Gendün Chöpel: Narr, Heiliger und Rebell

von Elke Hessel

Der Umgang mit unbequemen Denkern – auch nach ihrem Tode – sagt viel über den Zustand einer Gesellschaft aus. Für viele Tibeter ist Gendün Chöpel noch heute ein wunder Punkt. Die einen reduzieren ihn auf einen frauenfixierten und in einer substanzlosen Antihaltung verweilenden Provokateur, die anderen idealisieren ihn so stark, daß sie meinen, er wäre der Einzige gewesen, der Tibet hätte retten können.

In Lhasa sagte mir einmal ein junger Tibeter hinter vorgehaltener Hand: „Für viele von uns ist er ein Idol. Wir habe ihn in unseren Herzen bewahrt. Wenn wir nur alle seine Geisteshaltung wachhielten, dann könnte das Schicksal Tibets eine andere Wendung nehmen.“

Gendün Chöphel

Gendün Chöpel wird 1903 in der Nähe von Rekong in Amdo geboren und erhält zunächst den Namen Riglo. Sein Vater ist ein tantrischer Laienpriester der Nyingma-Tradition, seine Mutter eine Frau, die für ihre großen spirituellen Fähigkeiten bekannt ist. Schon mit vier Jahren beginnt der Vater seinen wißbegierigen Sohn zu unterrichten.

Als Riglo sieben Jahre alt ist, stirbt sein geliebter Vater überraschend und läßt die Mutter, die einzige Schwester und ihn vollkommen mittellos und skrupellosen Verwandten ausgeliefert zurück. Der aufgeweckte Junge wird zunächst von Shabkar Rinpoche als Reinkarnation des Abtes des Klosters Yama Tashi Kyil (das der Rime-Tradition nahesteht) erkannt, doch ist dieses zu arm, um ihm eine angemessene Ausbildung angedeihen zu lassen. So wird er in das nächste größere Kloster gebracht, das Gelugpa-Kloster Rongwo in Rekong. Im Kloster Ditsa wird er dann zum Rabschung (Novizen) ernannt und erhält den Namen ,Gendün Chöpel’. Schließlich wird er zur Aufnahme des Geshe-Studiums in die osttibetische Klosteruniversität Labrang Tashikyil geschickt. Dort erregt er in den scholastischen Debatten durch seine ungewöhnlich scharfsinnigen Analysen und die provozierende Kritik am Lehrbuch des Klosters großes Aufsehen. Seine nicht konforme Denkweise wird noch gefördert durch die Freundschaft mit dem amerikanischen Missionar Griebenow, der in der Nähe des Klosters wohnt.

Als er nach ein paar Jahren beginnt, mit großem Geschick mechanische Apparate herzustellen, sind seine Lehrer außer sich. Der Druck des konservativen Klerus wird schließlich so groß, daß Gendün Chöpel beschließt, mit einer Händlerkarawane ins ferne Lhasa zu ziehen, um dort weiter zu studieren. Die Reise geht über den Changthang nach Zentraltibet. In Nagchu müssen die Reisenden Monate pausieren, da sie erst die Einreisegenehmigung in das ‚Innere Tibet’ abwarten müssen. (Das ,Äußere Tibet’, zu dem große Teile Ost-und Nordosttibets gehören, untersteht seit dem Vertrag von Simla nicht mehr der Regierung von Lhasa.)

In Lhasa angekommen tritt er dem Gomang-Institut des Klosters Drepung bei. Er wird Schüler des berühmten Geshe Sherab Gyatso, der ein enger Freund des Großen Dreizehnten Dalai Lama ist und nach dessen Tod nach China auswandern wird, um nach der Machtergreifung der Kommunisten der erste Vorsitzende der All China Buddhist Association zu werden. Gendün Chöpel und sein Lehrer sind fasziniert von einander. Ihr Verhältnis ist geprägt von permanenten Auseinandersetzungen und Debatten. Noch Jahrzehnte später werden sich viele Mitstudenten an den ungewöhnlichen jungen Mönch aus Amdo erinnern. Auf dem Disputationshof in Drepung erscheint Gendün Chöpel z. B. einmal verkleidet als ungebildeter Mönchspolizist, um einen der Sterne am klösterlichen Karrierehimmel, den späteren Abt von Gomang, in der Debatte fürchterlich zu blamieren.

Obwohl Gendün Chöpel sein Geshe-Studium mit Leichtigkeit und äußerst erfolgreich absolviert, leidet er mehr und mehr unter der Erstarrung und dem absoluten Machtanspruch der Klöster. Dazu kommen sein zweitrangiger Status als Amdo-Tibeter (die Zentraltibeter schauen gerne auf die ihrer Meinung nach ungebildeten und rohen Osttibeter herab) und seine chronische Geldknappheit, die ihm das Leben schwermachen. Da er künstlerisch sehr begabt ist, schlägt er sich damit durch, Zeichnungen und Portraits von Bürgern Lhasas anzufertigen, Auftragsarbeiten, die leidlich bezahlt werden. Er lernt den ehrgeizigen Beamten Kapshöpa kennen, der ihn unterstützt und bewundert. Schließlich geht er kaum noch zum Unterricht, was Geshe Sherab Gyatso sehr bedauert.

Er benutzt seine neue Freiheit auch, um durch die Gassen von Lhasa zu streifen und in unersättlicher Neugier das Leben und Treiben der Menschen in sich aufzunehmen. Eines Tages entdeckt Gendün Chöpel im Shöl-Viertel unterhalb des Potala auf einer vollkommen in Vergessenheit geratenen Stele, der niemand von den Passanten auch nur einen Blick schenkt, eine sensationelle steinerne Inschrift aus der Zeit von Trisong Detsen, die sein Geschichtsverständnis vollkommen verändert und den Anstoß gibt für sein nun beginnendes beharrliches Studium der ruhmreichen und stolzen Vergangenheit Tibets. Zur selben Zeit lernt er den indischen Pandit Rahul kennen, einen Buddhismusforscher, Kommunisten, Schriftsteller und unermüdlichen Reisenden. Wenige Wochen später verläßt Gendün Chöpel das Kloster endgültig, um mit Rahul eine Forschungsreise nach Südtibet und Nepal anzutreten, die schließlich in Indien endet. Rahul macht ihn in Kalkutta zunächst mit den Mitgliedern der Mahabodhi Society bekannt, die versuchen, einen ,neuen’ Buddhismus in Indien zu etablieren und von dort in die Welt zu tragen. Auch stellt er seinem ,tibetischen Schützling’ die Gefolgsleute Gandhis vor, die für die Unabhängigkeit Indiens kämpfen. Diese beiden neuen, freiheitlichen Strömungen beeindrucken Gendün Chöpel zutiefst. Es folgen zwölf Jahre selbstgewählten Exils in Indien, in denen neben Rahul zwei weitere Persönlichkeiten prägend für seinen Werdegang sind: Khunu Tarchin, ein aus dem Himalaya stammender christlicher Missionar und Begründer der ersten tibetischen Zeitschrift Melong (Spiegel), für die er viele kritische Artikel schreibt, sowie der Russe George Roerich (Sohn des Malers Roerich), Orientalist und Forscher, dem er bei der Übersetzung der berühmten Blauen Annalen hilft.

Gendün Chöpel besucht zunächst die heiligen buddhistischen Orte Indiens und Sri Lankas, lernt in Darjeeling bei einer christlichen Nonne Englisch und Pali und verbessert seine Sanskritkenntnisse. Er verschlingt alles, was ihm an westlicher philosophischer und politischer Literatur in die Finger kommt: Hegel, Schopenhauer, Kant (den er als Logiker besonders schätzt), Marx, eine englische Ausgabe von Hitlers Mein Kampf, die damals in Indien kursierte, aber auch die alten hinduistischen und buddhistischen Schriften. Voller Begeisterung übersetzt er zahlreiche indische Klassiker ins Tibetische, unter anderem den berühmten buddhistischen Text Dhammapada, aber auch das nicht minder berühmte Kama Sutra.

Gendün Chöphel - SkizzeSkizze von Gendün Chöpel

Sein Buch Tibetische Kunst der Liebe, in dem er seine Kenntnisse der indischen erotischen Literatur mit seinen eigenen Forschungen und Erfahrungen (die er bei seinen zahlreichen Affairen und Freundschaften mit Frauen gesammelt hat) verknüpft, machen ihn im fernen Tibet berühmt. Der Tibetologe Jeffrey Hopkins bezeichnet ihn aufgrund dieses Buches, das die Wertschätzung und absolute Gleichstellung der Frau fordert, als den ersten tibetischen Feministen.

Einladungen, nach Europa und Amerika zu reisen, kann er zu seinem großen Leidwesen nicht annehmen, da der zweite Weltkrieg ausgebrochen ist und er zudem in ständiger Geldnot ist. Er bezeichnet sich deshalb immer als den ‚Bettler von Amdo‘. Das Angebot des Schriftstellers Tagore, in seiner Universität eine Professur für Tibetologie zu übernehmen, lehnt er jedoch entschieden ab, da er sich „kein schönes Leben machen, sondern alles für Tibet tun“ wolle!

1946 geht Gendün Chöpel nach Kalimpong (Bengalen). Dort arbeitet er eng mit der Tibetischen Fortschrittspartei zusammen, die von regimekritischen Exiltibetern gegründet worden ist. Diese haben es sich zum Ziel gesetzt, die bestehende Regierung in Tibet abzusetzen, eine Art ,Zwei-Kammern-Parlament’ in Lhasa zu etablieren, sowie freie Wahlen, Schulbildung für alle und die Entmachtung der Klöster durchzusetzen. Gendün Chöpel selbst betont zunächst immer wieder, daß er kaum noch Hoffnung für Tibet hat und die größte Gefahr in den chinesischen Kommunisten sieht.

Trotz der Warnungen seiner Freunde verläßt er Indien, angetrieben von der Hoffnung und der Sehnsucht, bei einer gesellschaftlichen Veränderung und Modernisierung Tibets mithelfen zu können, und kehrt im Winter 1946 auf verschlungenen Wegen durch Assam und Bhutan wandernd nach Tibet zurück; dabei versucht er, den südtibetischen Grenzverlauf in genauen Aufzeichnungen festzuhalten. Den Engländern bleibt sein Tun nicht verborgen; empört benachrichtigen sie ihren Vertreter in Lhasa, der die tibetische Regierung veranlaßt, ihn in Tsona vorübergehend in Gewahrsam zu nehmen.

In Lhasa wird er zunächst einmal in Ruhe gelassen. Seine Freunde und auch Kapshöpa, der inzwischen ein einflußreicher Minister geworden ist, empfangen ihn begeistert. Schnell wird er zu einem begehrten Lehrer, der Poesie, Philosophie und Englisch unterrichtet. Er schreibt das berühmt-berüchtigte Ludrub Gonggyän, eine herbe Kritik an der einseitigen, kopflastigen Scholastik der Gelugpa. Damit empört er die konservativen Mönche zutiefst. Bald beginnt er – übermütig geworden – Protestbriefe an den Kashag zu senden, und schließlich wagt er auch noch, den eitlen Kapshöpa in aller Öffentlichkeit bloßzustellen.

Damit ist das Maß voll. Kurze Zeit, nachdem er mit seiner Niederschrift einer politischen Geschichte Tibets (die dessen historische Eigenständigkeit hätte beweisen können) begonnen hat, wird er – wahrscheinlich unter Mitwirkung der Engländer in Lhasa, denen seine ‚sozialistische‘ Geisteshaltung und seine aufrührerischen Aktivitäten suspekt sind – von der tibetischen Regierung unter dem Vorwand der Geldfälscherei verhaftet. Die Anklagepunkte werden von Tag zu Tag absurder – er wird als Spion, als Kommunist und Antibuddhist bezeichnet. Zunächst wird er nur nach der ,sanften Methode’ verhört, dann aber erreicht Kapshöpa, daß Gendün Chöpel ausgepeitscht und zu drei Jahren Kerker verurteilt wird.

Man bringt ihn in das Shöl-Gefängnis, in dem er sich zunächst mit Hilfe seiner Freunde und durch das Malen von Thangkas über Wasser hält. Doch mit seiner Gesundheit geht es mehr und mehr bergab, und als er kurz vor Ablauf seiner Strafzeit durch eine Amnestie anläßlich der Inthronisierung des Vierzehnten Dalai Lama freigelassen wird, ist er ein Wrack.

In seine Wohnung zurückgekehrt, muß er feststellen, daß seine geheimnisvolle ,schwarze Kiste’, die er aus Indien mitgebracht hatte und die randvoll mit unersetzlichen wissenschaftlichen Notizen gefüllt war, verschwunden ist. Die tibetische Regierung hatte sie beschlagnahmt, und nun ist ein Großteil davon verschwunden. Die Ergebnisse jahrzehnte langer Forschungen sind verloren – für Gendün Chöpel eine Katastrophe!

Durch diese Vorgänge, die erlebte physische Brutalität und die geistige Vernichtung, verliert er jeden Glauben an eine auch nur geringfügige Bandbreite für Veränderungen. Die Diskrepanz zwischen seinem leidenschaftlichen Wunsch, etwas für sein Land und sein Volk zu tun, und den herrschenden Verhältnissen ist zu groß; er gibt auf – gibt sich selbst auf. Systematisch beginnt er zu trinken. Er möchte seinem Leben schnell ein Ende bereiten.

Betreut wird er von Yudön, einer jungen Frau aus Chamdo, die er alsbald, auf ihren Wunsch hin, heiratet. Die tibetische Regierung stellt ihm eine Wohnung am Barkhor zur Verfügung und versorgt ihn auch mit Nahrungsmitteln.

Sein Benehmen wird zunehmend exzentrischer. Für die einen ist er schlichtweg ein ,Verrückter’, für seine Freunde jedoch, die ihn als geistig vollkommen klar beschreiben, ist er ein ,Heiliger Narr’.

Im September 1951 muß er – schon schwerkrank und extrem aufgedunsen – den Einmarsch der Chinesen in Lhasa mitansehen. Sein einziger zynischer Kommentar dazu: „Es ist vollbracht“.

Drei Wochen später stirbt er im Alter von 49 Jahren mit dem Gefühl, nichts für Tibet und den Buddhismus erreicht zu haben.

Possenspiel

Egal wo, egal wer,
In Kalkutta, Nepal oder Peking
Oder in Lhasa im Land der Schneeberge,
Wenn ich sie mir so ansehe,
Für mich verhalten sich alle Menschen gleich
Beim Anblick von Tee, Butter oder Kleidern.
Selbst die, die keinen Lärm und kein Geschwätz mögen,
Die sich ruhig und gesittet betragen,
Denken an nichts anderes als ein alter Sünder.
Die stolzen adligen Lumpen lieben Lobhudelei und Schmeichelei,
Und das Volk liebt Hinterlist und Betrügerei.
Die Jugend liebt das Spiel und die Freuden der Liebe,
Fast jeder liebt inzwischen Bier und Tabak.
Die Leute hängen an ihren Familien,
Hassen und lehnen jeden ab, der anderswo herkommt.
Für mich gleicht die rohe Natur jedes menschlichen Wesens der eines Ochsen!
Ihres Ansehens wegen pilgern sie nach Tsari.
Sie üben die schwierige Beherrschung von Kälte und Hitze,
Um sich ihr Essen zu verdienen.
Sie rezitieren Buddhas Wort gegen Bezahlung.
Wenn man darüber klar nachdenkt,
Geschieht alles nur aus Gewinnstreben.
Für mich sind Mützen, Roben, Fahnen und Baldachine,
Opferkuchen, Speise-und Trankopfer,
All die Riten, die wir ausführen,
Nichts anderes als ein prunkvolles Possenspiel.
Obwohl es kein Glück gibt,
Weder im Tal noch oben auf dem Gipfel,
Haben wir keine Wahl, als auf dieser Erde zu bleiben
Wie in einem Stall oder Hundezwinger,
Bis dieser trügerische Körper aus Fleisch und Blut verschwindet.

Ach! Soviel Freimut wird sicher alle vor den Kopf stoßen! von einem, der den Namen Dharma (tib. chö) trägt.

Quelle: Heather Stoddard, Le Mendiant de l'Amdo, Société d’Ethnographie, Paris, 1986; übersetzt von Dr. Thomas Lautwein

Dieses Gedicht erschien 1936 in der Zeitschrift Melong. Es ist ursprünglich in der Form eines ,Kazhe’ verfaßt, bei dem die Verse der Reihe nach mit einem der dreißig Buchstaben des tibetischen Alphabets beginnen.

Ornament

Elke Hessel studierte Integration Kunst und Architektur, Freie Grafik und Kunsterziehung an der Kunstakademie Düsseldorf, sowie Erziehungswissenschaft und klassisches Tibetisch. Sie arbeitet als Malerin, Autorin und Referentin in Frankfurt, organisert Ausstellungen und reist regelmäßig nach Zentraltibet und Osttibet.

Sie ist Chefredakteurin der Zeitschrift Chökor/Tibethaus Journal, verantwortlich für die inhaltliche Leitung des Tibethaus Frankfurt und 1. Vorsitzende des Dagyab e.V., der Fördervereins für die tibetische Region Dagyab.

Im Jahr 2000 erschien beim Theseus-Verlag ihre Biographie über den tibetischen Künstler und Wissenschaftler Amdo Gendün Chöpel, „Die Welt hat mich trunken gemacht“.

© Monika Deimann-Clemens und Tibet-Forum

Online-Veröffentlichung mit freundlicher Erlaubnis von Monika Deimann-Clemens und Elke Hessel. Der Beitrag erschien in TIBET-Forum Nr.
1/2000. S. 24–26.

Foto: Gendün Chöpel mit zwei indischen Mönchen (Quelle)