden und setzen das in Bezug zu den Menschenrechten. Dies zu thematisieren ist ein berechtigtes Anliegen, da es Berichte über schwere Spannungen in der tibetischen Gemeinschaft in dieser Frage gegeben hat. Die Darstellungen beider Seiten neigen zu Übertreibungen oder sind vage, so dass, da unabhängige Recherchen fehlen, die Einzelheiten schwer überprüfbar sind. Aber die Frage als solche verdient eine durchdachte Antwort.
Allerdings haben die gravierendsten Slogans, die die Demonstranten skandieren, weder mit Diskriminierung oder den Menschenrechten zu tun, noch mit der Art des Shugden-Geistes: Sie sind ein Angriff auf das Ansehen und die Legitimität des gegenwärtigen Dalai Lama. Es sind Parolen wie „falscher Dalai Lama“ und „Der Dalai Lama ist der schlimmste Diktator der modernen Welt“. Der Großteil der mindestens zweihundert Seiten umfassenden Propagandaliteratur der Shugden-Demonstranten ist eine langatmige, schwer verständliche Behauptung, dass der gegenwärtige Dalai Lama vor 75 Jahren durch Betrug ausgewählt worden und nicht der rechtmäßige Halter dieses Amtes sei. Solche Parolen scheinen Teil der Bemühung zu sein, das Ansehen des Dalai Lama zu untergraben und ihm seine Autorität streitig zu machen. Solche Behauptungen haben, wenn überhaupt, nur wenig mit der Besorgnis zu tun, mögliche Fälle von Diskriminierung in der gegenwärtigen tibetischen Gemeinschaft abzustellen.
Dies erklärt, warum die tibetischen Loyalisten in ihren Antworten auf die Shugden-Proteste so zurückhaltend sind; sie reagieren in erster Linie auf die Angriffe auf ihren Führer, den Dalai Lama, und damit auf ihre Bemühungen, eine Exilgemeinde aufzubauen. Und in der Tat besteht der größte Teil der Kampagnenliteratur der Shugden-Demonstranten aus derartigen Angriffen. Und das setzt ein Fragezeichen hinter die Shugden-Kampagne, denn wenn es die Absicht der Demonstranten ist, die Behandlung ihrer Glaubensgenossen im Exil zu verbessern, so scheint dies der am wenigsten aussichtsreiche Weg zu sein, dieses Ziel zu erreichen. Die Frage der Menschenrechte ist dabei auf der Strecke geblieben und viel schwieriger geworden, weil die Demonstranten sie in einen polemischen Angriff eingebettet haben, der auf den Kern der Werte des überwiegenden Teils der tibetischen Exilgemeinschaft abzielt.
Aus soziologischer Sicht ist die aktuelle Shugden-Bewegung relativ simpel: sie spiegelt das Bestreben einiger engagierter Shugden-Lamas wider, ihre eigenen Institutionen aufzubauen mit eigenen Anhängern, eigenen Einkommensquellen und eigener Zuständigkeit. Das ist normal in der tibetischen Gesellschaft und passiert immer wieder, in der Regel ohne Probleme; es gibt Dutzende von Lamas in der ganzen Welt, die das ohne Schwierigkeiten getan haben. Der Lama, der mit den aktuellen Protesten in Verbindung gebracht wird, bildet insofern eine Ausnahme (auch wenn er sagt, er spiele dabei keine direkte Rolle) als er nicht nur eine neue Institution aufbaut, sondern auch eine neue Schule des tibetischen Buddhismus. Aber selbst dies ist nicht besonders provokant, da die verschiedenen Schulen sich gegenseitig ignorieren können und dies oft auch tun. In diesem Fall aber scheint das Hauptaugenmerk der Anhänger der neuen Schule darauf zu liegen, die Stellung der etablierten Schulen anzugreifen. Und das ist in der heutigen Welt eher ungewöhnlich.
F: Die Demonstranten beschuldigen den Dalai Lama u.a. , ein „falscher Dalai Lama“, ein „Safran-gekleideter Muslim“, zu sein, der „fälschlicherweise von Reting Rinpoche anerkannt“ wurde. Er habe die Selbstverbrennungen in Tibet angeordnet und zusammen mit seinem Bruder Gyalo Thondup geplant , den König von Bhutan zu ermorden. Gibt es ein Körnchen Wahrheit in diesen Anschuldigungen?
Robert Barnett: Dieser Aspekt der Shugden-Kampagne zielt darauf ab zu zeigen, dass bei der Auswahl des aktuellen Dalai Lama in den 1930er Jahren Betrug im Spiel war. Dieses Argument ist typisch für die westliche Shugden-Bewegung und einige ihrer Verbündeten. Es wird nicht von allen Shugden-Praktizierenden geteilt und ist nicht Teil der Shugden-Verehrung oder ihrer Liturgie. Es ist nicht klar, woher es kam, oder warum es in die aktuelle Debatte eingeführt wurde. Für manche anderen Shugden-Lamas und gewöhnliche Praktizierende könnte es sehr wohl sonderbar oder gar beunruhigend sein.
Die Aktivisten sagen, dass ihre Beweise für diese Anschuldigungen aus einem handschriftlichen tibetischen Dokument stammen, in dem von einem geheimen politischen Komplott in Lhasa in jener Zeit die Rede ist. Das Manuskript ist anonym, undatiert, unveröffentlicht und war bisher nicht bekannt. Es enthält ein paar bekannte Fakten neben vielen anderen, die nicht verifizierbar sind, und führt mikroskopisch kleine Begebenheiten an, die nicht belegt werden können, und schreibt diesen vorrangige faktische Bedeutung zu. Zum Beispiel wird etwas, das der vierjährige Dalai Lama eines Tages bei einer privaten Begegnung einem Lama, der zu Besuch kam, gesagt hat, als Beweis dafür angeführt, dass das Kind nicht die Reinkarnation des vorherigen Dalai Lama sei. So wird behauptet, der gegenwärtige Dalai Lama habe als Kind manchmal die Beherrschung verloren. Diese Behauptung beruht auf übernatürlichen Vorstellungen von Reinkarnation, Prophezeiungen und magischen Fähigkeiten. Wir können sie weder als falsch noch als wahr ansehen – sie sind Glaubenssache.
Darüber hinaus hat die Shugden-Kampagne Hunderte von Seiten mit weiteren Vorwürfen gegen den Dalai Lama veröffentlicht (siehe „Der Falsche Dalai Lama“). Einige von ihnen sind einfach falsche Darstellungen: Die Tatsache, dass es muslimische Familien in dem Dorf gab, in dem der Dalai Lama geboren wurde, wird als Beweis dafür herangezogen, dass seine Familie angeblich eine Muslim-Familie war. Aber natürlich gab es auch buddhistische Familien in jenem Dorf. Und selbst wenn er und seine Familie Muslime wären, so hätte dies keinerlei Bedeutung für die Richtigkeit seiner Auswahl gehabt: tibetische Buddhisten haben Menschen mit unzähligen ethnischen und kulturellen Hintergründen als Reinkarnationen vergangener Lamas anerkannt.
Die anderen Anschuldigungen stammen aus Publikationen von polemischen Kritikern des Dalai Lama, die schon seit Jahrzehnten in Umlauf sind. Sie listen eine große Anzahl belangloser Ereignisse auf (z.B. Gelegenheiten, bei denen politische oder religiöse Extremisten es geschafft haben, den Dalai Lama zu treffen) oder stellen Behauptungen auf, die nicht überprüft werden können (wie zum Beispiel, dass der Dalai Lama an den politischen Aktivitäten seines Bruders beteiligt war). Diese werden dann zusammengefügt, so dass sie ein gewisses Muster bilden. Diese Art der Beweisführung arbeitet so, dass sie für jeden Vorfall eine negative Auslegung findet und jede mögliche positive Interpretation oder wohlwollende Ereignisse auslässt, die zugunsten des Dalai Lama sprechen.
In der Tat haben zahlreiche Wissenschaftler und politische Kommentatoren Kritik am Dalai Lama geübt, allerdings beruhte diese auf sachlichen Argumenten gegen bestimmte Entscheidungen, die getroffen wurden. Hierbei wurden in der Regel polemische Behauptungen vermieden und auch keine großen Verschwörungstheorien unterstellt. Die Shugden-Demonstranten neigen eher dazu, ihre Kritik in Form von Hetze oder Polemik anzubringen statt sachlich. Dies könnte ein Grund dafür sein, warum ihre Behauptungen von vielen in der Exilgemeinde als Provokation angesehen werden.
F: Eine weitere Behauptung der Shugden-Demonstranten ist, der Dalai Lama versuche, sich zum Oberhaupt aller Traditionen des tibetischen Buddhismus zu machen. Trifft diese Behauptung zu?
Robert Barnett: Der gegenwärtige Dalai Lama wird von den westlichen Medien oft fälschlicherweise als das Oberhaupt des tibetischen Buddhismus dargestellt. Diese Verwirrung rührt teilweise aus seiner Rolle als politischer oder symbolischer Führer des tibetischen Volkes, teils aber auch aufgrund seiner Stellung als der bekannteste und angesehenste Lama unter den Tibetern, infolgedessen er als das „geistliche Oberhaupt des tibetischen Volkes“ bezeichnet wird. Diese Rollen und Titel bedeuten aber nicht, dass er das Oberhaupt des tibetischen Buddhismus ist, und er hat – mit Ausnahme seiner eigenen – keine Autorität über andere Traditionen oder Schulen des tibetischen Buddhismus.
Die Situation wurde dadurch etwas komplizierter, dass 1962 die Oberhäupter der verschiedenen tibetisch-buddhistischen Schulen im Exil zusammenkamen und sich darauf verständigten, den Dalai Lama auf der internationalen Bühne als ihren Repräsentanten fungieren zu lassen. Dies war Teil des damaligen Bemühens der Exilgemeinschaft, angesichts der schwierigen Umstände, in der sie sich befand, alle sektiererischen Bestrebungen beizulegen. Nicht alle Lamas waren damit einverstanden und diese damalige Aktion war nur teilweise erfolgreich. Aber gegen Ende der 1980er Jahre wurde unter den Exiltibetern in dieser Frage ein breiter Konsens erreicht.
Es gab Fälle, wo Lamas anderer Schulen den Dalai Lama bei der Beilegung von Streitigkeiten um Rat gebeten haben, eine Rolle, die er und die tibetische Regierung auch in der Vergangenheit schon gespielt haben. Manchmal haben diese Lamas – der verstorbene Shamar und der gegenwärtige Drukpa Lama sind zwei aktuelle Beispiele – es bedauert, seine Mitwirkung gesucht zu haben, und ihn für seine Vorschläge kritisiert. Es sind solche Fälle, die von seinen Kritikern als Beispiel dafür angeführt werden, dass er nach der Macht greift. Doch seine Mitwirkung in solchen Fällen scheint eine Frage gegenseitigen Einvernehmens gewesen zu sein.
Die Shugden-Aktivisten beschuldigen den gegenwärtigen Dalai Lama auch, er versuche, die Unterschiede zwischen den verschiedenen Schulen und Traditionen des tibetischen Buddhismus aufzulösen. Dies sei Teil des Versuchs, das zu zerstören, was sie die Reinheit der Lehre nennen. Der einzige Beweis, den ich dafür finden kann, ist die Tatsache, dass er Unterweisungen aus verschiedenen Traditionen annimmt, so wie es auch seine Vorgänger taten. Heute arbeiten die verschiedenen buddhistischen Schulen fast völlig unabhängig voneinander und größtenteils freundschaftlich, so dass es schwer ist, einen Beleg für eine solche Behauptung zu finden.
F: Die Demonstranten behaupten: „Wie ein Diktator hat der gegenwärtige falsche Dalai Lama die vollständige Kontrolle sowohl über das religiöse als auch über das weltliche Leben in der tibetischen Exilgemeinschaft.“ Wieviel Autorität und Macht hat der Dalai Lama in der Tibetischen Zentralverwaltung (Central Tibetan Administration/CTA, im Exil), in den Klöstern und unter den Tibetern? Hat sich sein Einfluss während seiner Lebzeit verändert?
Robert Barnett: Der Dalai Lama hat aufgrund seines immensen Ansehens eine große Macht innerhalb der tibetischen Gemeinschaft, aber er übt selten direkt Autorität aus. Mit anderen Worten, er hat großen Einfluss und das Potential, das Geschehen zu gestalten, wie er es auch getan hat, um Mittel für die Exilgemeinde zu beschaffen, ihre generelle politische Ausrichtung zu gestalten und, in den frühen Jahren, um die Regierungsbeamten zu ernennen. Das gehört zu den normalen Aufgaben, die ein Führer einer Gemeinschaft hat, und es wäre ein Versäumnis, wenn er es nicht täte. Er hat seinen Einfluss genutzt, um Institutionen ins Leben zu rufen, um die tibetische Kultur im Exil zu bewahren und die Exilgemeinde zu erhalten; seit den frühen 1970er Jahre versucht er, sie zu überzeugen, auf Gewalt zu verzichten, und später sogar, die Unabhängigkeit aufzugeben. In all diesen Aufrufen hatte er nur teilweise Erfolg, und keinen von ihnen könnte man als Versuch bezeichnen, die vollständige Kontrolle zu erlangen. Zum Beispiel gibt es keine Sanktionen gegen Tibeter, die die Exilgemeinschaft verlassen, und viele Tibeter unterstützen immer noch das Streben nach Unabhängigkeit.
Im Laufe der Zeit schränkte er seine Rolle als Führer kontinuierlich ein, so dass Entscheidungen immer öfter von Exilbeamten gefällt wurden. Einige von ihnen sind gewählt. Selbst in der Zeit davor werden wir wenige oder gar keine Fälle finden, in denen er seine Autorität direkt benutzt hat, um gegen eine Einzelperson oder eine bestimmte Gruppe vorzugehen. Diese Art von Macht scheint er nicht ausgeübt zu haben. Seine Erklärung zur Shugden-Frage im Jahr 1996 ist das einzige Beispiel, von dem ich weiß, wo ihm eine Sache so wichtig war, dass er seinen Anhängern eine direkte ausdrückliche Anweisung zu ihrer persönlichen Praxis gab, in diesem Fall zu den Voraussetzungen für all jene, die an seinen Einweihungen teilnehmen.
Die Kritik am Missbrauch der Macht des Dalai Lama bezieht sich in der Regel nicht auf ihn, sondern auf diejenigen seiner eher konservativen Anhänger, die seinen Namen benutzen, um das Ansehen ihrer Kritiker zu untergraben. Es hat zahlreiche Fälle gegeben, in denen Tibeter, die den Dalai Lama in dem einen oder anderen Punkt widersprachen, von der Exilführung oder prominenten Mitgliedern der Exilgesellschaft allein wegen ihrer abweichenden Ansichten beschuldigt wurden, persönlich den Dalai Lama angegriffen zu haben (auch die Shugden-Demonstranten haben dies erlebt, aber sie greifen tatsächlich den Ruf des Dalai Lama an). In einer stark religiös geprägten Gesellschaft ist dies eine sehr schwere Anschuldigung. Sie hat die Debatte erstickt und zu viel Unmut geführt. Dies bleibt ein Problem in der Exilgemeinde.
F: 2011 hat der Dalai Lama seine politischen Funktionen abgelegt. Bedeutet dies, dass er heute keinerlei politischen Einfluss mehr hat?
Robert Barnett: Als der Dalai Lama 2011 in den Ruhestand ging, hat er viel mehr getan, als sich von seinen politischen Ämtern zurückzuziehen – er hat auch das Exilparlament bewogen, die Verfassung zu ändern, so dass kein zukünftiger Dalai Lama oder irgendein anderer religiöser Führer die politische Macht ausüben oder kraft seines Amtes eine Rolle in der Regierung spielen kann. Das kam völlig unerwartet. So hat er zumindest formal nach der Verfassung die Exilregierung säkularisiert und weitgehend demokratisch gemacht. Aber natürlich bleibt sein persönlicher Einfluss immens. Aufgrund seiner historischen und religiösen Stellung ist er immer noch das symbolische Oberhaupt der Tibeter, auch wenn er formell kein Amt bekleidet. Die Minister werden ihn weiterhin konsultieren, und viele Tibeter werden seinen Rat erbitten. Bei der Debatte, ob die Tibeter das Streben nach Unabhängigkeit aufgeben sollen, sehen wir, dass sein Einfluss keineswegs absolut ist. Aber er bleibt mit Abstand der berühmteste und einflussreichste aller tibetischen Lamas und die einzige Persönlichkeit, die imstande ist, das tibetische Volk zu einigen und die Unterstützung der gesamten Gemeinschaft zu mobilisieren.
F: Es herrschen unterschiedliche Auffassungen darüber, ob es in der tibetischen Exilgemeinschaft einen „Bann“ der Dorje-Shugden-Praxis gibt. Können wir wirklich von einem Bann sprechen, so wie wir den Begriff verstehen und im westlichen Kontext verwenden würden?
Robert Barnett: Es hängt davon ab, wie der Begriff definiert wird. Der Dalai Lama hat 1996 bekannt gegeben, dass unter denjenigen, die von ihm Einweihungen und ermächtigende Belehrungen annehmen – mit anderen Worten, seinen unmittelbaren religiösen Anhängern – keine Shugden-Praktizierende sein sollen. So gesehen ist das ein Bann, aber er hat eine relativ präzise Anwendung, da er nur für diejenigen gilt, die freiwillig wählen, an einer bestimmten Belehrung oder Zeremonie durch den Dalai Lama teilzunehmen. Solche Beschränkung ist nicht eine Frage von Menschenrechten oder Diskriminierung, da Religionszugehörigkeit und Verpflichtung unmittelbar mit diesem Ereignis zusammenhängen. Es ist aber auch kein Bann im Sinne eines universellen Verbots, das die Shugden-Praktizierenden überall beträfe. Solche Regeln und Einschränkungen sind in religiösen Institutionen üblich, und zweifelsohne gibt es auch vergleichbare Beschränkungen bei den Shugden-Praktizierenden auf einer bestimmten Stufe.
Die Exil-Klöster in Indien, die auf öffentlichen Aushängen Shugden-Praktizierende ablehnen, scheinen in einer ähnlichen Situation zu sein: ihre Regeln definieren die Zugehörigkeit zu der Institution in einem engen Rahmen, weil es deren Funktionieren unmittelbar betrifft, und man kann selbst entscheiden, ob man Mitglied dieses oder lieber eines anderen Klosters werden will. Anders liegt der Fall, wenn ein Laden einen diskriminierenden Hinweis aufstellt: Einen Laden betrittst du freiwillig, aber deine religiösen Ansichten spielen für das Funktionieren des Geschäfts keine Rolle. Das wäre also eine Diskriminierung. Dafür gibt es keine Rechtfertigung, und es ist zu hoffen, dass die Exilführung vermehrt die Menschen aufklärt, so etwas zu unterlassen.
Die Situation ist auch kritisch, wenn es um die Mitgliedschaft in der tibetischen Gemeinschaft oder der Exilverwaltung geht, denn die Mitgliedschaft ist nicht völlig freiwillig, und die eigene religiöse Praxis hat keinen unmittelbaren Bezug zu einer Tätigkeit dort. Das gilt ebenfalls für gesellschaftliche Gruppierungen der Tibeter. Wenn dort konfessionell begründete Ausgrenzungen stattfinden, läuft das vermutlich auf eine Verletzung des Rechtes hinaus. Im Falle der Exilregierung ist die Beweislage nicht klar: Es gibt widersprüchliche Aussagen darüber, ob es in der Exilverwaltung Beschränkungen für Shugden-Praktizierende gibt. Hier besteht also Bedarf für weitere Recherchen.
F: Es scheint seitens der CTA eine gewisse Dämonisierung der Shugden-Praktizierenden zu geben. In einer CTA-Erklärung vom März 2014 werden sie als „Verbrecher der Geschichte“ bezeichnet.
Robert Barnett: Diese Erklärung wurde von der Exilversammlung bzw. vom Exilparlament gemacht, nicht von der CTA. Sie lässt nicht auf eine durchdachte Antwort schließen, die dazu dient, die Heftigkeit des Konflikts abzumildern. Aber die CTA ist sogar noch weiter gegangen als das Parlament: Sie hat auf ihrer Website eine Liste mit den Namen von ausgewählten Shugden-Praktizierenden veröffentlicht, zusammen mit deren Fotos und weiteren Identifizierungsmerkmalen. Dies ist eine Form öffentlicher Anprangerung, und birgt das Risiko weiterer Entrüstung und Schikanen. Wenn diese Leute ein Verbrechen begangen haben oder dabei sind, ein solches zu begehen, wie einige Exilführer behauptet haben, dann ist es Sache der indischen Polizei, die Namen der Verdächtigen zu veröffentlichen, nicht Sache von Politikern oder Exilregierungen. Diese Art des Vorgehens scheint im Widerspruch zu den demokratischen Prinzipien zu stehen und verhindert faire und offene Debatten.
Es ist natürlich verständlich, dass viele Exiltibeter über den Shugden-Protesten verärgert sind – wenn man die Parolen der Demonstranten betrachtet, so ist klar, dass sie das Ziel haben, die Mehrheit der Tibeter zu provozieren. Aber als Verantwortliche muss die Exilführung die Menschenrechtsvorwürfe von den politischen Forderungen trennen und erstere mit Ruhe und Maß angehen. Dies würde ihre eigene Position als verantwortungsvolle Führer und Verfechter der Demokratie stärken. Sie müssen jeder Anschuldigung sachlich und leidenschaftslos nachgehen, alle Formen von Diskriminierung innerhalb ihrer Gemeinschaft ächten, den Gruppen in der tibetischen Gemeinschaft nahelegen, Ausschlussklauseln aus ihren Statuten zu entfernen und die breite Öffentlichkeit über die Bedeutung von Toleranz gegenüber Minderheiten aufklären. Das wird angesichts der Bitterkeit und der Provokationen, denen sie gegenüberstehen, nicht einfach sein, aber es ist sicher die beste Lösung in dieser Frage.
F: Im Westen neigen die Tibet-Unterstützer dazu, den Demonstranten zu unterstellen, von China finanziert zu sein. Spielt China eine Rolle in dieser Kontroverse, innerhalb als auch außerhalb Tibets?
Robert Barnett: Die Rolle der chinesischen Regierung bei der Förderung der Shugden-Verehrung in Tibet ist beträchtlich, und ihre Politik in diesem Bereich wird von einigen als Anfachung des religiösen Konflikts in Tibet angesehen. In einigen Regionen ist jetzt illegal, über Shugden zu diskutieren oder das Thema überhaupt anzusprechen, und es ist mit Sicherheit gefährlich, die Position des Dalai Lama zu unterstützen. Einige der Mönche, die diese Position vertreten haben, sind verhaftet worden. Konflikte sind in der Gesellschaft bereits erkennbar, und es wird berichtet, dass in diesem Jahr [2014, Anm. d. Übers.] mindestens eine Person in Tibet im Streit über das Shugden-Thema getötet worden ist. Die Position der chinesischen Regierung zur Shugden-Frage spiegelt genau die der westlichen Demonstranten wider, und hochrangige Politiker aus der chinesischen Führung haben häufig Erklärungen abgegeben, in denen sie den Dalai Lama wegen dieses Themas angreifen. Einige tibetische Shugden-Praktizierende und Shugden-Gruppen im Exil sind aufgeschlossen, was eine enge Zusammenarbeit mit den chinesischen Behörden in dieser Frage betrifft, und einige dieser Exiltibeter haben schon Anti-Dalai Lama Artikel in offiziellen chinesischen Publikationen veröffentlicht, was ihr gutes Recht ist.
Es gibt jedoch keinen eindeutigen Nachweis für konkrete Verbindungen zwischen der chinesischen Regierung und den westlichen Shugden-Demonstranten. Und es gibt keinen Beweis dafür, dass die chinesische Regierung die westlichen Demonstranten finanziert. Diese Demonstranten gehören meist zu einer religiösen Organisation mit einer ungewöhnlich effektiven Methode der Rekrutierung: Jeder, der eine bestimmte, relativ niedrige Stufe erreicht hat, wird aufgefordert, ein eigenes, separates Zentrum zu gründen, um seinerseits wiederum weitere Anhänger zu rekrutieren. Dieses Modell, das unter den tibetisch-buddhistischen Bewegungen eher selten ist, produziert eine große Zahl von Anhängern, was wiederum auch potentiellen Zugang zu Finanzquellen ermöglicht. So muss man nicht zwangsweise folgern, dass die westlichen Demonstranten Finanzunterstützung aus anderen Quellen benötigen. Es ist auch nicht unbedingt von Bedeutung. Die unmittelbare Frage ist, ob irgendeine der von den Demonstranten aufgeworfene Frage von Menschenrechtsverletzungen berechtigt ist, und, wenn ja, was zu tun ist, um sie zu aufzulösen. Aber das wird angesichts der Entscheidung der Protestierenden, diese Fragen mit einer politischen, einseitigen Kampagne gegen das Ansehen des Dalai Lama zu vermischen, wahrscheinlich nicht passieren. ■