Kālacakra Tantra: Śambhala – Mythos oder Wirklichkeit?

Bhikṣuṇī Jampa Tsedroen
(Carola Roloff)

Inhalt

Die Diskussion um das Reine Land Śambhala und die Mythen Shangri-La und Tibet findet seit langer Zeit in wissenschaftlichen und politischen Kreisen statt. Für die spirituelle Praxis im tibetischen Buddhismus, insbesondere auch des Kālacakra-Tantra, ist sie von untergeordneter Bedeutung. Denn hier geht es um das Erreichen der Vollkommenheit eines Buddha mit Hilfe von Weisheit und Methode. Als Methode dienen im Tantra besondere Meditationen wie der Gottheiten-Yoga und die Übung reiner Wahrnehmungen. Śambhala ist für die tibetischen Meister, die das Kālacakra-Tantra praktizieren, vor allem ein Reines Land, in das fortgeschrittene Yogis und Yoginīs gelangen können, um dort den tantrischen Pfad zu vollenden. In dieser Hinsicht unterscheidet es sich nicht von anderen Reinen Ländern wie Sukhāvati.

Kalachakra Gottheit mit Gefährtin VishvamataKālacakra Gottheit mit Gefährtin Viśvamata
© Wonderlane |  (CC BY 2.0)

In den tantrischen Schriften wird auch beschrieben, wo das Tantra gelehrt wurde. Buddha Śākyamuni hat in Indien viele Belehrungen gleichzeitig gegeben. So heißt es, dass er in Rājagṛha Belehrungen über die Vollkommenheit der Weisheit gab, während er gleichzeitig in Südindien einem Śambhala-König das Kālacakra-Tantra lehrte. Zu diesem Zweck ist er dort in Gestalt der Kālacakra-Gottheit in Vereinigung mit seiner Gefährtin erschienen. Auch in verschiedenen Götterbereichen hat er tantrische Belehrungen gegeben, zum Beispiel im Bereich der „Dreiunddreißig“ und im „Freudvollen Land“. Außerdem heißt es, der Buddha habe an verschiedenen Nāgā- und Yakṣa-Orten und auch innerhalb dieser Welt, die Jambudvīpa genannt wird, an Plätzen wie Oddiyana und so weiter spezielle tantrische Unterweisungen gegeben.

Śambhala, auf Deutsch „Quelle des Glücks“, ist der Name eines sagenumwobenen Landes, das erstmals in der frühen Hindu- und Buddhismus-Literatur genannt ist. Historisch erscheint die Ortsbezeichnung „Śambhala“ erstmals in dem prophetischen Hindu-Mythos von Kalki im Mahābharata-Epos und in der epischen Literatur der Puraṇas. In Hindu-Texten ist Śambhala der Name eines Brahmanendorfes, das der Geburtsort von Kalki, künftiger Welterlöser und zehnte Inkarnation des Viṣṇu, sein wird.

John Newman, der 1987 in Wisconsin-Madison in Buddhistischen Studien über das Kālacakra-Tantra promovierte, sagt, der auf Viṣṇu bezogene Mythos von Kalki sei von Autoren der indisch-buddhistischen Tantra-Literatur des Kālacakra (Zeitenrad) entliehen und adaptiert worden. In den buddhistischen Kālacakra-Texten wird Śambhala jedoch nicht mehr als bloßes Dorf beschrieben, sondern als ein mächtiges Königreich in der Mitte eines Imperiums, bestehend aus 96 großen Ländern und mehr als einer Milliarde Dörfern. Die Texte schildern es als die Heimat einer langen Dynastie von Bodhisattva-Königen, bekannt als Kalkin. Einer Prophezeiung zufolge soll am Ende des Kali-Zeitalters der letzte, 25. buddhistische Kalkin, Raudra Cakrin, die Armee von Śambhala in einen „Großen Krieg“ führen und „die Barbaren“ besiegen (Cabezon/Jackson 1996, 485-499). Historisch-kritisch betrachtet muss man davon ausgehen, dass das Kālacakra-Tantra erst zur Zeit der islamischen Invasion Nord-West-Indiens Anfang des 11. Jahrhunderts verfasst wurde. Newman nimmt an, dass der indisch-buddhistische Mythos von Śambhala teilweise als Reaktion auf die aktuelle Lage, das heißt die massive Zerstörung buddhistischer Stätten in Indien geschaffen wurde.

Ob Buddhisten auf Grund der historischen Fakten nun weiterhin annehmen, dass das Tantra vom Buddha selbst zu seinen Lebzeiten gelehrt, über Jahrhunderte mündlich tradiert und später schriftlich niedergelegt wurde oder dass es erst im 11. Jahrhundert durch eine mystische Begegnung mit Kālacakra entstanden ist, macht für die Praxis keinen Unterschied. Aus Sicht des Historikers muss man aber heute davon ausgehen, dass das Kālacakra-Tantra das letzte in Indien entstandene Tantra war und bisher der einzig bekannte Sanskrit-Text ist, in dem die Existenz des Islam offiziell bemerkt wird. Darauf weist Newman wie früher auch schon Winternitz in seinem Aufsatz Islam in the Kālacakra Tantra (1998) hin.

Das Reine Land, in dem der Dharma blüht

Erstaunlich ist, dass es im Zusammenhang mit dem Śambhala-Mythos sogar tibetische „Wegbeschreibungen“ oder „Reiseführer“, auf Tibetisch „Lamyig“ (lam yig), gibt, die Turrell V. Wylie als „religiöse Geografie“ bezeichnet und Newman im Einzelnen auflistet. Die meisten beschäftigen sich mit Pilgerreisen. Zu der Frage, ob Śambhala wirklich exisitiert und wenn ja, wo und ob in dieser Welt oder in einer anderen, gibt es zahlreiche Interpretationen und Theorien. Die indische Kālacakra-Literatur, so Newman, macht klare Ortsangaben zu Śambhala. Danach liegt es nördlich von Indien und dem Śītā Fluss, den er als Tarim-Fluss in Ost-Turkestan identifiziert, und auf einem Breitengrad nördlich von Tibet, Khotan und China. Wenn Śambhala also nördlich von China und nördlich vom Tarim-Fluss liegt, dann müsse es in der nördlichen Region des Tienschan (Tian Shan) liegen, einer rund 2500 Kilometer langen Hochgebirgskette in Zentralasien (Kasachstan, Kirgisien, China).

Während im Westen Tibet als das geheimnisvolle Land Śambhala angesehen worden ist, haben die Tibeter ihr heiliges Land an einem anderen Ort gesucht, so Bernbaum in seinem Werk Der Weg nach Shambhala (Hamburg: Papyrus 1982). Tibetische Texte verweisen auf ein irgendwo nördlich von Tibet hinter Schneebergen versteckt liegendes Königreich. Dort bewacht eine Dynastie erleuchteter Könige die geheimsten Lehren des Buddhismus während einer Zeit, in der die Wahrheit durch Krieg und die Gier nach Macht und Reichtum von der Welt verschwunden sein wird. Dann wird – gemäß der Prophezeiung – der zukünftige König von Śambhala mit einer mächtigen Streitmacht erscheinen, um „die Mächte des Bösen“ vernichtend zu schlagen und ein „Goldenes Zeitalter“ einzuleiten. Unter seiner erleuchteten Herrschaft wird die Welt schließlich ein Ort des Friedens und des Wohlstands werden, durchdrungen von den Schätzen der Weisheit und des Mitgefühls. Nur jene, die dazu berufen sind und die notwendigen geistigen Voraussetzungen besitzen, können nach Śambhala gelangen.

Obwohl Śambhala im tibetischen Volksbuddhismus vielfach als Götterhimmel betrachtet wird, halten viele Lamas es für ein Reines Land, so Bernbaum, also für ein Buddha-Land, eine Art von Paradies für jene, die sich auf dem geistigen Weg befinden. Es soll das einzige Reine Land sein, das auf dieser Erde existiert. Auch der Dalai Lama habe ihm gegenüber geäußert, dass Śambhala eine materielle Existenz besitze und auf dieser Welt angesiedelt sei.

In beiden Traditionen, der indischen wie der tibetischen, sei Śambhala Zielort und Fokus eschatologischer Vorstellungen, so Oppitz in seiner Semiologie eines Bildmythos. In der buddhistischen Tradition würden die „feindlichen Barbaren“ vorzugsweise mit den Muslimen gleichgesetzt, in der indischen je nach dem, wann die Texte eingeschoben wurden, mit den Mlecchas, den Dasyas, den Śudras, ja selbst mit den Buddhisten. Im indischen Raum würden die Schriften, in denen der Mythos von Kalki Erwähnung findet, über eine Zeit von weit mehr als tausend Jahren zurückreichen. Sein erstes Auftauchen in einem Text gehe auf das zweite oder erste vorchristliche Jahrhundert zurück. Die einzelnen Puraṇas seien zum größten Teil danach bis ins 10. Jahrhundert unserer Zeitrechnung kompiliert worden, während die letzten möglicherweise im 12. oder 13. Jh. ihre endgültige Form erhalten haben.

Der Mythos und die Politik

An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert greift der Mythos nachweislich von der Literatur auf den Bereich der Politik über. Ein burjatischer Lama names Dorjijew, der als Lehrer und Ratgeber des 13. Dalai Lama am Potala großen Einfluss besaß und später am Hofe des Zaren Nikolaus II. zweimal zur Audienz geladen wurde, wusste, so Oppitz, geschickt den vagen und passiven Adventismus der Śambhala-Idee zu aktivieren und mit den handfesten Interessen einer politischen Macht in Verbindung zu bringen. Dorjijew sei der Verfasser eines Pamphlets gewesen, in dem ganz offen das nordwestliche Reich Śambhala mit Russland identifiziert und der Zar als eine Reinkarnation von Tsongkapa ausgegeben worden sei. Er habe behauptet, der Zar stehe im Begriff, das erwartete buddhistische Weltreich zu errichten. Wer ein Freund des Buddhismus sei, der müsse auch ein Freund des russischen Zaren sein.

Kalachakra/Shangri-la-Shambhala

Viele benutzten Śambhala oder, in englischer Verballhornung „Shangri-La“, für ihre weltlichen Zwecke: Romane, Filme, sogar Läden wurden danach benannt.
(aus Martin Brauen, Traumwelt Tibet / Haupt-Verlag 2000)

Diese Auslegung der Śambhala-Idee sei der damaligen Asienpolitik des Zaren zupass gekommen, und auch „viele Tibeter“ sollen ihre Hoffnungen in sie gesetzt haben. Die Engländer hätten die russisch-tibetische Annäherung als eine Bedrohung ihrer eigenen kolonialen Interessen in Indien und Tibet verstanden. Sie habe schließlich zu der britischen Invasion in Tibet geführt, welche das schlechte Gewissen der Sprache gern zur Younghusband „Expedition“ oder sogar „Mission“ verharmlost habe.

1933 ist der Śambhala-Mythos schließlich in dem englischen Reise- und Utopia-Roman Lost Horizon des Engländers James Hilton zum Shangri-La-Mythos abgewandelt und 1937 in einem Hollywood-Streifen visuell umgesetzt worden. In der Folgezeit hat sich das Wort Shangri-La in der englischen Sprache etabliert, um das sich viele Mythen und Vorstellungen ranken. Kein Wunder, dass Śambhala und die ihm zugrundeliegenden Texte des Kālacakra-Tantra auch eines der Hauptthemen des Bonner Symposiums „Mythos Tibet“ waren (Dodin/Räther 1997).

Obwohl ein indischer Meister namens Cilupā tatsächlich nach Śambhala gereist sein soll, wird es wie ein Reines Land beschrieben, ein Ort jenseits einer gewöhnlichen Reise, ein Land, das nur denen erscheint, die viele Verdienste haben. Durch entsprechende Wunschgebete kann man dort geboren werden und die Unterweisungen der Kulikas genießen. Auch eine Initiation setzt Anlagen für eine Wiedergeburt in Śambhala nicht nur zum Zwecke der Fortführung der Praxis des Kālacakra-Systems, sondern auch, um sich unter der Obhut und dem Schutz des Kulika Rudra zu befinden. Somit sei Śambhala für viele Tibeter, Mongolen, Bhutanesen, Sikkimesen, Nepalesen und Ladhakis ein Leuchtfeuer der Hoffnung in einer Welt der Tragödie (Dalai Lama/Hopkins 1985, 65).

Der illusionäre Krieg von Śambhala

Bis zum heutigen Tag, so Newmann in seinem Aufsatz „Eschatologie im Zeitenrad-Tantra“ (NEWMAN 1995), regieren die Kalkins von Śambhala in ihrem zentralasiatischen Paradies auf Erden, wo sie die Zeitenrad-Lehren vor den negativen Kräften schützen. Am Ende des jetzigen Zeitalters der Degeneration, wenn „die Barbaren“ die Erde außerhalb Śambhalas überrannt haben, wird laut Prophezeiung der letzte Kalkin, Cakrin, seine große Armee versammeln und die Streitmächte des Islam zerstören. Dann wird Cakrin nach Śambhala zurückkehren, um ein neues Zeitalter der Vollkommenheit einzuleiten, in dem der Buddhismus blühen wird und die Menschen lange in Glück und Gerechtigkeit leben werden.

Mandala Depicting Kalachakra and Vishvamata, Tibet, first half 16th Century, 54.6 x 49.5 cm.

Maṇḍala Depicting Kālacakra and Viśvamata, Tibet, first half 16th Century, 54.6 x 49.5 cm.

Der tibetische Begriff für Barbar ist „Lalo“ (kla klo, mleccha). Er kann sowohl im Tibetischen als auch im Sanskrit als „Barbar“ übersetzt werden. Unter den Tibetern versteht man unter einem „Lalo“ allgemein jemanden, der in einem entlegenen Land lebt, was das Gegenteil von einem zentralen Land ist. In einem zentralen Land gibt es die vier Stände des Buddha, männliche und weibliche Laien sowie Mönche und Nonnen. Länder, in denen es diese vier Stände nicht gibt, werden entlegen genannt. Ihre Bewohner sind Fremde oder, wenn man es archaisch ausdrücken will, „Barbaren“. Dieser Begriff findet z.B. in der Lamrim-Literatur Erwähnung und ist dort in diesem allgemeinen Sinn zu verstehen. Newman, der sich in seiner Arbeit aber hauptsächlich auf das „Äußere Kālacakra“, also die Kosmologie, und den Śrī Kālacakra-Kommentar Vimalaprabhā stützt, identifiziert die „Barbaren“ dort in diesem Kontext als „Muslims“. Selbst der Wurzel- oder Grundtext, also das Tantra selbst, erwähnt sie, obwohl es den Islam zu Lebzeiten des Buddha noch nicht gab. Es handelt sich hier also um ein historisches Faktum, das wir als Buddhisten nicht ignorieren können, auch wenn wir ihm für die heutige Zeit keine große Bedeutung mehr beimessen. Es ist ein Stück Geschichte, das es zu verarbeiten gilt.

Newmans Einschätzung nach waren einige frühere tibetische Gelehrte wie Bu-ston und Tāranātha sich bewusst, dass im Kālacakra-Tantra von Muslimen die Rede war, während die meisten zeitgenössischen tibetischen Gelehrten es entweder nicht wissen oder es vorziehen, dies nicht zu betonen. Das ist auch mein persönlicher Eindruck. Aber natürlich kann man die Geschichte nicht rückgängig machen. Die islamische Invasion Indiens war hauptverantwortlich für die völlige Auslöschung des indischen Buddhismus. Die indischen Buddhisten haben sich der islamischen Invasion ähnlich wie die Tibeter bei der chinesischen Invasion ihres Landes 1950/51 kaum zur Wehr gesetzt. Das einzige, was sie, historisch betrachtet, der Gewalt entgegensetzen, war der Mythos des Śambhala-Krieges.

Newman weist deutlich darauf hin, dass das Kālacakra-Tantra diesen äußeren Krieg mit den Barbaren als „Illusion“ beschreibt. Der Buddha habe das Kālacakra-Tantra bloß als geschicktes Mittel gelehrt, um die Loyalität der Hindu-Brahmanen zu wecken. Tatsächlich wäre der äußere Krieg einfach nur ein magisches Spiel. Durch meditative Konzentration wird Kalkin Cakrin zahllose magische Pferde aussenden, welche den Geist der Lebewesen gefangennehmen werden. Desweiteren wird der tatsächliche Krieg nicht im Makrokosmos – in der äußeren Welt – stattfinden, sondern im Mikrokosmos, im Körper des Praktizierenden des Kālacakra-Tantras.

Das klingt ähnlich wie das Wirken des buddhistischen Ideals eines Weltherrschers (cakravartin), wie es im buddhistischen Kanon beschrieben wird (Schmithausen 1996). Danach erobert ein gerechter Herrscher die ganze Welt ohne Blutvergießen, und zwar dergestalt, dass dem König ein tausendspeichiges Rad vorauseilt, dem er mit seinem Heer folgt und dem die „Gegenkönige“ sich kampflos unterwerfen. Nach Eroberung des gesamten Erdkreises regiert er gewaltlos und gerecht; da die von ihm bei der Eroberung erlassenen Moralgesetze allgemein geachtet werden, gibt es weder Verbrechen noch Strafen, und natürlich mangels Feinden auch keine Kriege.

Der Krieg gegen die Unwissenheit

Der eigentliche Krieg im Kālacakra-Tantra, so Newmann (1997), ist der Kampf zwischen den Kräften der Erleuchtung und der Unwissenheit, der den Pfad des Yogin charakterisiert. Wenn der Yogin diamantengleiche Erkenntnis (Gnosis) erlangt, die transformierende Weisheit, die das Ziel des Zeitenrades ist, überwindet er oder sie den inneren Barbarismus, der das Böse der Existenz kreiert. In der esoterischen, allegorischen Interpretation des Mythos symbolisiert der Krieg zwischen Kalkin und Islam die radikale Erleuchtung des Yogin, wobei das korrekte Verständnis der Realität die Dunkelheit der Unwissenheit vertreibt.

Es ist vom eigenen Karma abhängig, so Mullin (1991), wie Śambhala einem erscheint. Zum Beispiel wird auch ein und derselbe Fluss von Göttern als Nektar, von Menschen als Wasser, von Hungrigen Geistern als Eiter und Blut und von einigen Tieren als Lebensraum wahrgenommen. Der 3. Pantschen Lama schlägt in seinem Reiseführer nach Śambhala vor, dass es dreierlei ist: 1. ein yogischer Zustand der Erlangung von Kālacakra, 2. ein Reines Land, 3. ein tatsächlich physischer Ort. Es sei aber vor allem die Rolle eines Reinen Landes, welche die Herzen der meisten Zentralasiaten gefangen halte. Im Geist von hohen Yogis und einfachen Nomaden stehe Śambhala für einen hervorragenden Ort, an dem diejengen, die ein klares Herz und positives Karma haben, in einer Umgebung von Glück und Erleuchtung Wiedergeburt nehmen können. In diesem Sinne eines Reinen Landes ist Śambhala für Buddhisten also kein Mythos, sondern Wirklichkeit, allerdings nur mit entsprechender spiritueller Reife erreichbar.

Michael Henss (1996, 123-136) schreibt in seinem erstmals anlässlich der Kālacakra-Initiation in Rikon (Schweiz) 1985 herausgegebenen Buch Kalachakra: In einem Interview habe S.H. der Dalai Lama die Bedeutung der Kālacakra-Einhweihung für die Erhaltung und Ausbreitung des Weltfriedens in der heutigen Zeit herausgestellt. Die Teilnahme an der Einweihung könne friedensschaffende Energien vermitteln, die in diesem Tantra vorhanden sind. Ziel dieser Lehre ist es, den Geist des Menschen von Unwissenheit und Täuschung, den Ursachen des Leidens zu befreien.

Henss zitiert S.H. den Dalai Lama auch zu der Frage, was den Pfad des Kālacakra-Tantra ausmacht: Kālacakra ist ein tantrisches System mit mehreren einzigartigen Merkmalen. Gewöhnlich besteht das Höchste Yoga-Tantra aus zwei Gruppen: „Verborgene Tantras“ wie das Guhyasamāja und „Klare Tantras“ wie das Kālacakra. Das Kālacakra-Tantra ist ein sehr spezielles Tantra für diejenigen, die die richtigen körperlichen, geistigen und karmischen Voraussetzungen mitbringen. Diese besonderen Qualitäten kommen zum Vorschein, nachdem man die vorgestellten Yoga(-Tantras) der Schöpfungsphase (Erzeugungsstufe) beendet hat und man den Yoga der wahren Vollendungsphase (Vollendungsstufe) ausübt. Das Kālacakra-Tantra ist einzigartig in seiner Darstellung der sechs diese Vollendungsphase bildenden Yogas. Es ist nicht angemessen, diese Themen öffentlich darzulegen.

Kalachakra MantraMonogram of the Kālacakra mantra »hkṣmlvryaṃ« in stylised Lanydza or Ranjana script.
© Christopher J. Fynn | (CC BY-SA 4.0)

Die Meditation der Schöpfungsphase lässt den Geist für die Yoga-Übungen der Vollendungsphase reifen. Es werden drei Kālacakras gelehrt: das Äußere Kālacakra – die Elemente des Universums, in dem wir leben; das Innere Kālacakra – die psycho-physischen Aggregate, die Fähigkeiten der Empfindung und der Psyche der Lebewesen; das Alternative Kālacakra – der Weg der Schöpfungs- und Vollendungs-Yogas, die die beiden vorangehenden Kālacakras zu reinigen die Macht haben. Das Äußere Kālacakra wird gewöhnlich im Zusammenhang mit unserer Erdenwelt erklärt. Wenn man über das Kālacakra-Maṇḍala meditiert, sieht man das Innere Kālacakra als den Körper, Gesichter, Hände, Füsse usw., ebenso alle das Maṇḍala umgebende Gottheiten, die als Symbole der Sterne, Planeten, Gestirne usw. visualisiert werden. Hieraus wird deutlich, dass Kālacakra eine besondere Beziehung zu allen Menschen dieser Erde hat. Desweiteren wird klar, dass die Kālacakra-Lehren auf drei Ebenen operieren. Das Äußere Zeitenrad, d.h. der Kosmos, ist eine Reflektion des Inneren Zeitenrades, also der Person mit Körper und Geist. Diese formen die Basis, die durch den Erlösungsweg, der durch die Erzeugungs- und Vollendungsprozesse des Kālacakra-Vajrayoga erzeugt wird, gereinigt werden.

Seine Heiligkeit der Dalai Lama nahm im November 2001 zu einer Anfrage unserer Redaktion über seine Einstellung zum „Krieg von Śambhala“ und seine Intention, warum er die Kālacakra-Initiation für den Weltfrieden gibt, wie folgt Stellung: Weil das gesamte buddhistische Tantra mit seinem Schwerpunkt auf dem Mitgefühl und dem Verständnis der Leerheit im Kālacakra-Tantra erklärt wird, haben sowohl Dsche Tongkapa als auch Bu-ston Rinpoche es als äußerst wichtig und tiefgründig erklärt. Ferner enthält es genaue Erklärungen über die Erzeugungsstufe und die Vollendungsstufe des Höchsten Yogatantra.

Dies ist der Grund, fasst sein Privatsekretär Tenzin Geyche Tethong zusammen, warum der Dalai Lama die Kālacakra-Unterweisungen gibt. Seine Heiligkeit hat dem historischen Teil der Kālacakra-Unterweisungen, wo es um das Śambhala-Königreich und den Krieg von Śambhala geht, die er nicht als wichtig erachtet, entsprechend keine Beachtung geschenkt.

Auch Vesna Wallace, Assistant Professor of Religious Studies an der University of California, meint, dass der Śambhala-Krieg als Metapher angenommen werden kann. Tatsächlich würden das Kālacakra-Tantra selbst und der Vimalaprabhā-Kommentar darauf aufmerksam machen, dass der Krieg von Śambhala bereits im Körper eines jeden Individuums stattfindet, mit Unwissenheit und Geistesplagen auf der einen Seite und den Tugenden, die aus der buddhistischen Praxis resultieren, auf der anderen Seite.

Je mehr die Übenden in der Praxis des Dharma fortschreiten, sind sie durch Mittel wie die Praxis des Gottheiten-Yoga von Kālacakra in der Lage, auf dem Pfad die subtilsten Bewusstseinsebenen bis hin zum Klaren Licht kontrolliert hervorzubringen und für die Meditation nutzbar zu machen und von Hindernissen zu reinigen. Dadurch wird der Frieden im Geist zunehmen, die äußere Welt wird sich gleichermaßen zu einer friedlicheren Welt entwickeln und die Gefahr eines Krieges nimmt ab. Liebe und Weisheit sind dafür wie in anderen Weltreligionen ausschlaggebend.

Ornament

Literatur zum Thema

BERNBAUM, Edwin: Der Weg nach Shambhala. Hamburg: Papyrus 1982.

DALAI LAMA XIV, Tenzin Gyatso / HOPKINS, Jeffrey: The Kalachakra Tantra. Rite of Initiation. London: Wisdom Publications, 1985.

DODIN, Thierry / RÄTHER, Heinz: Zwischen Shangrila und Feudalherrschaft. Versuch einer Synthese. In: DODIN / RÄTHER: Mythos Tibet. Köln: DuMont, 1997.

GESHE NGAWANG DHARGYEY: Kalacakra Tantra. Dharamsala: LTWA, 1985.

HENSS, Michael: Kalachakra. 4. nochmals überarbeitete Auflage. Ulm/Donau: Fabri Verlag, 1996.

MULLIN, Glenn H.: The Practice of Kalachakra. Ithaca, New York: Snow Lion Publications, 1991.

NEWMAN, John: A Brief History of the Kalachakra. In Geshe Lhundup Sopa et. al., The Wheel of Time, pp. 51-90. Madison, Wisconsin: Deer Park Books, 1985. Reprint: Ithaca, New York: Snow Lion, 1991.

The Outer Wheel of Time: Vajrayāna Buddhist Cosmology in the Kālacakra Tantra. Ph.D. dissertation. Madison: University of Wisconsin-Madison, 1987.

The Kalki Aātara of Viṣṇu and the Buddhist Kalkins of the Kālacakra Tantra: Myth as Polemic and Propaganda. Unpublished paper presented at the 41st Annual Meeting of the Association of Asian Studies, 1989.

Islam in the Buddhist Kālacakra Tantra. 1989. IABS [1998] 21.2:311-71.

Eschatology in the Wheel of Time Tantra. In: LOPEZ, Donald S. Jr. (Hrsg.): Buddhism in Practice. New Jersey: Princeton University Press 1995.

Itinearies to Sambhala. In CABEZÒN, José Ignacio / JACKSON, R. (Hrsg.): Tibetan Literature (Studies in Genre. Essays in Honor of Geshe Lhundup Sopa.) Ithaca, New York: Snow Lion 1996.

OPPITZ, Michael: Semiologie eines Bildmythos. Zürich: Völkerkundemuseum der Universtität Zürich, 2000.

SCHMITHAUSEN, Lambert: Buddhismus und Glaubenskriege. In: Joachim Jungius-Gesellschaft, Wiss. Hamburg, 83, S. 63-92; 1996.

Dr. Carola Roloff ist seit Februar 2018 Gastprofessorin für Buddhismus (Stiftungsdozentur bis 2025) in der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg. Sie studierte von 1981-1996 tibetisch-buddhistische Philosophie und Praxis mit Geshe Thubten Ngawang im Tibetischen Zentrum e.V. und danach Tibetologie und Klassische Indologie mit Schwerpunkt Buddhismuskunde im Asien-Afrika-Institut der Universität Hamburg (Magister 2003, Promotion 2009).

Ab 2010 hat sie ein Forschungsprojekt der DFG zur buddhistischen Nonnenordination geleitet und von 2013-2018 in einem großen vom BMBF geförderten Projekt zu „Religion und Dialog in modernen Gesellschaften“ geforscht. Ihr aktueller Schwerpunkt in Forschung und Lehre ist „Buddhismus und Dialog in Modernen Gesellschaften“. Weitere Forschungsthemen sind: Interreligiöser Dialog, Buddhismus zwischen Tradition und Moderne, Achtsamkeit und andere meditative Techniken, Sozial engagierter Buddhismus sowie Wechselwirkungen zwischen Gender und Religionen im Buddhismus und ihre Bedeutung in gesellschaftlichen Dialogprozessen (auch in Bezug auf ihre Ursprungsländer).

 www.carolaroloff.de

© Carol Roloff und Tibet und Buddhismus

Veröffentlicht in Tibet und Buddhismus, Heft 60, 2002, S. 18-22.

Mit freundlicher Erlaubnis der Autorin.

Titelbild: Roof decoration in Ta’er si — with Tibetan Zang calligraphy, in Tibet. (CC BY-SA 3.0)

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