Der vergiftete Pfeil: Wann wurden die Klöster in Tibet zerstört?

Tenzin Peljor

Ich muss gestehen, dass ich nicht sehr vertraut bin mit der Geschichte von Tibet und China und dass ich mich in einem Lernprozess diesbezüglich befinde. Mein Interesse gründet hauptsächlich auf meinem Sinn für Gerechtigkeit, den ich für die Tibeter und ihre sehr traurige und von der Weltgemeinschaft weitgehend ignorierte Situation empfinde.

Vor kurzem hatte ich erneut Anlass, Details zu recherchieren, als mir jemand erzählte, dass während einer Diskussion im Rahmen einer Volkshochschulveranstaltung über den tibetischen Buddhismus ein Teilnehmer behauptet hatte, es seien die Roten Garden gewesen, die während der Kulturrevolution (1966–1976) fast alle Klöster in Tibet zerstört hätten. Eine anwesende Tibetologin korrigierte ihn und sagte, dass die meisten der Klöster schon vor der Kulturrevolution zerstört wurden. Allerdings glaubte dieser Mann dieser Aussage der Tibetologin zunächst nicht.

Er blieb hartnäckig am Thema, aber auch die Überprüfung aller ihm zur Verfügung stehenden Geschichtsbücher, Reiseführer und entsprechenden Seiten im Internet bestärkte ihn nur in seiner Meinung, dass es vor allem die Roten Garden waren, die die Klöster zerstört hatten.

Neue Chörten inmitten von Ruinen in SakyaNeue Chörten inmitten von Ruinen in Sakya
© Elke Hessel

Diese scheinbare Tatsache wurde zudem durch mündliche Aussagen von Tibetern gestützt, die er im Rahmen seiner internationalen Tätigkeit in den 90er Jahren in Tibet getroffen hatte. Während dieser Gespräche waren keine chinesischen Aufpasser anwesend, die Mönche konnten also frei reden.

In diesen Gesprächen – so erzählte er einige Zeit später der Tibetologin – wurde ihm bestätigt, dass die Zerstörung der Klöster ein Werk der Roten Garden gewesen sei.

Folgerichtig hatte er rückblickend geschlussfolgert, dass es keine authentische Quelle geben könne, die diese Tatsachen widerlegte.

„In den meisten Fällen ist das, was vergessen wurde, vergessen, weil es nicht mehr in die aktuelle Version der Ereignisse passt, insbesondere wenn diese von einer Elite-Gruppe konstruiert wurde. Manchmal werden in der Tat unwillkommene Erinnerungen systematisch durch die Führung zerstört.“ (Coney, 1997)

Führer entfernen Erinnerungen durch das Vertreiben einzelner Querulanten oder einfach indem sie keinen Bezug auf unwillkommene historischen Fakten nehmen, bis diese aufhören, Teil des Gruppenrepertoires an Erinnerungen zu sein. Das Ändern des Namens des Führers oder der Gruppe ermöglicht auch, dass Erinnerungen mit früheren Bezeichnungen verblassen, während die Schaffung neuer Erinnerungen gefördert wird. Das Unterfangen, Geschichten bewusst zu entfernen, ist jedoch nicht immer ganz erfolgreich, weil verdrängte Erinnerungen „zurückkehren können, um an den Ränder eines Diskurses herumzugeistern und weiterhin, trotz ihrer scheinbaren Abwesenheit, seine Struktur beeinflussen“. Alternativ können konkurrierende Versionen von Ereignissen auch nur vorübergehend innerhalb vorherrschender Beschreibungen verschüttet sein und können später „wieder an die Oberfläche des kollektiven Gedächtnisses steigen“.Kay 2004, S. 82

Diese Analyse von David Kay[1] in Bezug auf das Umschreiben der Geschichte einer neuen religiösen Bewegung durch ihre spirituelle Führung passt meines Erachtens auch sehr gut zu dem Umschreiben der Geschichte Tibets durch seine chinesischen Besatzer – und nicht nur durch diese, sondern auch durch den Westen.

Ruinen des Klosters Chökor Gyal, SüdtibetRuinen des Klosters Chökor Gyal, Südtibet
© Elke Hessel

Erinnern wir uns: Als die VR China Tibet besetzte, behauptete Chinas Führung, dies zu tun, um Tibet vom „Imperialismus“ (USA und England) zu „befreien“. Die Tibeter spotteten über diesen Anspruch, da es keine Amerikaner und nur etwa eine Handvoll Engländer in Tibet gab. Später erklärte die chinesische Führung, sie habe Tibet „vom Feudalismus befreit“, und in letzter Zeit behaupten Chinas Machthaber, sie hätten Tibet von dessen „Rückständigkeit befreit“.[2] Letztlich sind alle diese Behauptungen aber nur Fälle von Geschichtsverfälschung, notwendig, um die illegale Besetzung und Annexion Tibets zu rechtfertigen.[3]

Was sind nun aber die Fakten und die Quellen, die die Ansicht der Tibetologin, dass die meisten Klöster vor der Kulturrevolution zerstört worden seien, belegen und die Behauptung, sie seien erst durch die Roten Garden während der Kulturrevolution zerstört wurden, widerlegen?

Reste einer Yamantaka-Statue, LhasaReste einer Yamantaka-Statue, Lhasa
© André Alexander

Fakten über die Zerstörung der Klöster in Tibet

Folgende Informationen habe ich zusammengestellt auf der Basis von Quellenhinweisen durch die Journalistin Monika Deimann Clemens, den Tibetologen und Leiter von T.I.N. Thierry Dodin und die Historikerin und Tibetologin Isrun Engelhardt.

Die Stuttgarter Zeitung vom 20. Juli 1987 berichtet anlässlich des Besuchs von Helmut Kohl in Tibet im Juli 1987 auf Seite 4 im Artikel „Kohl spricht Menschenrechtsfragen an“ von der Pressekonferenz[4] der „tibetischen Provinzregierung“ (gemeint ist die „Provinzregierung“ der sog. Autonomen Region Tibet) wie folgt:

Zum ersten Mal wurden bei der Pressekonferenz detaillierte Angaben über das Ausmaß der Zerstörung des religiösen Lebens in Tibet seit 1959 und dem Umfang der seit 1978 wieder begonnenen Rehabilitierung genannt. Vizegouverneur Pu Quiong berichtete, daß es vor der Rebellion 1959, die zur Flucht des Dalai Lama führte, 2700 Tempel und Klöster mit 114.000 Mönchen sowie 1.600 „lebende Buddhas“ gegeben habe. Die „demokratischen Reformen“ reduzierten die Klöster auf 550 mit 6.900 Mönchen bis 1966. Nach den Wirren der Kulturrevolution von 1966 an blieben 1978 nur noch acht Klöster mit 970 Mönchen übrig. Seit 1978 seien bis zum Mai dieses Jahres 230 Klöster wieder renoviert oder neue aufgebaut worden.

Dies sind die offiziellen Aussagen eines chinesischen Funktionärs. Sie bestätigen, was auch die Tibeter im Exil sagen, dass die meisten der Klöster in Tibet schon vor der Kulturrevolution zerstört wurden, nämlich – nach offizieller chinesischer Darstellung – während der „demokratischen Reformen“. Diese Reformen zwang die VR China den Tibetern auf, nachdem diese in dem Aufstand am 10. März 1959 in Lhasa erfolglos gegen die chinesische Besatzung und deren Gewaltherrschaft aufbegehrt hatten.[5]

Der Journalist und Tibetologe Tsewang Norbu kommentierte die Aussagen des Vizegouverneur Pu Quiong, die er auf der Pressekonferenz äußerte, wie folgt:

Lange Zeit war es einfach, die Verbrechen in Tibet allein den sog. linksextremen Elementen der Kulturrevolution anzulasten, von denen sich die heutige chinesische Führung geschickt distanziert. Der Westen hat sich diese Version kritiklos zu Eigen gemacht.

Mit dieser detaillierten und unverblümten Statistik bestätigte der Vizegouverneur der Autonomen Region Tibet (A.R.T.) höchst offiziell die Behauptung der (Exil-) Tibeter, daß der größte Teil der Zerstörungen vor und nicht erst während der berüchtigten Kulturrevolution stattgefunden hat.

Seine Angaben beziehen sich wohlbemerkt nur auf die sog. A.R.T., die etwa die Hälfte des eigentlichen Tibets ausmacht.

Das Tibet Information Network (T.I.N.) zitiert aus der „Petition der 70.000 Zeichen“, die der damals 24-jährige 10. Panchen Lama im Mai 1962 Mao Zedong und Zhou Enlai vorlegte und für die er später inhaftiert wurde (1966–1967). Der Vorsitzende Mao nannte die Petition „[...] einen vergifteten Pfeil auf die Partei, abgeschossen von reaktionären Feudalherren“:

Drittens, die Situation im Hinblick auf die Klöster nach den demokratischen Reformen:

(1) Vor der demokratischen Reform gab es mehr als 2.500 große, mittlere und kleine Klöster in Tibet. Nach der demokratischen Reform wurden nur ca. 70 Klöster durch die Regierung aufrecht gehalten. Dies war ein Rückgang von mehr als 97%. Da es in den meisten der Klöster keine Menschen mehr gab, die dort lebten, gab es auch niemanden, der sich um die Großen Gebetshallen [da jing tang] und die anderen heiligen Hallen und Mönchsunterkünfte kümmerte. So gab es einen großen Schaden und Zerstörung sowohl durch Menschen als auch auf andere Art und sie [die Klöster] wurden bis auf den Zustand des Zusammenbruchs oder an den Rand des Zusammenbruchs dezimiert.

(2) In ganz Tibet gab es in der Vergangenheit eine Gesamtzahl von etwa 110.000 Mönchen und Nonnen, von denen möglicherweise 10.000 ins Ausland flohen. Es blieben also etwa 100.000. Nachdem die demokratischen Reformen abgeschlossen waren, betrug die Anzahl der Mönche und Nonnen, die in den Klöstern lebten, etwa 7.000 Menschen, was ein Rückgang um 93% ist.[6]

Der 10. Panchen Lama schreibt in derselben Petition:

Diejenigen, die religiöses Wissen haben, werden langsam aussterben. Religiöse Angelegenheiten stagnieren, Wissen wird nicht weitergegeben, es gibt Sorge darüber, dass es keine neuen Leute geben wird, die ausgebildet werden können, und so sehen wir den Niedergang des Buddhismus, der in Tibet blühte und die Lehren und Erleuchtung überlieferte. Dies ist etwas, was ich und mehr als 90% der Tibeter nicht ertragen können.[7]

Mao-Porträt im Ramoche Tempel, Lhasa, 1985Mao-Porträt im Ramoche Tempel, Lhasa, 1985
© Warren Smith

Eine andere authentische Quelle möchte ich noch hinzufügen:

Z.B. einige Zitate des Historikers und Tibetexperten Warren Smith[8]:

„Die Anzahl der ‚funktionierenden Klöster‘ war nach einer chinesischen Schätzung von 2.711 im Jahr 1958 auf 370 im Jahr 1960 gesunken, während die Zahl der Mönche von geschätzten 114.000 auf 18.104 sank (beide Zahlen beziehen sich nur auf die A.R.T.).“

„Weniger als 1.000 Mönche blieben in den acht Klöstern, die nicht während der Kulturrevolution zerstört wurden.“

Weitere Informationen zu diesem Thema finden sich bei:

  1. Robert Barnett in: Blondeau/Buffetrille: Authenticating Tibet: Answers to China’s 100 Questions. University of California Press, Berkeley 2008, pp. 88-90.
  2. From Liberation to Liberalisation Dharamsala: The Information Office of His Holiness the Dalai Lama 1982. From the second fact finding delegation in 1980: Phuntsog Wangyal, The Report from Tibet, pp. 139-140. (Gesellschaft für bedrohte Völker und Verein der Tibeter in Deutschland (Hrsg.): Tibet – Traum oder Trauma. Reihe Pogrom 131/132, Göttingen/Bonn 1987)
Beschädigte Wandmalerei, SamyeBeschädigte Wandmalerei, Samye
© Elke Hessel

Fussnoten

[1] David N. Kay: Tibetan and Zen Buddhism in Britain. RoutledgeCurzon, London 2004. http://tinyurl.com/crncb95

[2] Robert Barnett: Human Rights in Tibet before 1959 [Übersetzung]. In: Authenticating Tibet: Answers to China’s 100 Questions, edited by Anne-Marie Blondeau and Katia Buffetrille. Foreword by Donald Lopez. University of California Press, Berkely 2008, pp. 81–84.

[3] Zum völkerrechtlichen Status Tibets, siehe Eckart Klein: Der völkerrechtliche Status Tibets. In: Tibet-Forum 2/1995.

[4] Die Stuttgarter Zeitung zitiert Vizegouverneur Pu Quiongs Aussagen während der offiziellen chinesischen Pressekonferenz, die in Lhasa stattfand. Diese war Teil des Besuchs von Helmut Kohl in Tibet im Juli 1987. Die Pressekonferenz wurde in chinesischer Sprache gehalten und von offiziellen chinesischen Dolmetschern ins Deutsche übersetzt. Der Audio-Mitschnitt dieser Pressekonferenz existiert noch.

[5] Zum Aufstand siehe auch: Tsering Shakya: Blood in the Snows, und: The Dalai Lama’s Press Statements. Statement issued at Tezpur, 18th April, 1959. http://tinyurl.com/3g6eyw und http://tinyurl.com/lnofs4d

[6] Chos-kyi-dba-phyug (Panchen Lama VII): Poisoned Arrow. The Secret Report of the 10 th Panchen Lama. Tibet Information Network 1997, S. 52.

[7] Ebd., S. 57.

[8] Warren Smith: Tibetan Nation: a history of Tibetan nationalism and Sino-Tibetan relations. Westview Press, Boulder/Colorado 1997, S. 544, 561.

Bhikshu Tenzin Peljor ist deutscher Mönch in tibetischer Tradition. Er studiert und praktiziert Buddhismus seit 1996 und wurde von S.H. dem Dalai Lama 2006 zum Mönch ordiniert. Seit mehr als 10 Jahren leitet er Meditationskurse und unterrichtet in vielen Städten Deutschlands, u.a. im Tibethaus Deutschland. Seit 2008 studiert er am Istituto Lama Tzong Khapa in Italien das achtjährige Masters-Programm buddhistischer Studien. Von Ringu Tulku Rinpoche wurde er 2007 zum Residenzmönch für Bodhicharya Deutschland in Berlin berufen.

www.tenzinpeljor.de

© Tenzin Peljor und Chökor.

Veröffentlicht in: Chökor – Tibethaus Journal / Ausgabe Juli/2013, S.38–43.
Mit freundlicher Genehmigung von Chökor – Tibethaus Journal.

Ornament

Titelbild: Kloster Rongphu (Base Camp Chomolungma). Hinter dem wiederaufgebauten Kloster befinden sich die Ruinen des völlig zerstörten alten Klosters.