Zur Geschichte Tibets
Tsering Shakya
Asiatische Forschungen
Universität von Columbia (Großbritannien)
Die chinesische Zivilisation hat der Geschichte immer große Bedeutung beigemessen, und das heutige kommunistische Regime bildet da keine Ausnahme. In dieser Hinsicht besteht eine Gemeinsamkeit zwischen Tibetern und Chinesen. Auch Tibet besitzt eine lange Tradition historischer Schriften und ist sehr an der Vergangenheit interessiert. Es ist aber auch offensichtlich, daß beide Nationen die Vergangenheit sehr unterschiedlich sehen.
Heute benutzen beide Seiten die Geschichte zur Untermauerung ihrer gegenwärtigen politischen Ziele. In diesem Krieg werden historische Tatsachen zu Geschossen, die abgefeuert werden, um die Argumente der Gegenseite zu vernichten. Alte Schriften, Dokumente, Memoiren und literarische Werke sind zum Waffenarsenal geworden. Die Geschichte ist zum Schlachtfeld geworden, auf dem die Wahrheit das Opfer ist.
Noch eine weitere Analogie besteht zwischen der tibetischen und der heutigen chinesischen Geschichtsschreibung. Die tibetische Geschichtsschreibung neigt - zumindest seit dem Aufkommen des Buddhismus - dazu, die gerade Linie der geistigen Entwicklung zu betonen: vor dem Buddhismus sei Tibet ein finsterer, höllischer Ort gewesen und erst der Buddhismus habe großen geistigen und materiellen Fortschritt und Zivilisation in das Land des Schnees gebracht. Ähnlich glauben die Kommunisten, daß Tibet vor der Befreiung ein Land des feudalen Aberglaubens und die Hölle auf Erden gewesen sei. Nach ihrer Lesart brachte die Kommunistische Partei Glück und Fortschritt nach Tibet.
Dieses primitive Geschichtsbild bildet die Grundlage, auf der das Establishment steht, und das Problem ist, daß diese Denkweise keinen Raum für Hinterfragen oder abweichende Meinungen läßt und alle historischen Fakten in das enge Korsett der herrschenden Ideologie zwängt, so daß jede freie Debatte und Diskussion verhindert wird.
Der chinesische Professor Ding Ziling, dessen einziger Sohn bei dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz umkam, schreibt, daß sich unter den chinesischen Massen infolge der kommunistischen Propaganda ein kollektives Bewußtsein herausgebildet habe, das bei ihnen die Überzeugung gefestigt habe, Tibet sei ein integraler Bestandteil Chinas. Dieses Argument appelliert an das Nationalgefühl und den Patriotismus der Chinesen. Das Problem ist laut Ding Ziling, daß den meisten Menschen in China keine unabhängigen Geschichtsquellen zur Verfügung stehen. Entweder hat die Partei historische Zeugnisse verfälscht oder sie verweigert jeglichen Zugang zu unabhängigen Quellen.
Wie dreist die Kommunisten die Geschichte revidieren, zeigte sich Anfang der achtziger Jahre, als Tibet erstmals für Touristen geöffnet wurde: die chinesische Regierung druckte damals einen Postkartensatz vom Potala-Palast, der ganz richtig eine Karte enthielt, auf der der berühmte tibetische König Songtsen Gombo abgebildet war, und eine weitere Karte, die die chinesische Prinzessin zeigte. In dem Kartensatz fehlte aber jeder Hinweis auf die Heirat Songtsen Gombos mit der nepalesischen Prinzessin Bhukuti. Der Grund dafür ist der, daß die Kommunisten die Heirat mit der chinesischen Prinzessin immer als Symbol für die Heirat des tibetischen Volkes mit China angeführt haben. Das Bild der nepalesischen Prinzessin hatte diese schöne Idee verdorben und wurde deshalb aus der Geschichte gestrichen.
In den letzten Jahren hat die chinesische Regierung in Lhasa ein riesiges Archivzentrum gebaut, das zu einem bedeutenden Forschungszentrum für tibetische Geschichte und Kultur werden soll. Ein anläßlich der Eröffnung des Zentrums herausgegebener Hochglanz-Bildband zeigt eine sorgfältig ausgewählte Sammlung von Dokumenten, mit denen bewiesen werden soll, daß Tibet ein intergaler Bestandteil Chinas ist. Es werden Dokumente angeführt, die die Verleihung von Titeln an tibetische Lamas belegen, und natürlich wird auch die finstere feudale Unterdrückung Tibets vor der Befreiung dargestellt.
Geschichte handelt jedoch nicht nur von der hohen Politik. Für die einfachen Menschen sind imperiale Diplomatie und hohe Politik tatsächlich nur von zweitrangiger Bedeutung. Worauf es für sie ankommt, ist das, was die gemeinsame Erfahrung sie lehrt. Für sie ist die Trennung von Tibet und China so selbstverständlich wie der Unterschied von Milch und Wasser. Die Grenze zwischen Tibet und China ist nicht nur geographisch - durch das Hochland und die Flüsse - markiert, sondern, was noch wichtiger ist, die tibetische Selbständigkeit manifestiert sich auch in der Andersartigkeit der Sprache, der Sitten, der Kultur, der Traditionen und der Religion.
1991 schrieb ein hoher chinesischer Beamter namens Huang Mingxin, der während der Verhandlungen über das 17-Punkte-Abkommen Mitglied des chinesischen Übersetzerteams gewesen war, in der Zeitung China's Tibet einen Artikel über die bei dem Treffen aufgetretenen Übersetzungsprobleme. Ein einziger kurzer Satz in seinem Artikel verdeutlicht mehr über Tibet und China, als alles, was ein Historiker darüber sagen konnte. Huang Mingxin hatte entdeckt, daß die tibetische Sprache kein Wort für das große chinesische Mutterland hat.
Das heißt, es gibt im Tibetischen keinen Begriff oder Terminus, der darauf hindeutet, daß Tibet ein Teil Chinas ist. Wenn Tibeter den Terminus Gya mi oder Gya nag benutzen, dann schließen sie sich selbst davon aus. Es gibt keinen tibetischen Terminus, der Chinesen und Tibeter gleichermaßen in einer einzigen geographischen oder politischen Einheit zusammenfaßt.
Natürlich konnte die Kommunistische Partei das nicht begreifen, denn für sie stand längst fest, daß Tibet ein Teil Chinas ist. Wie das tibetische Volk darüber dachte, spielte keine Rolle. In seiner zweitausendjährigen Geschichte hat sich das tibetische Volk niemals als Teil der großen chinesischen Nation gesehen. Das kommt in seiner Lebensweise und seiner Weltsicht zum Ausdruck. Meine Mutter, eine einfache Frau und Analphabetin, sagte immer, Tibet habe existiert, seit das Universum entstand, wie könne es also ein Teil Chinas sein? Für die Tibeter ist Tibet so alt wie das Universum selbst.
Auch wenn wir einen Blick in die Geschichte werfen, stellen wir fest, daß die Verbindungen Tibets zum chinesischen Herrscher nie ein Untertanenverhältnis waren. Die stärkste Verbindung zwischen Tibet und China bestand während der Yuan-Dynastie. Aber gerade dies ist eine Periode, die von chinesischen Historikern als Fremdherrschaft betrachtet wird. Die Yuan-Dynastie war eigentlich ein mongolisches Regime. Wie viele Länder in Fernost und Zentralasien fiel auch Tibet unter den Einfluß der Mongolen. Es war ungefähr die gleiche Situation wie in Südasien, als es unter die Kolonialherrschaft der Briten fiel: als Indien seine Unabhängigkeit erlangte, hatte es nicht das Recht zu verlangen, daß Sri Lanka und Burma von Indien regiert werden mußten, nur weil diese beiden Länder Teil des britischen Weltreichs gewesen waren und zeitweilig der Verwaltung in Delhi unterstanden hatten.
Aber auch so sind die Beziehungen Tibets zur Yuan-Dynastie nie Beziehungen von Untertanen zum Herrscher gewesen. Das Verhältnis, so wie es in den einzigartigen sozialen und kulturellen Werten seiner Zeit zum Ausdruck kam und die Bezeichnung Cho yon trug, war das eines Priesters und Lehrers. Es war ein persönliches Verhältnis zwischen den Dalai Lamas und den Yuan-Kaisern und wurde von den Tibetern nie so verstanden, daß es einen Status Tibets als integraler Bestandteil Chinas begründen wurde.
Wenn wir den Status Tibets im Lichte der modernen politischen Wissenschaft untersuchen, dann stellen wir fest, daß Tibet ein von China unabhängiger Staat ist. Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, hierauf in allen Einzelheiten einzugehen. Heute sind sich die meisten Völkerrechtler und Politikwissenschaftler darin einig, daß das Hauptkriterium für die Unabhängigkeit eines Staates die Frage ist, ob die Regierung eines Territoriums die inneren und äußeren Angelegenheiten des Staatsgebiets ganz in der Hand hat. Zweifellos haben alle tibetischen Herrscher - seit dem 17. Jahrhundert die Regierungen der Dalai Lamas - die inneren und äußeren Angelegenheiten des Staatsgebiets ganz in der Hand gehabt. Die chinesischen Kaiser und Herrscher mögen Verordnungen und Gesetze erlassen haben, aber die hatten in Tibet keine reale Bedeutung. Für die Tibeter bedeuteten sie nicht mehr, als wenn ein irdischer Herrscher Gesetze erlassen hatte, die auf dem Mond zu befolgen waren.
Der Gedanke, Tibet sei ein integraler Bestandteil der chinesischen Nation, ist erst in jüngerer Zeit aufgekommen. Er entstand vor allem am Anfang dieses Jahrhunderts, als auch der chinesische Nationalismus aufkam. Sun Yat-sen war der erste, der China als Nation von fünf Rassen beschrieb: Han-Chinesen, Mongolen, Tibeter, Uiguren und Manchu. Die Kommunisten übernahmen diese Idee und benutzten sie als Slogan für die Vereinigung des Mutterlands und für die Vertreibung der imperialistischen Kräfte, die das Mutterland "gespalten" hatten.
Ein weiterer Leitgedanke, der in der chinesischen Geschichtsschreibung über Tibet endlos wiederholt wird, besagt, Fremde hätten stets versucht, das Mutterland zu spalten. Der Wunsch der Tibeter nach Freiheit und Unabhängigkeit wird als Teil einer ausländischen Intrige gesehen. Die Chinesen und die Kommunisten haben nie akzeptieren können, daß es sich dabei um legitime Forderungen des tibetischen Volkes handelt.
Die KP hat den Gedanken der ausländischen Intrige dazu benutzt, ihr eigenes Versagen und ihren Mangel an Vernunft zu bemänteln.
Die heutige Generation chinesischer Intellektueller ist offener und in der Lage, die Täuschungen der KP zu durchschauen. Sie sind gewillt, historische Fakten zu prüfen und sich ein Bild von den legitimen Forderungen der gewöhnlichen Menschen zu machen. Geschichte muß auch die Sichtweisen der gewöhnlichen Menschen einschließen, die häufig mißachtet worden sind. In diesem Licht gesehen, ist es klar, daß die Geschichte Tibets und Chinas so unterschiedlich ist wie Tag und Nacht.
Bis jetzt bin ich nur auf die negativen Aspekte der chinesischen Geschichtsschreibung eingegangen. Das läßt vermuten, das nur die Chinesen fähig zu Täuschung und Geschichtsverzerrung sind. Aber natürlich ist die primitive Sichtweise, alle Chinesen seien schlecht und alle Tibeter seien gut, falsch. Auch wir Tibeter sind äußerst selektiv in unserer Geschichtsdarstellung und können ebenso an selbstgemachter Gedächtnisschwäche leiden. Als Schüler einer Flüchtlingsschule in Indien lernte ich über China nichts als die Liste der von der Kommunistischen Partei begangenen Verbrechen.
In unseren Lehrbücher stand nichts über China und seine Leistungen. Die einzige Erwähnung Chinas betraf die Heirat von Songtsen Gombo mit der chinesischen Prinzessin. Wie anders interpretierten wir Tibeter diese Heirat! Hier wurde sie als Macht der tibetischen Könige über das China der Tang-Dynastie dargestellt.
Heute, in der Rückschau, wundert man sich, daß unsere Geschichtsbücher China nicht einmal erwähnten. Als ob China als Nachbar nie existiert hätte und die Welt irgendwo in Kham oder Amdo enden würde. Es ist diese Realitätsblindheit, die zur Tragödie unseres Landes geführt hat. China ist unser großer Nachbar, dessen Dasein sich nicht wegwischen läßt. Auch wir müssen Chinas Geschichte und ihren Einfluß auf unsere Lebensweise, Sprache und Kultur anerkennen.
Die Kommunisten haben jede Verbindung und gemeinsame Tradition dazu benutzt, ihre Herrschaft über Tibet zu rechtfertigen. Wir Tibeter reagieren genau anders herum: wir weigern uns, jegliche gemeinsame Tradition und jeglichen Einfluß, den China über unser geliebtes Land des Schnees ausgeübt haben mag, anzuerkennen.
Es ist eine Grundwahrheit, daß es eine objektive, ideologiefreie Geschichte ohne wirtschaftliche und politische Zwänge nicht gibt. Es liegt jedoch in der Verantwortung von Akademikern, Intellektuellen und freiheitsliebenden Menschen, die von den politischen Regimen angelegten Scheuklappen abzulegen und Lehren aus der Geschichte zu ziehen. ■