Mit dem Schweigen über sexuellen Missbrauch brechen
Lama Willa B. Miller
In der Sommer 2018-Ausgabe von Buddhadharma: The Practicioner’s Quarterly berichtet Lama Willa Miller von ihren schmerzlichen Erfahrungen mit sexuellem Fehlverhalten eines Gurus und bietet Einsichten für ebenfalls Überlebende und betroffene Gemeinschaften.
Opfer. Überlebende. Gefährtin. Partnerin. Eine »solcher Frauen«. Ich starre auf diese Identifizierungen auf der Seite und probiere sie eine nach der anderen an. Die Wörter fühlen sich wie Hemden an, die zu eng sind. Doch manchmal scheinen sie zu passen, abhängig von den sich verschiebenden Fragmenten der Erinnerung an jene Zeit in meinem Leben.
Eine junge Frau rief mich im Oktober 2016 an. Wir haben denselben Dharma-Lehrer. Wir haben auch eine Geschichte gemeinsam, ohne es zu wissen. Als sie das erste Mal anrief, sagte sie, es ginge um die Hochschule für Aufbaustudien – sie überlege dort zu studieren, und wolle wissen, welche Erfahrung ich dort gemacht hätte. Ob ich mich an sie erinnerte, fragte sie. In der Vergangenheit, sagte sie, hätten Leute vom Kloster uns miteinander verglichen. Ich war, wie du auch, dem Lehrer in voller Hingabe verbunden.
Ganz drin. Ja, ich weiß, wie es ist, ganz drin zu sein. Ein Bild einer jungen Frau in dunkelroter Robe in der Klosteranlage; einmal traf ich sie im Vorübergehen oben im Raum für Interviews.
Wir hatten nur fünf Minuten lang am Telefon gesprochen, als sie in Tränen ausbrach. Sie sagte mir nicht, warum sie weinte, nicht in dem ersten Gespräch. Wir redeten drumherum. Doch ich wusste, warum sie weinte. Ich wusste, warum sie in Schatten-Sprache redete.
Einige Tage später sitze ich vor meinem Laptop und versuche Worte zu finden um die Erfahrung zu beschreiben, die ich in meinen zwanziger Jahren gemacht hatte. Ich schreibe sie nieder, so gut ich kann, um mitzuteilen, wie es war, mit dem Herzen als jemandes Geisel gehalten zu werden – wie es war, die geheime sexuelle Partnerin eines Dharma-Lehrers zu sein.
Ich war 22 Jahre alt, und mein Dharma-Lehrer war der Mittelpunkt meiner Welt. Ich hatte alles aufgegeben.
Die Erinnerungen sind in meinen Körper aufgestaut: der Geruch von Abwasser und Kreuzkümmel in der heißen indischen Luft, das Gewebe von frisch gebügelter Baumwolle auf meiner Haut, von oben das Surren des trägen Deckenventilators, das Gefühl, von einem schlechten Traum nicht aufwachen zu können. Diese Sinneserfahrungen sind für mich ebenso greifbar, wie sie es an jenem Tag waren.
Der Tag war im späten Januar 1988. Ich war 22 Jahre alt und mein Dharma-Lehrer war der Mittelpunkt meiner Welt. Ich hatte alles aufgegeben - meine alten Freunde, meine Arbeitsaussichten, meine Familie, mein Hab und Gut – »für den Dharma«. Ich hatte alle Vorsicht außer acht gelassen, um der Vision dieses Lehrers für mein Leben zu folgen. Ganz drin.
Das war der Tag, an dem er sich das erste Mal an mich heranmachte. Wir waren allein in einem Hotelzimmer in Delhi, anlässlich eines Dharma Check-In, das er arrangiert hatte. Der Check-In dauerte allerdings nur wenige Minuten, bevor er meinen Körper packte und sein Gesicht an meines presste.
Mein Körper war in dunkelrote Roben gewickelt, mein Kopf frisch rasiert. Sandalen an den Füßen und um den Hals eine Mala, ein Gao (tibetisches Gebetsamulett), Segensschnüre. Dieser Körper war schon eine Weile nicht von einem Mann berührt worden. Ich war ermutigt worden, viele Monate lang zölibatär zu sein, ein Lebensstil, der in der monastischen Ordinierung gipfelt. Nur sechzehn Tage vorher hatte ich, da eben dieser Lehrer darauf bestand, lebenslange Zölibatsgelübde gegeben.
Als ich 22 war, hatte ich keine Vorstellung davon, wie ich all dies zu verstehen hätte. Es gab keine modernen Texte über sexuelle Beziehungen zwischen Lehrer und Schüler im Buddhismus, wenigstens keine, die ich gesehen hatte. Die Bücher Shoes Outside the Door, Sex and the Spiritual Teacher und Eyes Wide Open waren noch nicht geschrieben worden. Mein einziger Anhaltspunkt waren mittelalterliche Erzählungen über buddhistisches Leben in unbeholfenen Übersetzungen. In diesen Geschichten waren Frauen Gefährtinnen, Dakinis, Musen – begehrenswerte Reflektionen des männlichen Blickes.
Worte, die binden, Worte, die befreien
Sexuelles Fehlverhalten von Geistlichen. Machtmissbrauch. Ausbeutung. Wir möchten nicht glauben, dass diese Begriffe auf uns oder unsere Sangha zutreffen. Wir wenden uns aus verständlichen Gründen von ihnen ab. Wir fürchten vielleicht die Blamage, die sie für unsere buddhistischen Gemeinschaften bedeuten würden. Wir sorgen uns vielleicht, dass sie unsere Praxis bedrohen oder die Werte, die uns wichtig sind. Wir haben vielleicht Angst, die Wahrheit zu sehen, dass eben der Lehrer, den wir für die Verkörperung von Perfektion hielten, in Wirklichkeit ein kompliziertes menschliches Wesen ist. Diese Begriffe zu untersuchen bedeutet, alles in Frage zu stellen, einschließlich manche unserer tiefsten Überzeugungen. Der Mut und die emotionale Energie, die dafür notwendig sind, sind beachtlich.
Als ich in meinen Zwanzigern war, als »eine von jenen Frauen«, hätte ich wahrscheinlich diese Begriffe nicht mit meinem Leben in Verbindung gebracht, selbst wenn sie mir begegnet wären. Während ich spätestens im dritten Jahr der Beziehung wusste, dass das, was mir geschah, schmerzvoll und entkräftigend war, glaubte ich, der Fehler läge ganz bei mir. Sogar als ich schließlich auf diese Begriffe stieß, lange nachdem die Beziehung beendet war, kamen sie mir zunächst fremd vor.
Als ich jedoch die Bedeutung dieser Wörter untersuchte, gaben sie mir einen neuen Rahmen, in dem ich meine Geschichte überdenken und erkunden konnte. Konnte es sein, dass das, was mir passiert war, auch anderen Menschen geschehen war, sowohl innerhalb meiner Tradition als auch außerhalb davon? War es möglich, dass nicht ich allein einen Fehler begangen hatte, sondern das Verhalten meines Lehrers ebenfalls verantwortlich war für das Leid, das wir beide zu ertragen hatten? War es möglich, dass es Grenzen gibt, die einfach nicht überschritten werden sollten?
Grenzen und Macht in spirituellen Gemeinschaften
Im Verlauf der Jahre haben weibliche Praktizierende mir Geschichten über sexuellen Missbrauch durch Lehrer erzählt. Es kommt häufiger vor, als man sich vielleicht vorstellt:
»Er kam während des Retreats unangekündigt in mein Zimmer. Er sagte mir, ich solle mich ausziehen. Er zog sich auch aus. Er saß auf meinem Zabuton (Meditationsmatte; AdÜ) und sagte mir, ich solle mich auf seinen Schoß setzen.«
»Ich hatte ein Dharma-Interview mit ihm. Während des Interviews nahm er meine Hand, während ich über die Krebserkrankung meiner Tante sprach. Ich weinte. Ich dachte, er würde mich trösten, doch er umfasste mein Gesicht und küsste mich.«
»Es war nach der Belehrung. Die Leute saßen herum und tranken Tee. Er kam zu mir und flüsterte mir ins Ohr, ›Du siehst verführerisch lecker aus.‹«
»Er sagte, wenn ich besser im Bett wäre, würde es nicht so lange dauern. Ich begann zu weinen und versuchte aufzustehen. Er stieß mich nieder auf’s Bett und versuchte seinen schlaffen Penis in mich hineinzustecken.«
Dies sind Worte von Frauen in den Traditionen von Vipassana, Zen und Tibetischem Buddhismus. Sexuellen Missbrauch findet man in allen Schulen des Buddhismus und er kommt in vielen Variationen vor. Der Missbrauch kann verbal sein, so wie ein unpassender Kommentar oder ein unangemessener Vorschlag. Oder er kann körperlich sein: Küssen, Begrabschen, Berührungen bis hin zu Geschlechtsverkehr. Der in solcher Weise grenzverletzend handelnde Lehrer stellt den Sex vielleicht als Gelegenheitsspaß oder als spirituelle Handlung dar. Üblicherweise findet es heimlich statt, und wenn das so ist, ist der Schaden letztlich umso schlimmer.
Eine neuere Studie der Baylor Universität definiert sexuellen Missbrauch durch Geistliche als sexuelle Annäherungsversuche oder Übergriffe von religiösen Leitfiguren gegenüber einer Person in der Gemeinde, der sie dienen, und zwar Personen, mit der sie nicht verheiratet oder in einer Partnerschaft sind. Wie in Forschungsstudien erwiesen wurde, beschreibt dies eine Verhaltensweise, die Individuen und Gemeinschaften einer beträchtlichen Gefahr von Trauma und Schaden aussetzt. Als Ergebnis hat eine wachsende Anzahl von Staaten (der USA; A.d.Ü.) (bisher neun) sexuellen Missbrauch durch Geistliche zu einer Straftat erklärt.
Diese Art von sexuellem Missbrauch unterscheidet sich von anderen Arten. Das Kennzeichnende liegt in diesem Zusammenhang nicht in den Besonderheiten der sexuellen Handlung, sondern in der Tatsache, dass überhaupt sexuelle Handlungen stattfinden zwischen zwei Menschen, die – aufgrund ihrer entsprechenden Rollen – eine stillschweigende Vereinbarung haben. Der Schüler hat stillschweigend zugestimmt, dem Lehrer den Verlauf und die Gesundheit seines spirituellen Lebens anzuvertrauen. Der Lehrer hat stillschweigend zugestimmt, sich jeglicher Ausbeutung seiner Machtposition zu enthalten, das Vertrauen des Schülers zu wahren und seine Verletzlichkeit zu achten.
Diese Vereinbarung etabliert eine Sicherheitszone in der Beziehung. Die Sicherheitszone ist ein Übergangsraum, in dem der Schüler ohne Gefahr verletzlich und offen sein kann, und in dem der Lehrer Zeuge ist, Mitgefühl verkörpert und Anleitung vermittelt. Vertrauen in die Sicherheitszone ist wesentlich für tiefgehende spirituelle Arbeit. Die Erosion von körperlichen Grenzen ist eine von mehreren Möglichkeiten des Missbrauchs dieser Sicherheitszone.
Um zu verstehen, weshalb das Verletzen einer Sicherheitszone problematisch ist, müssen wir uns über Macht klar werden. Ebenso wie Psychotherapeuten, Schullehrer und Professoren haben Geistliche (dazu gehören Dharma-Lehrer, Lamas, Roshis, Ajahns, spirituelle Freunde, etc.) Macht über ihre Schüler schon alleine durch ihren Rang und ihre Position in der Gemeinschaft. Sie sind mächtig, doch diese Macht ist oft unsichtbar; man kann sie nicht in der Hand halten oder jemandem ihre Maße mit einem Zollstock zeigen. Dennoch ist solche Macht eine höchst einflussreiche Kraft in unserem Leben, und ihre Anzeichen sind da, wenn man sie zu erkennen weiß. So kann man zum Beispiel den Status einer Person daran ermessen, welchen Sitzplatz sie in einem Raum einnimmt.
Überlebende von sexuellem Missbrauch durch Geistliche haben anfangs in ihren Misshandler ein tiefgehendes Vertrauen, aus dem dann Gefühle von Verwirrung und Verrat werden.
Konventionelle professionelle Ethik postuliert, dass die Person, die in der Beziehung die größere Macht innehat, auch die größere Verantwortung für die Integrität von Grenzen trägt. Das bedeutet, dass buddhistische Lehrer diejenigen sind, die primär für die Wahrung von klaren Grenzen im Verhältnis zu ihren Schülern verantwortlich sind.
Wenn die Grenze erodiert und die Sicherheitszone beeinträchtigt wird, sind die spirituelle Gesundheit und das Wohlsein beider Parteien gefährdet. Das weniger machtvolle Individuum in der Beziehung ist jedoch viel verletzlicher, psychisch und spirituell. Ebenso wie Überlebende von Inzest haben Überlebende von sexuellem Missbrauch durch Geistliche anfangs tiefes Vertrauen in ihren Misshandler – Vertrauen, das Gefühlen von Verwirrung und Verrat weicht. Auch sind Überlebende von Missbrauch durch Geistliche mit vielen derselben Gefahren konfrontiert: Depression, Ängste, Suizidvorstellungen, Schuldgefühlen, Scham und Schwierigkeiten, in zukünftigen Beziehungen Vertrauen zu entwickeln. Diese Symptome können allmählich auftreten oder plötzlich und sie können jahrelang andauern.
Opfer, Überlebende, Gedeiende
Kurz nachdem mich diese junge Frau angesprochen hatte, nahm ich Kontakt zu drei anderen Frauen in meiner Gemeinschaft auf, von denen ich entweder dachte oder wusste, dass sie in einer sexuellen Beziehung mit meinem Lehrer gewesen waren. Schließlich haben wir alle zusammen einen formellen Offenlegungsprozess initiiert, der durch einen professionellen Mediator unterstützt wurde.
Das Kloster beauftragte den Mediator, Hilfe zu leisten bei den Offenbarungen, mit denen sie konfrontiert wurden. In Vorbereitung der Offenlegung wurde nach und nach klar, dass zum Schutz der Anonymität der Frauen, die nicht genannt werden wollten, ein Begriff zu ihrer Identifizierung gebraucht wurde.
Was sind wir? Das fragte ich mich, während ich Literatur über sexuellen Missbrauch durchsah. Opfer? Das Wort beschwört Bilder herauf von Oberarmen voller blauer Flecke, einstweiligen Verfügungen und von Kindern. Überlebende? Ein Liedtext der Band Destiny’s Child tauchte irgendwo an den Rändern meines Bewusstseins auf. Schließlich fand ich zufällig ein Schema, das die Stadien der Genesung von sexuellem Missbrauch beschreibt und quälend vertraut klang.
Die Stadien waren bezeichnet als Opfer, Überlebende und Gedeiende. Die Opfer-Phase ist eine frühe im Prozess der Genesung. Zunächst ist vielen Opfern nicht bewusst, dass sie in einer missbräuchlichen Beziehung gefangen sind. Mangelndes Bewusstsein kann lange Zeit andauern, begleitet von zunehmenden Gefühlen von Abneigung, starken Ängsten und Selbstbeschuldigung.
In der Opfer-Phase setzen sich diese Gefühle allmählich in Körper und Geist fest, was zu Ohnmacht, Verlust von Selbständigkeit, einem Gefühl der Unsichtbarkeit und zu Scham führt. Bricht die Beziehung zusammen, empfindet das Opfer lähmende Gefühle von Verlust und Trauer, hält sich aber vielleicht verschwiegen zurück und spricht nicht über das, was geschehen ist.
Die Überlebende-Phase ist in der Mitte des Genesungsprozesses. In dieser Phase beginnt die Person, die Komplexität des Geschehenen zu erkennen und auch die Möglichkeit, dass der Lehrer einen Teil der Verantwortung trägt. Irgendwann kehren Gefühle der eigenen Autonomie und Handlungsfähigkeit zurück. In dieser Phase fangen Überlebende an, ihre Erfahrung verbal verarbeiten zu wollen und suchen eventuell die Unterstützung durch Therapeuten oder enge Freunde. Das Individuum empfindet nun vielleicht zum ersten Mal Zorn auf den Täter und möglicherweise auch tiefes Bedauern.
Die dritte Phase, die der Gedeienden, kommt am Ende des Genesungsprozesses. In dieser Phase ist die Person in der Lage, auf ihre Geschichte ohne intensive emotionale Aktivierung zurückzuschauen. Es wird möglich, über Schmerz und Bedauern hinwegzukommen und eine Wertschätzung für die schwierige Erfahrung als formativen Prozess zu entwickeln. In der Gedeihenden-Phase ist die Person im Wesentlichen geheilt und hat sich weiter bewegt. Auch wenn Überlebende sich häufig nicht stark genug fühlen, anderen in einem solchen Genesungsprozess zu helfen, sind Gedeiende oft motiviert es zu tun.
Das Netz, in dem ich gefangen war, war eine subtile Form von Gewalt, die größer war als ich.
In Wirklichkeit stellen diese Phase keine strikte Abfolge dar, sondern spiegeln eine menschliche Fluktuation zwischen Viktimisierung (Zum-Opfer-Werden oder -Machen; AdÜ) und Resilienz. Es kommt vor, dass wir, schon in der Phase der Gedeienden angekommen, wieder zurückgleiten in die Opfer-Phase.
Letztendlich einigten wir uns darauf, uns selber als Überlebende zu bezeichnen. Der Begriff hielt uns alle genau in der Mitte des Genesungsprozesses, ein Platz, der ausreichend Ermächtigung zu ermöglichen schien.
Als das Datum der formellen Offenlegung näher rückte, erlebte ich die Reaktionen zu dieser Sprache professioneller Ethik in der Sangha. Einige hielten das Gespann von Überlebendem und Täter für unpersönlich, entmenschlichend oder polarisierend. Manche sorgten sich, dadurch würde die Geschichte die Opfer entmachtend fortgeschrieben werden. Sprache hat ihre Grenzen und kann sich reduzierend anfühlen. Doch die Sprache von professioneller Ethik hat auch die Kraft, das Unsichtbare sichtbar zu machen. In meinem eigenen Fall fiel es mir viele Jahre lang schwer, hinsichtlich meiner Situation objektiv zu sein. Es war ganz und gar zu persönlich. Ich hatte eine Geschichte ersonnen über meine Schuld und die Gründe, warum ich mich nicht einer letztlich entmächtigenden Situation entziehen konnte, eine Geschichte, genährt von Isolation, Furcht vor dem Verlust von Verbundenheit, meinen Glaubenssätzen und sogar von buddhistischer Lehre.
Als ich diese frische Terminologie fand, erlaubte sie mir, einen Schritt zurück zu treten und mich selber als Teil einer größeren Matrix von Machtdynamiken zu sehen, die in vielen Religionen präsent sind. Es half mir, mich mit einer weltweiten Gemeinschaft von Frauen und Männern verbunden zu fühlen, die die gleiche Erfahrung durchgemacht haben. Die Sprache erlaubte mir, mich zu einer Wahrheit zu bekennen, von der ich im tiefsten Inneren schon wusste – dass das Netz, in dem ich gefangen war, eine subtile Art von Gewalt war, die größer war als ich selber und letztendlich haltlos. Manchmal müssen wir ein Muster erkennen, um davon frei zu werden.
Geheimhaltung ist Gift
Mein Dharma-Lehrer gebot mir, anfangs stillschweigend und später ausdrücklich, unser Verhältnis geheimzuhalten. Dies belastete mich von Anfang an sehr. Eines Abends forderte ich ihn heraus und fragte, »Warum können wir denn nicht offen hiermit umgehen?«
Sein Gebaren änderte sich sofort und er antwortete, »Nichts sagen sehr gut. So viel Schande kommt. Du Schande. Ich Schande. Kloster Schande.«
Ich machte einen Rückzieher. Zu dem Zeitpunkt glaube ich, nichts wäre karmisch riskanter als meinen Lehrer zu verärgern, und diese moralische Auffassung in Frage zu stellen schien sogar noch ketzerischer. Dennoch war mir die Geheimhaltung zutiefst unangenehm und ich spürte, dass sie – trotz meiner Hingabe an den Lehrer – vergiftend wirkte.
Vor seiner eigenen Gemeinschaft ein Geheimnis zu haben bedeutet, durch Unterlassung zu lügen, und führt schließlich dazu, dass man direkt Unwahrheiten äußert. Der kleine Beutel, den man auf Reisen dabei hat, enthält rituelle Gegenstände, nicht deine Anti-Baby-Pillen. Du stehst vor der Tür deines Lehrers, um seine Wäsche abzuholen, nicht weil er dir gesagt hat, du sollest vorbeikommen, um Sex mit ihm zu haben.
In meinem Fall begannen diese kleinen Lügen und die viel größere Lüge dahinter meine persönliche Integrität zu korrodieren und damit auch mein Gefühl der Verbundenheit mit den Menschen in meiner Umgebung. Überlebende fühlen sich in einer Zwickmühle gefangen. Um ihre Beziehung mit dem Lehrer aufrecht zu erhalten, müssen sie Dinge verstecken und lügen. Aber Lügen bedeutet, ein grundlegendes buddhistisches Gebot zu brechen. In meinem eigenen Fall mir selber zu sagen, es sei ein »geschicktes Mittel«, reichte nicht aus, um meine Gefühle von Unwohlsein zu beseitigen. Diese fortdauernde Situation trieb einen Keil zwischen mich und meine Dharma-Geschwister, Menschen, an denen mir sehr viel lag.
In den meisten Sanghas, in denen Fehlverhalten vorkommt, gibt es einen Kreis von Mitwissern, doch so unglaublich es sein mag, weiß doch oft einer vom anderen nicht. Mit anderen Worten: Es gibt nicht nur ein Geheimnis; es gibt eine Geheimhaltungskultur. Verhaltensweisen, die täuschen, ermöglichen und verheimlichen, werden manchmal so zur Gewohnheit, dass sie völlig normal erscheinen, so wie Zähneputzen. Wenn eine Gemeinschaft von Fehlverhalten heilen soll, ist es wichtig, nicht nur das Fehlverhalten zu benennen, sondern auch die zugrunde liegende Kultur aufzudecken, die das Fehlverhalten ermöglicht hat.
Als Methode benutzt, um Schüler davon abzuhalten, über eine intime Beziehung mit einem Lehrer zu sprechen, wird Verheimlichung zu einem mächtigen Kontrollinstrument. Die Geheimhaltung kann als Druckmittel benutzt werden; wenn die Frau (oder der Mann) die Beziehung offenlegt, folgt eine Form von Vergeltung. Ist eine spirituelle Gemeinschaft involviert, kann eine solche Vergeltung verheerende Wirkung haben. Die Worte eines machtvollen Lehrers können die Auffassungen einer gesamten Gemeinschaft beeinflussen, nicht nur um den Dharma zu praktizieren, sondern auch um menschliche Wesen auszugrenzen.
Wenn eine Schülerin sich entscheidet, die Gemeinschaft zu verlassen, ohne etwas anzusprechen – ihre andere Option – so wird sie für ihre Diskretion nur selten belohnt. Stattdessen betrachtet die Gemeinschaft, vor allem, wenn sie inselartig ist, das Verlassen der Gemeinschaft als eine Art Verrat. Dies wird eventuell noch durch den Lehrer selbst verstärkt, der ganz privat ihr Ausscheiden als Verlust von Macht und Besitz erlebt.
Mir wurde ziemlich früh in der Beziehung mit meinem Lehrer klar, dass dieser Geheimhaltungs-Kodex mich von mir selber trennte. Erst später jedoch wurde mir bewusst, dass ich, indem ich dieses Geheimnis bewahrte, Komplizin in einem Akt von Verdunkelung war, der eben diese Gemeinschaft, die ich liebte, zu unterminieren riskierte. Selbst nachdem einige Zeit vergangen war und mit der Hilfe von Therapie empfinde ich deshalb immer noch manchmal Reue. Es ist einer der vielen Gründe, weshalb Überlebende nicht den Mund aufmachen: Wir schämen uns.
Der Mythos vom »Einbahnstraßen«-Samaya
In der Vajrayana-Tradition gibt es etwas, das Samaya genannt wird. Das Wort bedeutet »innere Verpflichtung« oder auch »Engagement« und bezieht sich auf eine heilige oder reine Beziehung. Wenn du Samaya mit jemandem hast, so bedeutet dies, dass du eine solche »Verpflichtung« eingegangen bist, die Person in ihrer grundlegenden Güte und Würde zu sehen und diese Sicht zu bewahren. Einige Textquellen geben an, das wichtigste Samaya sei die innere Verpflichtung gegenüber dem eigenen Hauptlehrer. Betrachtet man dies im erweiterten Zusammenhang buddhistischer Ethik, könnte diese Dimension von Samaya die Bedeutung zu beinhalten scheinen, dass Studenten das Verhalten ihrer Lehrer, und sei es auch noch so ungeschickt, nicht in Frage stellen sollten. Ein »Einbahnstraßen«-Samaya erklärt es für richtig, wenn ein Schüler Entschuldigungen für übergriffiges Verhalten seines Lehrers findet.
Das ist eine Verfälschung des Konzeptes von Samaya.
Jede gründliche Auswertung des erweiterten Kontextes buddhistischer Ethik zeigt auf, dass Samaya nicht einseitig ist. Die meisten Lehrer in der Mahayana-Tradition halten sich an zwei grundlegende ethische Grundsätze: das Bodhisattva-Gelübde und die Pratimoksha-Gelübde. Der Kern dieser Gelübde ist die Verpflichtung zu Mitgefühl und Nicht-Schaden. Im wesentlichen sollte sich die ethische Ausrichtung des Lehrers auf Gelübde beziehen, mit Mitgefühl zu handeln, und auf Gelübde, Gewaltfreiheit zu praktizieren. Diese Gelübde sind so fundamental wichtig, dass sie die Definition buddhistischer Ethik darstellen. Verhält sich der Lehrer auf eine Weise, die Gewalt oder Schaden erzeugt, hat er entgegen dieser grundlegenden Verpflichtungen gehandelt, selbst wenn solche Abweichung unbewusst geschieht.
In einigen Traditionen gilt die höchste und geheime Ebene von Samaya nur in der Sphäre des non-dualen Bewusstseins. Innerhalb dieser Sphäre sind alle Beziehungen unwillkürlich rein. Eine Praxis der Non-Dualität erfordert das Auflösen der Illusion von Getrenntheit und das Annehmen aller inneren und äußeren Bedingungen, einschließlich des eigenen Schattens. Wenn man die Bedingungen unterdrückt, die das Erleben und Verarbeiten des Schattens ermöglichen, so widerspricht das dem Geist von Offenheit, der in diesem Samaya inbegriffen ist.
Der Kern von Samaya ist nicht blinder Glaube. Samaya ist ein Versprechen, einander in beidseitiger Güte zu achten, im Wissen um unser sehr menschliches Potential, auf Abwege zu geraten. Wir sind es einander schuldig, als Lehrer, Schüler, spirituelle Freunde und Sangha, einander zur Rechenschaft zu ziehen, nicht aus Bosheit, sondern aus einem grundlegenden Glauben in unsere Fähigkeit, uns zu bewegen fort von Zerbrochenheit und hin zu größerer Integrität und größerem Mitgefühl.
The Teufel steckt im Detail
Grenzüberschreitungen können von Achtlosigkeiten bis hin zu Ungeheuerlichkeiten variieren. Sie können als willkommen oder unwillkommen wahrgenommen werden, und sie können nur ein wenig unangenehm sein oder auf schlimmste Weise traumatisch.
Ohne Berichte aus erster Hand von all jenen, die etwas wussten, kann sich eine Gemeinschaft kein vollständiges Bild verschaffen davon, wer verletzt wurde und wie. Wenn die Gemeinschaft nicht genau weiß, was geschehen ist und wieviele Personen betroffen sind, ist es sehr schwierig zu wissen, wie weiter vorzugehen ist.
Sich ein vollständiges Bild zu machen, beginnt damit, alle Seiten genau anzuhören. Viele Lehrer, die Schülern zu nahe treten, werden entweder über ihr Verhalten lügen oder die Verantwortung auf andere abzuwälzen versuchen. Deshalb ist es wichtig, die Berichte von Überlebenden und Zeugen wenn möglich im Detail zu hören. Die Details enthalten oft Schlüsselinformationen über die Schwere des Missbrauchs, die Missbrauchsmuster und die Tiefe der Verletzung, der Schädigung.
Vor einiger Zeit war ich Teil einer Gemeinschaft, in der Frauen begannen, über sexuelle Annäherungsversuche des Lehrers zu berichten. Eine dieser Frauen beschrieb, wie ihre Beziehung mit diesem Lehrer anfing. In einem Dharma-Interview hatte sie sich ihrem Lehrer über ihre Geschichte von anhaltendem sexuellen Missbrauch durch einen nahen Verwandten anvertraut. Bald darauf lud er sie ein auf seinem Schoß zu sitzen und begann sie zu küssen. Dieses Verhalten setzte er während Dharma-Interviews bei öffentlichen Retreats jahrelang fort, bis es schließlich zu Geschlechtsverkehr führte.
Überlebende haben Angst, dass man ihnen nicht glaubt, sie beschämt, sie zurückweist.
Solche Details liefern wesentliche Informationen. In diesem Fall suchte der Lehrer nach Anzeichen emotionaler Verletzlichkeit, wie zum Beispiel eine Geschichte sexuellen Missbrauchs, und wählte als Ort einen privaten Raum in einer vom Lehrer selber und seinen Unterstützern kontrollierten Retreat-Stätte, bevor er sexuellen Kontakt initiierte. Daraufhin erfolgte in diesem Zusammenhang eine Zeit lang eine allmähliche Gewöhnung und Ausweitung des Verhaltens (bekannt als »grooming«) (Pflege, Vorbereitung für eine Rolle; AdÜ). Die Einzelheiten deuten auf eine gewohnheitsmäßige Täterschaft eines solchen Lehrers.
Leider ist es für einen Überlebenden umso schwieriger, über die Details zu sprechen, je verstörender diese Einzelheiten sind. Es überhaupt auszusprechen braucht großen Mut. Überlebende haben Angst, dass man ihnen nicht glaubt, sie beschämt, sie zurückweist, ihr Vertrauen missbraucht. Sie sind im typischen Dilemma von Inzestopfern gefangen; sie fühlen vielleicht Zuneigung zum Täter und möchten ihn schützen, während sie zugleich Ekel, Wut und Misstrauen empfinden. Diese widersprüchliche Gefühle zum Ausdruck zu bringen ist schwer.
Die meisten Überlebenden werden zögern, sich der größeren Gemeinschaft über das Geschehene mitzuteilen, aus all denselben (und noch mehr) Gründen, weshalb sie Angst haben, sich irgendjemandem anzuvertrauen. Doch das Schweigen hat seinen Preis. Der Preis ist Getrenntsein, Isolation und Dunkelheit in Bereichen, die mehr Erkundung und Diskussion brauchen, nicht weniger. Die Freigabe persönlicher Berichte – wenigstens im inneren Kreis – ist wesentlich, damit die Gemeinschaft die Tiefe des Schadens versteht, und um zukünftigen Missbrauch zu verhindern. Mit diesem Dilemma umzugehen erfordert Respekt für Vertraulichkeit, Mitgefühl, Feingefühl und Takt. Idealerweise kann man einen sicheren Raum für Überlebende schaffen, in dem sie ihre Geschichte in einer angemessenen Umgebung erzählen, entweder persönlich oder durch eine schriftliche Erklärung, die eine Person ihres Vertrauens vorliest.
Was ist zu tun
Angesichts der aktuellen Welle von Offenbarungen bezüglich sexuellen Missbrauchs in der internationalen buddhistischen Gemeinde fragen wir uns, wann wird sich das jemals ändern? Meine Antwort lautet: nie – es sei denn, Bildungsinitiativen sowie konkrete Schutzmaßnahmen werden geschaffen und der Schleier des Schweigens über sexuelle Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern wird gelüftet. Bis dahin bleibt jede buddhistische Gemeinschaft ein Kartenhaus.
Erstens müssen Gemeinschaften über Machtdynamiken aufgeklärt werden, darüber, was gesunde Grenzen sind und was geschieht, wenn solche Grenzen überschritten werden. Das Trainieren von Grenzbewusstsein kann tatsächlich Spaß machen und stärken.
Zweitens müssen konkrete Präventivmaßnahmen geschaffen werden. Derlei Maßnahmen umfassen einen Ethikkode für Lehrer, ein förmliches Beschwerdeverfahren und Verantwortlichkeitstraining für den Vorstand der Gemeinschaft.
Drittens müssen die lauten, klaren und aufrichtigen Stimmen der Frauen und Männer, die sexuelle Beziehungen mit ihren Lehrern gehabt haben, gehört werden. Wenn wir die Auswirkungen von Fehlverhalten auf echte menschliche Wesen nicht kennen, werden wir nie verstehen, weshalb wir Maßnahmen zu ihrem Schutz ergreifen müssen. Wenn wir nicht frei über solche Themen zu sprechen beginnen, werden Individuen und Gemeinschaften diese nicht bewältigen können.
Letzlich müssen Dharma-Lehrer, die sich fehlverhalten, zur Verantwortung gezogen werden. Entscheidet eine Gemeinschaft, das Verhalten eines Lehrers sei über allen Zweifel erhaben, so werden Verstöße gegen ethische Grundsätze im Verborgenen bleiben. Es reicht nicht, wenn Gemeinschaften nach einem solchen Verstoß Änderungen versprechen. Sie müssen alles in ihrer Macht Stehende tun, um Heilung zu ermöglichen und Vertrauen wiederherzustellen. Das ist ein langwieriger Prozess, für den es Mitgefühl und Gleichmut braucht sowie das Untersuchen der Sangha-Kultur, in der Schaden verursacht und vielleicht aktiv ermöglicht wurde.
Der Dharma ist immer noch eine Zuflucht
Als die geheime Geschichte meiner Dharma-Gemeinschaft in größerem Maße ans Licht kam, telefonierte ich einmal mit einem Sangha-Mitglied, das fragte, »Was ist mit den Dharma-Praktiken, die ich von ihm bekommen habe – haben sie ihren Wert, ihre Gültigkeit nicht eingebüßt?«
Ich war von dieser Frage tief bewegt. In Gemeinschaften, die eine Glaubenskrise durchgemacht habe, taucht diese Frage als eine der ersten auf.
Ich antwortete ihm, der Lehrer mag Fehler haben, doch der Dharma ist rein. Welche Unterweisungen, Übertragungen oder Ermächtigungen man von dem Lehrer auch erhalten haben mag, sie bleiben heilig und gültig, sagte ich.
Als ich das Gespräch beendete, fragte ich mich, ob Desillusionierung tatsächlich eine Plage des spirituellen Wegs ist oder aber ein Katalysator. Verstehen Sie mich nicht falsch – ich würde nie jemandem oder eine Gemeinschaft so eine Erfahrung wünschen. Doch wir können keine wahre Zuflucht finden ohne den Verlust unseres falschen Sicherheitsgefühls. Es kann sein, dass unsere tiefstgehenden Belehrungen nicht die sind, die im Dharma-Saal vermittelt werden, sondern die Lebenserfahrungen, die alles in Frage stellen, was wir für wahr hielten.
Wenn alles zusammenbricht, sind wir genötigt, einen tieferen Dharma zu finden. Nicht einen Dharma aus Worten und Papier, sondern einen inneren Dharma der Wahrheit des Herzens. Und vielleicht ist das die Essenz dessen, was uns unsere menschlichen Lehrer, so fehlbar sie sein mögen, die ganze Zeit zu sagen versucht haben.
Einige starke, mutige Frauen stehen still im Hintergrund dieses Artikels, Frauen, die ihre Erfahrungen von Trauma und Widerstandsfähigkeit mit mir geteilt und diesen Artikel gelesen und kommentiert haben. Ihnen allen gehört mein tiefster Dank. ■
Übersetzung aus dem Englischen von Ilga Stoeppler.