Der Mythos von Shangri-la
Tsering Shakya
Asiatische Forschungen
Universität von Columbia (Großbritannien)
Es ist schon ein Paradox, daß Tibet zwar überwältigendes Mitgefühl und Beweise tiefer Besorgnis von Einzelpersonen entgegengebracht wird, der politische Kampf Tibets jedoch weiterhin an den Rand der internationalen politischen Tagesordnung verdrängt bleibt. Die meisten Menschen im Westen unterstützen die Sache Tibets, und in den meisten westlichen Ländern haben Tibetinitiativen über die letzten Jahre eine wahre Blütezeit erlebt. Westliche Regierungen werden wegen ihrer Tatenlosigkeit von einer Flut von Protestschreiben überschwemmt; westliche Medien berichten ausführlich über die Probleme Tibets, und zahllose Leitartikel sind schon aus Solidarität mit Tibet geschrieben worden. Dennoch hat bisher keine einzige Regierung oder Institution die politischen Probleme Tibets ernst genommen.
Wie kommt es, daß individuelle Solidarität mit der Sache Tibets sich bisher nicht in einer Unterstützung durch Regierungen oder Institutionen manifestierte? Mir ist keine einzige Gewerkschaftsresolution zur Unterstützung Tibets bekannt. Studentenvertretungen verabschieden im allgemeinen unzählige Resolutionen zur Unterstützung aller möglichen politischen Ziele, aber keine einzige Studentenvertretung hat bisher eine Resolution zur Situation in Tibet verabschiedet. Wie ist es möglich, daß keine politische Partei von Bedeutung es bisher gewagt hat, auch nur eine einzige Resolution über Tibet zu verabschieden?
Auf einer Ebene scheint die Antwort ganz leicht zu sein; politische Entscheidungen von Regierungen werden von real politischen Erwägungen diktiert. Westliche Regierungen haben sich schon immer verpflichtet gefühlt, China aus politischen und wirtschaftlichen Gründen Zugeständnisse zu machen. Aus einer Unterstützung Tibets läßt sich kein Gewinn erzielen, wogegen China entweder als ein de facto Alliierter der westlichen Militärmacht, oder als ein potentieller Markt für westliche Konsumgüter gesehen wird.
Obwohl es richtig ist, daß die Politik westlicher Regierungen in bezug auf Tibet von Realpolitik geprägt wird, ist es meiner Meinung nach dennoch nötig, daß wir uns auf einer anderen Ebene mit westlichen Vorstellungen von Tibet und - was noch wichtiger wäre - Interpretationen des politischen Kampfes Tibets beschäftigen. Westliche Auffassungen von Tibet sowie die zahllosen Bilder, die Tibet anhaften, haben sich als eine Behinderung seines politischen Kampfes erwiesen. Durch eine ständige Mythologisierung Tibets wurden die Realitäten verschleiert und durcheinander gebracht. Die ausführliche Berichterstattung über Tibet in den Medien und in der Öffentlichkeit hat es unabdingbar gemacht, daß wir verstehen, auf welche Weise die Diskussionen über Tibet geführt werden und welches Image dabei entsteht. Meiner Meinung nach könnte dies eine Antwort auf die Frage ermöglichen, warum sich die Solidarität der Öffentlichkeit bisher nicht in politischem Handeln manifestiert hat. Tibet ist für den Westen von großem Nutzen als ein Land, daß es immer neu zu entdecken gilt. Seit Jahrzehnten wird es von Reisenden, Forschern, Missionaren, Soldaten, Gelehrten und Kolonialoffizieren enthüllt und entschleiert. Tibet ist zu einer Quelle von Abenteuer und Geheimnis geworden in einer Welt, in der es wenig Zauberhaftes und Geheimnisvolles gibt.
Die Vorstellung von Tibet als einer über das Alltägliche hinausreichenden Erfahrung ist in der Geschichte westlicher Beziehungen mit Tibet tief verwurzelt. Jedes Zeitalter verleiht dieser Auffassung eine neue Dimension. In der Zeit imperialistischer Weltpolitik war Tibet das letzte noch nicht eroberte oder in seiner Umwelt zerstörte Land. Während der Westen ein Loblied auf die Vorteile des Freihandels sang, hielt Tibet mit Hartnäckigkeit am Protektionismus fest. Tibet übte eine tiefe Faszination aus als das letzte mystische Land der Erde und stellte für westliche Fantasien die letzte Herausforderung dar. Tibet erfüllte die spirituellen Sehnsüchte der Welt. Es war abgeschlossen: nur den Allertapfersten gelang es, sich in das verbotene Land vorzuwagen.
Ein westliches Fantasie-Tibet
Während der Wirtschaftskrise der 30er Jahre gelang es James Hilton mit seinem Roman Lost Horizon (der deutsche Titel ist bezeichnend: »Irgendwo in Tibet«), die Phantasie der Öffentlichkeit zu beflügeln. Shangri-la wurde gleichbedeutend mit Tibet, und in diesem, von Hilton erfundenen Königreich fand es seine endgültige Verkörperung als ein mythisches Reich.
Als China 1950 in Tibet einmarschierte, war das westliche Bild von Tibet auf das Imaginäre Reich von Shangri-la fixiert Es schien, als würde die Realpolitik des Kalten Krieges diesen Mythos bald zerstören. Aber dem war nicht so: der Mythos erwies sich gegen die Wirklichkeit gefeit. Die Massenflucht aus Tibet und die Zerstörung des Landes wurden zu Bestandteilen dieses Mythos. Für den Westen war es das letzte Kapitel im Buch der Offenbarung über Tibet. Der Okzident war sofort bereit, die Prophezeiung des Guru Rimpoche (Padmasambhava) zu erkennen, die lautet: Wenn der eiserne Vogel fliegt, wird der Dharma in den Westen kommen. In den 60er Jahren, dem Zeitalter von »love and peace«, war die Tragödie Tibets ein Segen für den Westen: endlich war für westliche Menschen der Schleier über den heiligen Lehren Tibets gelüftet. Hunderte von tibetisch-buddhistischen Zentren entstanden und florierten an unwahrscheinlichen Orten. Aufgeweckte junge Männer und Frauen strömten in diese Zentren und fanden dort Trost und Zuflucht vor einer teilnahmslosen Welt. Es bestand keine Notwendigkeit, das heilige Land vor den Verheerungen eines totalitären Staates zu retten. Schließlich war es jetzt möglich, auf die allwissenden Lamas zwischen den Wolkenkratzern von Manhattan, unter den geschäftigen Menschenmengen in der Oxford Street und auf den eleganten Boulevards von Paris zu treffen. Man konnte jetzt selbst zu Füßen eines Gurus sitzen und den über Jahrtausende gesammelten Weisheiten Tibets lauschen.
Während der Wahnsinn der Großen Proletarischen Kulturrevolution die tibetische Kultur auslöschte, wurde im Westen die Vorstellung des verlorenen Tibets und seiner nur wenigen Auserwählten zugänglichen Offenbarungen zu einer starken geistigen Kraft. Während China begann, Mani-Mauern zu zerstören und »OM« von den Steinen Tibets zu entfernen, tauchte dieses »OM« als Mantra des Bürgertums auf und wucherte als Graffiti auf den halbverfallenen Mauern der Großstädte.
Tibet war nicht vergessen, aber es bestand einfach kein Bedürfnis nach dem wirklichen Tibet. In den Phantasien des Westens erfuhr es eine Wiedererschaffung und Umgestaltung, die durchsetzt war von psychedelischen Erfahrungen. Das Leiden der tibetischen Menschen in den Arbeitslagern wurde daher einfach bedeutungslos, denn Tibet wurde im Westen neu geboren. Tibetische Gefangene wurden zu bloßen biologischen Wesen, deren Karma sie dazu bestimmte, das verheerende Wüten eines totalitären Regimes zu erdulden.
In den Augen der Linken wurde Tibet zu einem sozialistischen Paradies, und die Handlungen der Chinesen waren lediglich die zwangsläufige geschichtliche Entwicklung hin zur neuen, modernen Zeit. Der Kommunismus war die Rettung Tibets vor feudalistischem Aberglauben, die tibetische Frage wurde reduziert auf ein Problem von Moderne gegenüber Tradition. Tibet wurde zu einem Symbol für ein rückständiges Volk, das sich der Geschichte widersetzte und nicht wußte, was gut für es war. Für Menschen mit einer höheren Intelligenz war es eine Pflicht,, im Namen dieses Volkes zu sprechen.
Der Einmarsch der chinesischen Volksarmee auf den Tiananmen-Platz zerstörte dann endgültig alle Illusionen vom Kommunismus.
Tibet als Wirtschaftsfaktor
Im Zeitalter von Thatcher und Reagan ist Tibet kein heiliges Land mehr, sondern ein potentieller Markt, und der westliche Kapitalismus hat dort einen fruchtbaren Boden gefunden. Die Symbole des westlichen Kapitalismus, Coca-Cola und Holiday Inn, haben sich bis in die heilige Stadt Lhasa verbreitet. Das muß doch wohl der Triumph des Kapitalismus sein! Als Zeichen seines Sieges wurden Coca-Cola-Fahnen, jene unvergänglichen Ikonen des Kapitalismus, über der einst verbotenen Stadt Lhasa gehißt, und zur gleichen Zeit erschoß die chinesische Polizei einen Jungen, weil er die tibetische Nationalflagge trug.
Westliche Firmen und Hilfsorganisationen stehen Schlange, um lederverarbeitende Betriebe, Zementfabriken usw. zu eröffnen, das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen pumpt Dollarbeträge in Millionenhöhe in das Land um die Infrastruktur für den Tourismus zu verbessern. Das Leiden und der Wahnsinn, die Tibet von dem marxistisch-totalitären Regime während der letzten 30 Jahre aufgezwungen wurden, sind vergessen.
Paradoxerweise sind die verfallenen Klöster und die gequälten Gesichter der Menschen nun Teil der touristischen Sehenswürdigkeiten geworden. Die Öffnung Tibets für den Massentourismus in den 90er Jahren bedeutete eine erneute Wiederentdeckung Tibets durch den Westen. Aber diesmal spielt sich seine Enthüllung vor dem Hintergrund der König-Arthur-Legende ab, in der Gut und Böse um die Herrschaft über ein heiliges Land kämpfen. Wieder einmal werden die politischen Probleme Tibets in das unwirkliche und mythische Reich von Gesar Ling erhoben. Die Kraft des Guten steht vor ihrer Vernichtung, und nun werden Touristen mobilisiert, um für die Rettung des heiligen Landes zu kämpfen und den besiegten König wiedereinzusetzen.
In diesem Prozeß der Massenmobilisierung der Armee des Guten bleibt die Stimme des tibetischen Volkes bestenfalls ein schwacher, von weither kommender Trompetenton. Schlimmstenfalls wird die Stimme Tibets unter den trampelnden Füßen des Massentourismus erstickt. Für das westliche Bürgertum ist Tibet zu einem Disneyland geworden. Es hat alle Nervenkitzel und Abenteuer einer Phantasiewelt vorzuweisen: Gefahr, Romantik, Zauber und entzückende Einheimische.
Tibet ist zu einem Ort voller Gefahren geworden, wo angehende Journalisten Ihre Phantasien ausleben können. Journalisten werden Ihnen sagen, daß eine Berichterstattung aus Tibet lebensgefährlich sei, daß ein Aufenthalt in Tibet eine Erfahrung am Rande des Todes bedeute, daß Journalisten mit der chinesischen Polizei Versteck spielten. Ihre Berichterstattung soll hauptsächlich dies zeigen; »Seht mal, wie mutig ich bin, dieses streng bewachte Land zu durchreisen und dabei dem Zorn der chinesischen Polizei geschickt auszuweichen!« Tibet ist natürlich schon immer ein Ort voller Gefahren für Weiße gewesen. Der Reisende und Abenteurer Henry Savage Landor schrieb im 19. Jahrhundert: »Ein Weißer hat keine Chance, dieses Land lebend zu verlassen.« In Wirklichkeit besteht für Menschen aus dem Westen keine Gefahr. Es ist sicherer, kreuz und quer durch Tibet zu wandern, als wenige Meter auf einigen Straßen westlicher Großstädte zu gehen. Westliche Reisende oder Journalisten sind keiner wirklichen Gefahr seitens der chinesischen Polizei ausgesetzt. Im schlimmsten Fall wird sie sie zur Grenze begleiten.
Für die Tibeter besteht allerdings wirkliche Gefahr, denn sehr oft werden sie durch das Abenteurertum eines Filmemachers oder Journalisten der Gefahr einer Konfrontation mit der chinesischen Sicherheitspolizei ausgesetzt. Viele Tibeter sind schon von der chinesischen Polizei in Gefängnisse gesteckt worden, weil sie Westlern geholfen hatten. Sind die Filmemacherinnen oder Journalistinnen erst einmal wieder zu Hause, ist ihnen gar nicht bewußt, was aus denen wurde, die ihnen geholfen hatten.
Warum Mythologisierung Tibets?
Die Vorstellung von Tibet als einem gefährlichen Land ist in der westlichen Phantasie nichts Neues. Tibet ist von jeher als ein unerforschtes Land dargestellt worden; die Vermischung zwischen geographischer Beschaffenheit und Phantasie ist daher unvermeidlich. Jede/r einzelne Tibetreisende fühlt sich verpflichtet, ihre oder seine Entdeckungen aller Weit mitzuteilen. Seit der Öffnung Tibets durch die Chinesen hat es einen Ansturm des Massentourismus gegeben, der wiederum eine Flut von Veröffentlichungen ausgelöst hat. So ist eine große Anzahl von Büchern mit äußerst poetischen Titeln erschienen, die Erzählungen von Reisenden wiedergeben. Es läßt sich erkennen, daß es zwei Tibets gibt: das wirkliche Tibet, das ich als das geographische Tibet bezeichnet habe, und das imaginäre Tibet, das seine eigene zwingende Eindringlichkeit besitzt.
Im westlichen Denken ist dieser Unterschied zwischen den beiden zu einer bestimmten westlichen Vorstellung von Tibet und allem Tibetischen verschmolzen. Das wirkliche oder geographische Tibet ist bei diesem Mythologisierungsprozeß dem imaginären Tibet untergeordnet. Diese Verwirrung ist die Folge einer versäumten Unterscheidung zwischen einem Objekt und einer Vorstellung über dieses Objekt.
Seit der Ausweitung des europäischen Machtbereichs bis in die Ausläufer des Himalaya-Gebirges hat Tibet die westliche Phantasie beflügelt als ein hinter schneebedeckten Bergen verborgenes Königreich, das keinerlei Anstalten machte, mit den neuen Machthabern Indiens Kontakt aufzunehmen. Die Verbreitung dieses Tibetbildes ist seit Jahrhunderten gleichgeblieben, was zum Teil darauf zurückzuführen ist, daß Tibet nie vom Westen erobert wurde.
Dies hat auch mit der Frage von Herrschern und Beherrschten zu tun. Während europäische Mächte über weite Teile Asiens und Afrikas herrschen konnten, blieb Tibet ein Anachronismus im Zeitalter des Imperialismus. Nicht eroberte Länder sind immer interessant und haben bei Eroberern aller geschichtlichen Epochen für Verblüffung gesorgt.
Heutzutage, wo sich wichtige politische Veränderungen in der kommunistischen Welt abspielen, macht China wieder einen Rückzieher in den Totalitarismus. Seit 1987 hat es bedeutende Aufstände in Tibet gegeben, die für kurze Zeit für Schlagzeilen über dieses Land in der Weltpresse sorgten. Es war nicht nur ein Beweis für den Westen, daß ein wirkliches Tibet existiert, sondern auch ein deutliches Signal für die chinesische Führung in Beijing, daß 40 Jahre chinesischer Herrschaft kläglich daran gescheitert waren, die Gefühle und die Gedanken des tibetischen Volkes für sich zu gewinnen. Lange vor den chinesischen Studentenprotesten auf dem Tiananmen-Platz brach bei Jugendlichen in Lhasa eine Protestwelle aus, die ihren Höhepunkt fand in dem verhängnisvollen Massaker von Lhasa und der Verhängung des Kriegsrechts im März 1989, das erst über ein Jahr später wieder aufgehoben wurde.
Trotz der Verschlechterung der Menchenrechtssituation hat es die internationale Gemeinschaft (insbesondere die westlichen Regierungen) immer wieder versäumt, das tibetische Problem als eine Angelegenheit von großer Dringlichkeit zu betrachten.
Tibeter als Objekte westlicher Interessen
Die politischen Fragen um Tibet sind auf das Überleben einer zum Tode verurteilten Kultur reduziert worden. Es ist nicht länger die Frage, ob diese wiederbelebt oder gerettet werden kann. Es wird implizit angenommen, daß sie rettungslos verloren ist, und politische Kommentatoren sind eifrig dabei, ein »Requiem für Tibet« zu schreiben und Voraussagen über »den letzten Dalai Lama« zu machen. Als Kern der Tibetpolitik wird daher das Problem der Bewahrung einer sterbenden Kultur gesehen: soll man sie besser in einem Einweckglas oder in Museen konservieren?
Der Westen hat sich schon immer das Recht vorbehalten, Ereignisse in der Dritten Welt zu interpretieren und diese an politische Kampagnen, die gerade in Mode sind, anzupassen. Tibet bildet hier keine Ausnahme. Heutzutage ist es modern, über die Rettung der Welt vor ökologischer Zerstörung zu reden, Eine ganze Flut von Bildbänden ist schon gedruckt worden, von denen jeder die Notwendigkeit predigt, Tibet vor einer Umweltkatastrophe zu retten. Aber gerade diese Hochglanzbücher sind die eigentliche Ursache für Umweltzerstörung, Schon beim Durchblättern dieser Bücher gelangt man zu der Überzeugung, daß zur Papierherstellung keine Bäume gefällt werden sollten.
»Rettet Tibet« ist zum Modeslogan der 90er Jahre geworden, Tibet muß gerettet werden, weil es im Begriff ist, den zerbrechlichen Mythos von Shangri-la zu zerstören. Die farbenfroh gekleideten Mönche und Nonnen haben sich nicht länger zur Meditation in Höhlen zurückgezogen, sondern demonstrieren jetzt mit erhobepenen Fäusten.
Der Westen hat Tibet schon immer auf sein eigenes Bild von Tibet reduziert und ihm seine Sehnsucht nach Spiritualität und sein Bedürfnis nach Zuflucht vor der materiellen Welt aufgezwungen. Gleichzeitig versuchte der Westen, den politischen Kampf Tibets zu definieren. Tibeter werden nur als Opfer gesehen, die nicht in eigener Sache sprechen können. So schrieb ein Westler: »Wir haben die Pflicht, im Namen des tibetischen Volkes zu sprechen.« Jahrzehntelang hat man das tibetische Volk auf dem Status von bemitleidenswerten Almosenempfängern betrachtet, und nun ist der Prozeß, es als eine vom Aussterben bedrohte Menschengruppe zu reduzieren, beinahe abgeschlossen. Einerseits wurde dadurch Mitleid erregt, andererseits behandelt man aber die Sache Tibets als unvermeidliches Problem einer »rückständigen Nation, die Sich dem Lauf der modernen Zeit widersetzt.«
Wenn ein Mythos einmal besiegelt ist, erscheint er als etwas Permanentes und erhält seine eigene Wirklichkeit. Dabei besteht die Gefahr, daß die Tibeter ebenfalls langsam der Verführung dieses Mythos erliegen. Man tendiert dazu, für den politischen Kampf Tibets im Sinne westlicher populärer Auffassungen zu werben, anstatt im Sinne der täglichen Sorgen der Menschen auf den Straßen Lhasas, oder der Nomaden auf den Hochebenen des Himalaya.
Und genau darin liegt der Grund, warum über das tibetische Problem außerhalb der westlichen Welt eine totale Unkenntnis besteht. Tibet hat bisher auf Asien, Südamerika oder Afrika keinen nennenswerten Eindruck gemacht. Sogar unsere unmittelbaren Nachbarn Nepal, Bhutan und Indien sind sich der Ereignisse in Tibet nicht bewußt. Die meisten Länder der Dritten Welt betrachten Tibet lediglich als ein Instrument westlicher politischer Interessen. Solange man Tibet als ein Problem sieht, das nur die Gefühle westlicher Menschen betrifft, wird es für die Sache Tibets niemals einen Fortschritt geben und diese weiterhin am Rande des internationalen Interesses bleiben. Während man z.B. die Probleme Südafrikas oder die der Palästinenser für wirkliche politische Probleme hält, betrachtet man den Kampf Tibets als aussichtslose Sache, die einem von Zeit zu Zeit auf dem Gewissen lastet. Die politischen Probleme Tibets werden mit dem Mythos von Shangri-Ia verknüpft und deshalb oft als eine Frage von Sentimentalität einerseits und politischer Zweckdienlichkeit andererseits behandelt. Wenn die Sache Tibets ernst genommen werden soll, muß Tibet sowohl von westlichen Phantasien als auch vom Mythos von Shangri-Ia befreit werden. ■