Buddhistische Sexualethik im gesellschaftlichen Kontext
Jörg Lindner
Die vorliegende Darstellung beschränkt sich auf Aspekte, die eine zeitaktuelle Interpretation und einen handlungsorientierten Bezug anbieten. Wichtige Texte der Frühbuddhisten(1), das offizielle „Buddhistische Bekenntnis“(2) und die grundgesetzliche Werteordnung bilden die Grundlage dieser Arbeit. Die maßgebenden buddhistischen Verhaltens-Empfehlungen – „Übungen“ genannt – und die im Buddhismus typischen „Haltungen“ finden sich in allen wichtigen Schulrichtungen wieder. Da es keine buddhistische Autorität oder Institution gibt, die das Verständnis der buddhistischen Ethik in Deutschland verbindlich festlegt, bleibt die Interpretation dieser Grundlagen eine ständige Herausforderung(3): als Suche der heutigen Buddhisten nach dem Verständnis der ursprünglichen Quellen.
Entgegen seiner Bedeutung werde ich den Lebensbereich der Nonnen und Mönche nicht berücksichtigen. Die Nicht-Ordinierten – die Mehrheit der Buddhisten in Deutschland – genießen große Autonomie und sind im besonderen Maße den Wechselfällen ihres Lebens ausgesetzt. Wie bewältigen sie ihre ethischen Grenzsituationen? Viele entschieden sich bewusst für den buddhistischen Weg und nahmen „Zuflucht“ – eine Art öffentliches Bekenntnis – und verpflichteten sich, u.a. die Fünf Übungen (sila) eines jeden Buddhisten einzuhalten:
Ich übe mich darin,
1. keine Lebewesen zu töten oder zu verletzen,
2. Nichtgegebenes nicht zu nehmen,
3. keine unheilsamen sexuellen Handlungen zu begehen,
4. nicht unwahr oder unheilsam zu reden,
5. mir nicht durch berauschende Mittel das Bewusstsein zu trüben.Aus dem „Buddhistischen Bekenntnis“ (BB) der Deutschen Buddhistischen Union in der gültigen Frankfurter Fassung des Jahres 2004
Welche Aspekte der buddhistischen Lehre können für ihr sexualethisches Verhalten maßgebend sein? Was bewirkt die Entschlossenheit eines Buddhisten, im praktischen Leben getreu dem ethischen Anspruch, seinem Bekenntnis, zu leben?
1. Allgemeine Perspektiven
Verglichen mit anderen Religionen kennt der Buddhismus nur wenige Rituale und Feste, die sich in den buddhistischen Traditionen der unterschiedlichen Länder in gleicher Weise wiederfinden. Die weit aus meisten wurzeln tief in der Kultur des jeweiligen Landes und vermischten sich im Laufe der Zeit mit buddhistischen Zeremonien. Für wichtige Lebensmarken wie Geburt, Geschlechtsreife, Heirat und Tod gibt es keine global einheitlichen Rituale. Die in Asien üblichen farbfrohen Festumzüge und Segnungen der Mönche lassen sich nicht ohne weiteres auf unseren Kulturkreis übertragen. Daher bleiben die kulturspezifischen Feste hier unerwähnt.
Die Familie begründet nicht nur in asiatischen Gesellschaften den Eckpfeiler für soziale und wirtschaftliche Stabilität. Die Familie bildet die idealen Rahmenbedingungen, Kinder aufzuziehen und sie auf das Leben vorzubereiten. Bereits die frühbuddhistischen Schriften verweisen auf wechselseitige Verpflichtungen einer Ehegemeinschaft wie „Sittlichkeit, gegenseitiger Treue, Respekt und Vertrauen“ (A4/53,54). Die Familie erfährt in den buddhistischen Frühschriften keine herausragende Aufmerksamkeit. Gleichwohl ist sie für die materielle Versorgung der Nonnen und Mönche unentbehrlich (S42/9).
Eine spirituelle Entwicklung umfasst den langwierigen Prozess der inneren Befreiung von Begehren, Zwängen und Verwirrung. Da gilt eine Familienbindung zunächst als Hindernis – von wenigen Ausnahmen vereinzelter Schulrichtungen abgesehen. Folgt man der Überlieferung, so führt vorzugsweise die „Hauslosigkeit“ und das Leben in einer klösterlichen Gemeinschaft – in aller Regel zölibatär – zur endgültigen Befreiung, zum inneren Frieden (BB).
Der Status der Frau entsprach in der altindischen Gesellschaft keineswegs dem des Mannes. Seine Interessen waren vorrangig. So umreißt der Pali-Kanon, dessen Schriften der Zeit des historischen Buddha am nächsten kommen, recht deutlich die soziale Rolle der Frau (A5/33; A7/59). Obwohl sich auch positive Darstellungen finden (A7/50), sei hier festgehalten, dass der subalterne Status der Frau nicht in unsere Gegenwart passt. Ja er widerspricht der uns allen übergeordneten Werteordnung im Grundgesetz. Allerdings besteht auch in unserer Gesellschaft eine klaffende Lücke zwischen dem grundrechtlichen Anspruch auf Gleichbehandlung und der gelebten Wirklichkeit.
Der Frau wird in einzelnen tibetischen Schulen eine unerwartet positiv-konstruktive Rolle zugeschrieben. Ihre Anhänger versuchen die dem sexuellen Bedürfnis zugrunde liegende Energie für einen abkürzenden Sprung in die rasche Erleuchtung zu nutzen. In unserem Zusammenhang erscheint bedeutsam, welche uneingeschränkte Wertschätzung dem Weiblichen, welcher Respekt der Frau entgegen gebracht wird. Bei aller Gleichwertigkeit und Gleichrangigkeit der Geschlechter werden die unterschiedlichen Möglichkeiten und Rollen-Befähigungen von Männern und Frauen als selbstverständlich vorausgesetzt: Meditationen und Rituale benötigen zwingend die unterschiedlichen Qualitäten beider Geschlechter. Aber – so ist von kundigen Lehrern zu hören – dieser Weg fordert den ganzen Einsatz: Disziplin und Fleiß, Hingabe und Vertrauen, Konzentration und Zielstrebigkeit, Kraft und vor allem – viel Zeit.
In der Lebenswelt heutiger Buddhisten finden sich nach wie vor größere Baustellen – vor allem im Bereich der Gender-Thematik. So trägt der institutionalisierte Buddhismus einiger Länder immer noch schwer an der Erblast seiner patriarchalischen Strukturen, die auch hierzulande ihre Spuren hinterlassen. Schon die buddhistischen Frühschriften sind vermutlich von Männern und eher für Männer artikuliert worden(3). Die faktische Diskriminierung der Frauen in den buddhistischen Frühschriften steht im Widerspruch zum Geist der Lehre: Eine systematische Differenzierung oder Wertung der Geschlechter ist nicht zu erkennen. In unserer Zeit vollzieht sich ein allmählicher Wandel. Die Zahl der qualifizierten Lehrerinnen wächst kontinuierlich. Die zeitaktuell verstandene Buddha-Lehre bietet genügend Raum für eine differenzierende Sicht auf beide Geschlechter: Wo immer sinnvoll können Frauen (und Männer) selber „bestimmen, wie sie sich verändern“, ohne „die sozialen Rollen fest(zu)schreiben“ (4), schrieb die namhafte Buddhismus-Lehrerin Sylvia Wetzel bereits 1999:
„Es wird einer der Beiträge des modernen Buddhismus im Westen sein, die Unterschiede zwischen Frauen und Männern, auf der Ebene der Selbstbilder, emotionaler Strategien und Verhaltensweisen, wahrzunehmen, zu reflektieren und anzusprechen.“(5)
„Damit Frauen frei werden können, brauchen sie unterschiedliche Arten von Beziehungen zu Frauen und Männern. Sie brauchen die Einsicht, dass alle Aussagen über ‚richtige‘ Frauen und Männer bedingt entstanden sind und lediglich einen bestimmten Standpunkt reflektieren. Diese Aussagen lassen sich sinngemäß auch auf Männer übertragen.“(6)
2. Sexualität im Lebensprozess
Aus buddhistischer Sicht gehört Sexualität zu den Phänomenen der Erscheinungswelt – unterliegt also gemäß der Lehre den Prozessen des Werdens und Vergehens, des ständigen Wandels und ist daher niemals von Dauer. Im BB heißt es: „Alles Bedingte ist unbeständig.“(2) Diese permanente Abfolge von wechselnden Bedingungen, die für einen fokussierten Moment als Ursache und Wirkung beschrieben werden, ist für das buddhistische Weltverständnis grundlegend. Der Mensch ist Teil dieser Dynamik und zugleich aktiver Teilnehmer – in den Grenzen, die ihm vorgegeben sind und die er aus eigener Erkenntnis, Motivation und Entwicklung erweitern kann.
Die Erscheinungsformen der Sexualität veranschaulichen diese Veränderungsprozesse anhand der eigenen Erfahrung und Entwicklung: Im Verlauf des Begegnens dreht sich alles um das Berühren und Ergreifen, überwältigt von Wohlbehagen, Glücksgefühlen und Begehren. An den Gefühlen festhaltend und an der Sehnsucht haftend drängt es nach wahnhaftem Glück. Und zwar derart zielstrebig und unbeirrbar, dass die alten Schriften von „Durst“ reden, von der Begierde, von Verblendung – sobald sie nicht mehr von Achtsamkeit begleitet werden: Das ungezügelte sexuelle „Begehren“ gilt als ein „Durst nach Sinnenlust“. Zahlreiche Stellen der Frühschriften verweisen auf die Anziehung der Geschlechter untereinander gleichermaßen (A I/1; III/109; VIII/17; D 22,33, 34) Sie lassen im Umkehrschluss zu, Sexualität auf dem mittleren Weg zu erfahren – zwischen der Glückseligkeit einerseits und den Zwängen (Anhaftungen) andererseits.
Siddhartha Gautama – so der historische Sanskrit-Name des Buddha – kannte diese Gefühlswelten aus eigener Anschauung, prüfte seine und die Erfahrungen Anderer, zog seine Schlüsse und brachte die Erkenntnisse in logische Zusammenhänge. Befreit von allen Anhaftungen, Zwängen und Verblendungen wurde er zum Buddha, d.h. der „Erwachte“. Und er stellte fest: Sich tiefer auf ein Gefühl oder eine Anhaftung einzulassen, lässt einen problematischen Ausstieg erwarten. Je mehr wir einem Glück nachrennen, um es festzuhalten, desto mehr drohen wir uns zu verstricken. Daher heißt es im Bekenntnis weiter (BB, Lehre): „Alles Bedingte ist leidvoll.“ Denn die “Ursachen des Leidens sind Gier, Hass und Verblendung.“ (BB, Zweite Wahrheit).
Indem buddhistisches Denken und Handeln auf eine Mäßigung der Leidenschaften zielt, verändert sich im Verlauf eines Lebens die Bedeutung der Sexualität. Das erleichtert eine genauere Sicht auf sich und andere und schafft Raum für spirituelle Erfahrungen. Letztendlich strebt er/sie eine vollständige Befreiung von Unwissen und von bisherigen Zwängen an.
„Hass und Verblendung“ kann auch als Vorverurteilung oder Ablehnung aus Unwissen verstanden werden. Ein buddhistischer Blick auf das Verhältnis der Geschlechter zueinander erweist sich als Spagat zwischen verschiedenen Perspektiven: Was könnte uns die indisch-historische Perspektive heute noch sagen? In welchem Maße kann die alte Überlieferung ignoriert werden? Wer darf das festlegen? Offenkundige Widersprüche – z.B. die unverhandelbare Gleichstellung der Geschlechter in unserer Gesellschaft – müssen unter „aufgeklärtem“ Blickwinkel entschieden werden – gegebenenfalls abweichend(3). Wird in den Frühschriften der sozial-historische Hintergrund zum Geschlechter-Verhältnis genauer beleuchtet, fällt auf, dass die Autoren in der Regel nur die Mönche ansprechen und sich auf „ihre“ Themen beschränken(3): Wie José I. Cabezón betont, ist Vergewaltigung offenbar kein Thema; ebenso wenig die sexuellen Bedürfnisse der Frauen. Können diese „historischen“ Vorstellungen zum Sexualleben der Mönche auf die Nicht-Ordinierten übertragen werden? Vor einem eventuellen Nein sei ein weiterer Blick auf das Geschlechter-Verhältnis gestattet.
Zur Hetero-, Homo-, Bi- und Transsexualität der Nicht-Ordinierten lässt sich zunächst wenig finden, was in der hiesigen Kultur weiterführen würde (soweit für diese Arbeit zugänglich oder bekannt war (3)(7)(8)). Eine buddhistische Perspektive auf die unterschiedlichen Geschlechter kann durchaus anders ausfallen als erwartet, vor allem wenn eine indisch-buddhistische Denkweise zugelassen wird – abweichend von der abendländischen. Ich folge hier weitgehend den Ausführungen von Martin Lehnert in seinem Beitrag “Jenseits der Geschlechterpolarität? Zu buddhistischen Kategorien der sexuellen Differenz“(9).
In weiten Bevölkerungskreisen bleibt hierzulande nahezu unbestritten, dass die Hetero-Normativität als selbstverständlich, als „normal“ angesehen wird, und beruft sich dabei auf eine „göttliche“ oder „natürliche Ordnung“. Parallel verleiten derartige Vorstellungen zur Verabsolutierung der Fortpflanzungsfunktion und im gleichen Atemzug zur Ausgrenzung, Abwertung oder gar Pathologisierung der abweichenden Geschlechter-Verhältnisse.
Wieso ist im indisch-buddhistischen Denken eine Trennung von Sexualität und Fortpflanzung vorstellbar? Wieso löst dort ein gleichgeschlechtliches Begehren weniger Aufregung aus? Weder in den Frühschriften noch in den späteren indischen Kommentaren lassen sich dazu – in Bezug auf Nicht-Ordinierte – tiefere Betrachtungen finden. Werden die verschiedene Arten des Begehrens anders differenziert? Und die unterschiedlichen körperlichen Bedürfnisse entspannter hingenommen als das mit klassisch-europäischen Denk-Kategorien möglich wäre?
Um das buddhistische Denken besser zu verstehen, ist es an dieser Stelle zweckmäßig, (nach Martin Lehnert) einen Rückgriff auf das logische Tetralemma vorzunehmen, das vor allem in der Madhyamaka-Tradition im Vordergrund steht. Die Denker des antiken Griechenlands haben uns die strikte logische Zweiwertigkeit hinterlassen: Etwas ist oder es ist nicht. Ein Drittes gibt es nicht. Die Madhyamaka-Tradition kennt weiterführende Logik-Optionen:
a) A ist.
b) B ist.
c) Sowohl A als auch B ist.
d) Weder A noch B ist.
Auf die Geschlechter-Verhältnisse übertragen erlaubt dieses Denkmuster, wie viel undramatischer und vorurteilsfreier die unterschiedlichen Geschlechter-Verhältnisse wahrgenommen werden können. So beeindruckt die relative Unaufgeregtheit, mit vielfältigen sexuellen Erscheinungsformen umzugehen.
Als Beispiel geschlechtlicher Indifferenz mögen Vorstellungen dienen, die für Anhänger des Reine-Land-Buddhismus selbstverständlich sind. Sie stellen übrigens die Mehrheit der hiesigen Buddhisten. Das „Reine-Land“ oder „Sukhávati“, das „Land der Seligkeit“, steht im Mittelpunkt ihrer spirituellen Praxis. In diesem „himmlischen“ Reich wiedergeboren zu werden bedeute, die Lehren des Buddha unmittelbar hören und verstehen zu können. So erlange man mühelos das Nirvana, den grenzenlosen Frieden (siehe BB). Im „Reinen-Land“ würden Frauen und Männer ohne geschlechtliche Begierden wiedergeboren werden. Folglich sei dort das Geschlecht ohne Belang.
In der Gegenwart unserer Gesellschaft spielen auch andere Einflüsse eine Rolle und setzen selbstverständlich auch dem Sexualverhalten der hiesigen Buddhisten Grenzen. Zu erwähnen sind strafrechtliche Konsequenzen, die sich durch sexuelle Grenzüberschreitungen wie z.B. dem Tatbestand eines Missbrauchs ergeben können. Unabhängig von buddhistischen oder kulturellen Ursprüngen sind die hiesigen grundgesetzlichen Normen zu achten und in gleicher Weise die Vorgaben der unverhandelbaren Menschenrechte zu respektieren.
3. Perspektiven der buddhistischen Frühschriften
Die Ethik-Grundlagen des Buddha umfassen empfohlene Übungen und Haltungen. Vielfältige Meditationen und Rezitationen unterstützen die Praktizierenden, vorbildliche Haltungen zu verinnerlichen – beispielsweise:
- Achtfacher Pfad (= Vierte Edle Wahrheit, BB):
- rechte Ansicht, rechte Gesinnung;
- rechte Rede, rechtes Verhalten, rechter Lebensunterhalt;
- rechtes Bemühen, rechte Achtsamkeit, rechte Meditation
- Liebende-Güte-Rezitation (mettasutta)
- Vier Heilsame Haltungen (brahmavihara):
- Liebende Güte, Mitgefühl, Mitfreude, Gleichmut
- Sechs Vollkommenheiten (paramita):
- Großzügigkeit, Ethik, Nachsicht, Entschlossenheit,
- Meditation, Weisheit
- Rezitations-Texte der einzelnen Traditionen
Als zentrales Element der Lehre wird die Ethik eingebettet in den Lebensprozess der Meditation, d.h. einer Sammlung, Verinnerlichung und Reflexion, sowie der Entwicklung der Weisheit i.S. einer zunehmenden Einsichtsfähigkeit und spirituellen Haltung. Um sich ethisch zu verhalten, wird neben Übungen und Haltungen eine weitere Dimension erforderlich: die Ausgewogenheit zwischen der unerschütterlichen Motivation, sich ernsthaft zu bemühen, und der gütigen Nachsicht mit sich und Anderen, wenn Unzulänglichkeiten spürbar werden. So stehen im Alltag Motivation und Entschlossenheit im Vordergrund, die die Handlungen auslösen und begleiten.
Generell empfiehlt der Buddha, heilsam zu denken und zu handeln und umgekehrt das Unheilsame zu meiden – also im Umgang mit sich und Anderen kein Leid zu verursachen:
Von allem Bösen abzustehen,
das Heilsame zu mehren,
auf Läuterung des Geistes zu sehn:
Das ist’s was Buddhas lehren. Dhp 183
Um die Grenzen zwischen dem Heilsamen und dem Unheilsamen zu erkennen, bedarf es neben der Urteilskraft auch der achtsamen Lebenserfahrung. Der Buddha drängte auf sorgfältige Interpretation: In der Lehrrede an die Kalamer ermunterte er seine Zuhörer, auch die Aussagen der Autoritäten kritisch zu durchleuchten und ihre Glaubwürdigkeit zu prüfen. Am Ende seiner Rede empfahl er, immer das Heilsame im Auge zu behalten (A3/66). Als Verfechter des „Mittleren Weges“ warnte er andererseits vor der Sucht des wiederholten Zweifels (S III 22/84).
Buddhistisches Denken und Handeln konnte seit etwa 2500 Jahren in unterschiedlichen Kulturen Fuß fassen.Die Essenz der buddhistischen Ethik blieb dennoch über alle Räume, Zeiten und Schulrichtungen hinweg dieselbe. Und so fand sie auch Eingang in das „Buddhistische Bekenntnis“, das 1985 in Hamburg von der damaligen Versammlung buddhistischer Gruppen beschlossen wurde – schul- und traditionsübergreifend – und 2004 in Frankfurt seine derzeit gültige Fassung erhielt(2).
Buddhistisches Bekenntnis
Ich bekenne mich zum Buddha als meinem unübertroffenen Lehrer. Er hat die Vollkommenheiten verwirklicht und ist aus eigener Kraft den Weg zur Befreiung und Erleuchtung gegangen. Aus dieser Erfahrung hat er die Lehre dargelegt, damit auch wir endgültig frei von Leid werden.
Ich bekenne mich zum Dharma, der Lehre des Buddha. Sie ist klar, zeitlos und lädt alle ein, sie zu prüfen, sie anzuwenden und zu verwirklichen.
Ich bekenne mich zum Sangha, der Gemeinschaft derer, die den Weg des Buddha gehen und die verschiedenen Stufen der inneren Erfahrung und des Erwachens verwirklichen.
Ich habe festes Vertrauen zu den Vier Edlen Wahrheiten: Das Leben im Daseinskreislauf ist letztlich leidvoll. Ursachen des Leidens sind Gier, Hass und Verblendung. Erlöschen die Ursachen, erlischt das Leiden. Zum Erlöschen des Leidens führt der Edle Achtfache Pfad.
Ich habe festes Vertrauen in die Lehre des Buddha:
Alles Bedingte ist unbeständig.
Alles Bedingte ist leidvoll.
Alles ist ohne eigenständiges Selbst.
Nirvana ist Frieden.
Ich bekenne mich zur Einheit aller Buddhisten und begegne allen Buddhisten mit Achtung und Offenheit. Wir folgen dem Buddha, unserem gemeinsamen Lehrer, und sind bestrebt, seine Lehre zu verwirklichen. Ethisches Verhalten, Sammlung und Weisheit führen zur Befreiung und Erleuchtung.
Ich übe mich darin, keine Lebewesen zu töten oder zu verletzen, Nichtgegebenes nicht zu nehmen, keine unheilsamen sexuellen Handlungen zu begehen, nicht unwahr oder unheilsam zu reden, mir nicht durch berauschende Mittel das Bewusstsein zu trüben.
Zu allen Lebewesen will ich unbegrenzte Liebe, Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut entfalten, im Wissen um das Streben aller Lebewesen nach Glück.(2)
Die Fünf Verhaltens-Übungen (panca-sila; pakati) – eingangs zitiert – bilden die buddhistische Kern-Ethik. Sie sind im BB enthalten und tauchen indirekt als „Rechtes Verhalten“ noch einmal auf im „Edlen Achtfachen Pfad“ (= Die „Vierte Wahrheit“). Das Typische an diesen Übungen ist zweifellos die Ich-Form und der Empfehlungs-Charakter. Denn mit der Formel „Ich übe mich darin ...“ wird unmissverständlich an die Eigenverantwortung erinnert, die ein buddhistisches Denken und Handeln prägt: Menschen bestimmen selbständig und durch achtsames Abwägen die Handlungs-Alternativen. Der Buddha kann nichts tun:
Ihr selbst müsst eifrig euch bemüh’n, die Buddhas weisen nur den Weg.Dhp 276
Üben heißt die Lehre zu verinnerlichen und die gewonnenen Erkenntnisse zum eigenen Wohle und dem aller Wesen einzusetzen. Was der Einzelne daraus macht, offenbart er in Konflikten, wenn Interessen, Neigung und Vernunft auseinander streben.
4. Die zwei Übungen zur Sexualethik
Zwei der Fünf Übungen – auch in den „Zehn Heilsamen Handlungen“ (dasa-kusala) aufgeführt – beziehen sich auf sexuelles Verhalten.
Die Erste Übung: Nicht verletzen – Ehrfurcht vor dem Leben
“Ich übe mich darin, keine Lebewesen zu töten oder zu verletzen.“ (BB)
Jegliches Leben zu schützen kennzeichnet buddhistisches Denken und Handeln. Dieser Geist weht durch alle Schriften: Achte und respektiere die Würde des/der Anderen. Sei achtsam und erkenne das Leiden Anderer:
Auf mich selbst achtend, achte ich auf den anderen,
Auf den anderen achtend, achte ich auf mich selbst.S V/19
Sich an der Linderung des Leids zu beteiligen wird zum tätigen Mitgefühl. Vergleichbar mit der Goldenen Regel mahnte der Buddha an, zumindest das Unheilsame zu vermeiden: „Füge deinem Nächsten keine Schmerzen zu, die auch dir schmerzen.“ (U V/1; S 55/7).
Als eine buddhistische Grundeinstellung meint „Verletzen“ nicht nur körperliche sondern im weitesten Sinne psychische Beeinträchtigungen aller Art; z.B. einschüchtern oder bedrängen – und sei es, aus sexuellem Begehren heraus, auf vermeintlich harmlose Weise zu etwas drängen, was er/sie nicht will. Zur strukturellen Gewalt zählen aus buddhistischer Sicht alle Abstufungen unheilsamen Handelns und Nichthandelns, seien sie vorsätzlich, fahrlässig oder unachtsam.
In unserer westlichen Kultur werden wir von klein auf daran gewöhnt, ein – aus buddhistischer Sicht – extrem eingeschränktes Verständnis von zwischenmenschlicher Gewalt hinzunehmen: „Gewalt“-Einwirkung wird auf das Körperliche, unmittelbar Schmerzhafte begrenzt. Die Heranwachsenden lernen in ihrem sozialen Umfeld, dass „Gewalt“ nur das sichtbar Erlittene oder Leidende ist. Seelisches Leiden findet nur im Verborgenen statt. Ist nicht der Rede wert. Jedoch sind es Menschen, die strukturelle Gewalt auslösen. Sie bleiben hinter einer Wand von Sachzwängen und Prioritäten versteckt oder in unpersönlichen Organisationen unerreichbar.
Die herrschende Kultur zeigt wenig Bereitschaft, Wesen und Sanktion der strukturellen Gewalt im kollektiven Bewusstsein zu verankern. Weder ihre Ächtung noch der Schutz vor struktureller Gewalt wird als hohes ethisches Gut vermittelt. Buddhisten sind persönlich aufgerufen und herausgefordert, wie sie mit der Fülle der strukturellen Gewalt- und Missbrauchsvarianten tatsächlich umgehen – z.B. im Bereich ihres Sexualverhaltens.
Die Dritte Übung:
Keine unheilsamen sexuellen Handlungen – Beziehungen achten
„Ich übe mich darin, keine unheilsamen sexuellen Handlungen zu begehen.“ (BB)
Einverständlicher Sex in verbindlichen Beziehungen schließt nicht nur erzwungene Misshandlungen aus, sondern auch Handlungen oder Unterlassungen, die als strukturelle Gewalt verstanden werden – z.B. mit Worten oder einschüchternden Handlungen oder bewusstem Nicht-Handeln.
Ausdrücklich nannte der Buddha auch den Missbrauch Schutzbefohlener im weitesten Sinne (M41/8). Immer gilt es, bei entgegenstehenden Bedürfnissen, Wünschen oder Interessen die Intimsphäre der/des Anderen zu achten.
Beispielhaft sei die „Häuslichen Gewalt“ erwähnt, die – in den Bundes-Statistiken erwähnt – eine erschreckende Dunkelziffer im Hintergrund befürchten lässt. Der Buddha fand in seinen Empfehlungen an den König Ajatasatru klare Worte: „Keine Gewalt gegen Frauen.“ (D 16/ 5. Ratschlag)
Der namhafte Zen-Lehrer Thich Nhat Hanh versteht die Dritte Übung wie folgt:
Des Leidens bewusst, das durch sexuelles Fehlverhalten verursacht wird, bin ich zur Entwicklung von Verantwortungsgefühl entschlossen und möchte Wege finden, die Sicherheit und Unversehrtheit von Individuen, Paaren, Familien und der Gesellschaft zu schützen. Ohne Liebe und eine langfristige Absicht will ich mich nicht in eine sexuelle Beziehung begeben. Ich bin zur Achtung gegenüber meinen Versprechen und denen der Anderen entschlossen, um mein Glück und das der Anderen zu erhalten. Alles in meiner Macht Stehende will ich tun, um Kinder vor sexuellem Missbrauch zu schützen und um zu verhindern, dass Paare und Familien durch sexuelles Fehlverhalten auseinanderbrechen.(10)
Gibt es in den Schriften Hinweise, wie mit der Verhütung oder Geburtenkontrolle umzugehen ist? Ist es erlaubt? Fragestellungen dieser Art lassen sich anhand früher Texte nicht schlüssig beantworten. Wieder hilft die buddhistische Grundhaltung „Ehrfurcht vor dem Leben – Leben achten“, verantwortungsbewusst zu handeln. Und die immer angebrachte Übung der „Achtsamkeit“. Trotz achtsamer Haltung lässt das real existierende Leben prekäre Situationen entstehen. Daher kann es ratsam sein, sich „vorher“ der Thematik zu nähern: indem das Risiko künftigen Leidens bedacht und kommuniziert wird – und letztlich einverständliche Wege gefunden werden – mit Einfühlung und Respekt.
Zum Schwangerschaftsabbruch: Durch die Zeugung wird ein „neuer“ Lebensprozess wieder aufgenommen und manifestiert sich als menschliches Wesen analog zur Entwicklung des Embryos. Ein bewusster Schwangerschaftsabbruch beendet definitiv ein Leben – auch wenn aus buddhistischer Sicht wichtige Merkmale eines Menschen noch nicht ausgereift sind. Der Vorsatz, keine Lebewesen zu töten, würde nicht befolgt.
Jedoch heißt es in der Ersten Übung, „… keine Lebewesen … zu verletzen“. Damit tauchen weitere Gesichtspunkte auf: Der Verzicht auf einen Abbruch kann bedeuten, dass nunmehr woanders Leid verursacht wird oder an anderer Stelle „Verletzungen“ wahrscheinlich werden. Die körperliche Verfassung oder die Psyche der Frau könnte beispielsweise vordringlich werden. Das nun beginnende Abwägen und Einschätzen was angemessen sein könnte – bis hin zum Abbruch – all das kann legitim – ja eventuell sogar angeraten sein. In einem Interview stellte der Dalai Lama sinngemäß diese Überlegungen an und lehnte eine buchstabengetreue Regel-Auslegung ab. Zugleich räumte er ein, dass die Entscheidung zwischen unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten, was Leid verursacht, immer problematisch sei. Es gehöre zur Lebenswirklichkeit, verschiedene Möglichkeiten abzuwägen, wie Leid zu vermindern sei.
Wie ist mit verschiedenen Sexual-Praktiken umzugehen? Es sind keine konkreten Weisungen bekannt. Die Haltung des achtsamen Abwägens wird immer die erste Empfehlung bleiben. Alexander Berzin:
Kurz gesagt dreht sich im Buddhismus die ganze Frage der Sexualität um die Art von Geisteshaltung und Motivation ... und welche dieser Arten destruktiv sind und Probleme schaffen. Es (ist) etwas sehr Hilfreiches, in Bezug auf Sex eine realistische Geisteshaltung zu haben und ihm keine solche große Wichtigkeit zuzusprechen.(7)
5. Ethik und Eigenverantwortung – unser Einfluss auf die Karma-Entwicklung
Sehr verkürzt heißt Karma das Wirken in Taten, Worten und Gedanken. Das Karma-Prinzip speichert unsere bisherigen Absichten und Handlungen, soweit sie – vereinfacht ausgedrückt – nicht aufgearbeitet worden sind. Wir wissen – Psychologie und Lebenserfahrung bestätigen es – dass äußere und innere Gegebenheiten uns den Stempel aufdrücken. Mit zunehmender Lebenszeit begreifen wir, in welchem Maße unsere inzwischen aufgelaufenen Denk- und Handlungsweisen unser Verhalten festgelegt haben. Aber vieles haben wir noch selbst im Griff. Negative Gedanken ziehen uns herunter, positive öffnen heilsame Handlungsräume. Karma umfasst sowohl das kurzfristige Echo, das mir durch meine Worte widerfährt, als auch die späteren Re-Aktionen. Es entspricht der trivialen Alltagserfahrung, mit welcher Zwangsläufigkeit unser vorangegangenes Denken, Reden und Handeln das jetzige Erleben und Verhalten zur Folge haben.
Hier ist nicht der Ort, das Wirken des Karma-Prinzips umfassend zu beschreiben – dazu sei auf die reichhaltige Literatur in Vergangenheit und Gegenwart verwiesen (11). Im Zusammenhang einer praktischen Sexualethik interessieren vor allem die aktuell handlungsorientierten Aspekte und weniger die Spekulation, was in einem früherem Leben geschehen sein könnte. Davon hat bereits der Buddha dringend abgeraten.
Wer sich entschieden hat, den buddhistischen Weg zu gehen, übernimmt eine Selbstverpflichtung. Was ein Mensch an unheilsamen Handlungen und Denk-Gewohnheiten angesammelt hat, kann er kritisch überdenken und beschließen, sein Leben in heilsame Bahnen zu lenken. Mitten im karmisch-zwingenden Erleben haben wir immer eine Chance: in einem einzigen Moment – dem jetzigen Augenblick! Meine persönliche Entwicklung, meine ureigene Zukunft kann ich ausschließlich im gegenwärtigen Moment zum Besseren wenden. In diesem alltagspraktischen Sinn führt das Karma-Prinzip unmittelbar zur Eigenverantwortlichkeit. Menschen spüren diesen Schub im Rücken, je tiefer sie buddhistisches Denken und Handeln verinnerlichen.
Wenn ich mich aus der beschriebenen Klammer zwischen tatsächlichem Verhalten und den unausweichlichen Folgen lösen will, wird meine Motivation ausschlaggebend. Sie entscheidet, ob ich eine karmische Entwicklung auch wirklich will. Der zweite Pfad des „Achtpfades“ – die „innere Einstellung“ – weist mit Nachdruck auf die Notwendigkeit einer zielbewussten Motivation hin. Aber erst zusammen mit dem sechsten Pfad „Bemühung“ (oder „Anstrengung“) stehen die Werkzeuge bereit: Mit Motivation und festem Willen kann der eigene ethische Anspruch im Alltag umgesetzt werden – und somit die eigene Glaubwürdigkeit. Das tatkräftige Bemühen wird für Andere spürbar und spornt alle an, sich gegenseitig zu unterstützen. So entsteht die Mitfreude an Vorbildern im engeren und weiteren Umkreis der Dharmafreunde. Die Mitfreude gilt daher als eine der „Vier Heilsamen Haltungen“.
6. Meditative Sammlung und Reflexion
Um den Anforderungen gerecht zu werden, wird seit alters her empfohlen, in den Tagesverlauf eine Meditation einzubauen. Verschiedene Meditationsarten ermöglichen, den Geist zu beruhigen, Einsichten zu gewinnen und nach einer kritischen Rückschau die notwendigen Schlussfolgerungen zu ziehen.
Das strenge „Bemühen“ des sechsten Pfades empfiehlt als Ausgleich eine Nachsicht mit sich selbst. Erst durch die innere Lebensbalance wird eine mitfühlende Nachsicht mit Anderen möglich – und nötig. Die nachsichtige Geduld mit sich selbst und Anderen zählt zu den Sechs Vollkommenheiten – eine der buddhistischen Ermunterungen auf dem ethisch heilsamen Weg. ■
Fußnoten
(1) Quellen-Kürzel zum Pali-Kanon:
A Anguttara-Nikaya
D Digha-Nikaya
DhP Khuddaka-Nikaya, Dhammapada
M Majjhima-Nikaya
S Samyutta-Nikaya
U Khuddaka-Nikaya, Udana
(2) Deutsche Buddhistische Union, Buddhistisches Bekenntnis, München 2004 – www.Buddhismus-Deutschland.de
(3) José I. Cabezón, Rethinking Buddhism and Sex in „Buddhadharma: The Practitioner’s Quarterly“ Summer 2009, p. 60-68/ Halifax, Escondido 2009, www.thebuddhadharma.com
(4) Sylvia Wetzel, Das Herz des Lotus. Frauen und Buddhismus, S. 94f, Berlin 1999
(5) ebenda, S. 129
(6) ebenda, S. 135
(7) Alexander Berzin, Fragen der buddhistischen Sexualethik (Übers. Nailu Sari), Mexiko 1998 – www.berzinarchives.com
(8) Frank Usarski, Buddhismus in Michael Klöcker/ Udo Tworuschka (Hrsg.), Ethik der Weltreligionen, S. 217ff/ Darmstadt 2005
(9) Martin Lehnert, Jenseits der Geschlechterpolarität? Zu buddhistischen Kategorien der sexuellen Differenz, S.125 – 143, in: Höpflinger/Jeffers/Pezzoli-Olgiati (Hg.), Handbuch Gender und Religion, 2008 Göttingen
(10) Thich Nhat Hanh, vervielfältigter Text o.J.
(11) z.B. Karma, Alfred Weil (Hrsg.) Stammbach 2008