Panorama und der Dalai Lama – Versuch eines Denkmalsturzes
von Helmut Clemens
Sie wollten einer verbreiteten unkritischen Berichterstattung über Tibet und den Dalai Lama entgegenwirken, wollten den Shangri-La-Mythos und die Vergöttlichung des Tenzin Gyatso in Frage stellen. Angesichts einer Tibetwelle, die derzeit aus Hollywood auf uns zurollt, ein begrüßenswertes Ziel, das sich die Panorama-Autoren gesetzt hatten. Unmittelbarer Anlaß war der verklärende und verkitschende Film »Sieben Jahre in Tibet«, der im November in die deutschen Kinos kam. Doch was bei dieser Sendung herauskam, ist leider nur die schiere Kehrseite derselben Falschmünze.
Dem von Jean-Jacques Annaud geschilderten Paradies stellen John Goetz und Jochen Graebert die mittelalterlich-feudalen Zustände des alten Tibet gegenüber. »Tibet, wie es wirklich war. Historische Aufnahmen aus den fünfziger Jahren, als dieser Dalai Lama das Land noch regiert hat«: Eine von Mönchen und Adligen beherrschte archaische Gesellschaft, deren leibeigene Mehrheit ohne Erlaubnis des jeweiligen Feudalherren nicht einmal den Hof verlassen durfte. Sequenzen von Bildern des Elends: arme Teufel, unwürdig behandelte Gefangene, Menschen mit ausgestochenen Augen, Fotos von abgeschlagenen Gliedmaßen - alles echt, ohne Zweifel. Der Kommentar: »Tibet, wie es auch war, als der Dalai Lama in den fünfziger Jahren regierte.«
Der solchermaßen Vorgeführte erhielt die Insignien der politischen Macht am 17. November 1950. Er war 15 Jahre alt, und die Chinesen standen ante portas. Osttibet hatten sie schon besetzt, in Lhasa marschierten sie am 9. September 1951 ein. Danach kontrollierten sie den ganzen Himalaja-Staat. Daß der 14. Dalai Lama die geschilderten Strafen mißbilligte, ist belegt. Daß unter der Ägide der »Befreier« über Jahrzehnte und in ganz anderen Dimensionen noch Schlimmeres geschah und zum Teil noch geschieht, ist notorisch. Das relativiert nicht die Grausamkeit der alten Gesellschaft; doch so einfach, wie es sich deren Neuentdecker mit ihren Behauptungen gemacht haben, lagen die Dinge auch nicht.
Was sie ebenso wie das jugendliche Alter des Regierenden verschweigen oder nicht herausfanden: Schon 1913 hatte sein Vorgänger, der 13. Dalai Lama, in einer Proklamation körperliche Verstümmelung und andere Rohheiten verboten (siehe Shakabpa ›Tibet - A Political History‹, New York 1984, S. 248).
Gewiß, jedermann weiß, daß zwischen einem Erlaß und seiner Verwirklichung manchmal Welten liegen. Und es gab in der Tat Kreise im alten Tibet, die die Reformansätze ihres religiösen und weltlichen Oberhaupts, wo immer es ging, konterkarierten. Vor allem nach dessen Tod nutzten sie ihre Chancen. Mächtiger als zuvor konnten sie noch 17 weitere Jahre ihre reaktionäre Rolle in der geistlichen und weltlichen Hierarchie spielen und jeden Fortschritt blockieren, ehe an der Schwelle der Fünfziger dem minderjährigen Nachfolger die Verantwortung übertragen wurde.
Dieser junge Mensch hatte schon sehr früh ein ausgeprägtes Gefühl für Menschenwürde und soziale Gerechtigkeit. Er versuchte unverzüglich, die Reformen seines Vorgängers neu zu beleben und sogar darüber hinauszugehen, etwa durch eine Landreform und einen Schuldenerlaß für die frohnenden Bauern. Zeitweilig sympathisierte er gar mit den marxistisch-sozialrevolutionären Ideen der Chinesen, die ja keineswegs sofort als die brutalen Plattmacher auftraten und unter dem einfachen Volk, Laien wie Mönchen, durchaus Parteigänger fanden, ehe sie ihr anderes Gesicht zeigten. Gleichwohl, eigene tibetische Reformen ließen sie nicht zu.
Diese nicht unwesentlichen Informationen bleibt Panorama schuldig. Statt dessen heißt es: »Noch immer beschönigt er (der Dalai Lama - HCL) diese Zustände und nährt damit die Verklärung des alten Tibet.« Zum Beweis zitiert ihn Panorama wie folgt: »Ein armer Tibeter hatte wenig Veranlassung, seinen reichen Gutsherrn zu beneiden oder anzufeinden, denn er wußte, daß jeder die Saat aus seinem früheren Leben erntet. Wir waren schlicht und einfach glücklich.« Diese differenzierende Erklärung, die auf die Friedfertigkeit vieler Tibeter abhebt und keineswegs impliziert, daß er die alten Strukturen erhaltens- und die damaligen Verhältnisse wiederherstellenswert findet, wird absolut gesetzt und zur Beschönigung der Zustände hochstilisiert. Beim Quellenstudium stellt sich dann auch noch heraus, daß die beiden zitierten Sätze in Wahrheit gar nicht zusammengehören (siehe Dalai Lama ›Mein Leben und mein Volk‹, Taschenbuchausgabe München 1968, S. 52/53) Der zweite folgt nämlich nicht unmittelbar auf den ersten, sondern eine halbe Seite später und in einem ganz anderen Zusammenhang. In diesem Stil kann sich jeder beim Dalai Lama bedienen. Was immer jemand zu Tibet sagen will, er findet ein entsprechendes Zitat. Er muß es nur aus dem Kontext, in dem es gefallen ist, herauslösen und im Sinne seiner vorgefaßten Meinung interpretieren – wie figura zeigt.
Es ist schon merkwürdig: Da bekämpft einer seit seinem 15. Lebensjahr »diese Zustände«, erarbeitet, kaum erwachsen geworden, im Exil eine Verfassung (1963), in der festgeschrieben ist, daß ein selbstbestimmtes Tibet keine Theokratie mehr sein soll, sondern eine Demokratie westlichen Zuschnitts und verkündet später als reifer Mann, daß er selbst in diesem erträumten Tibet der Zukunft keine politische Rolle mehr spielen, sondern als Mönch leben will. Das alles fällt unter den Tisch, und obendrauf steht ein Reaktionär. Ein fragwürdiges Verfahren.
Nachdem sie das Publikum auf ihre Weise über die finstere Vergangenheit und deren angebliche Akzeptanz durch den Gewaltfreiheit fordernden Friedensnobelpreisträger aufgeklärt haben, rücken die beiden Vereinfacher dem geschönten Bild vom Gandhi-Nachfolger zu Leibe und kreieren ein Zerrbild. Damit begeben sie sich – mutatis mutandis – akkurat auf das Niveau derer, die ihn zum Idol erheben und zum Gott hypostasieren. Als gäbe es nur das eine oder das andere! Der Gescholtene ist weder ein Gott noch das Schlitzohr, zu dem er in diesem Opus gemacht wird. Er ist zwar ein Charismatiker und sicherlich ein Glücksfall für die Tibeter, aber er ist ein Mensch, weder ohne Fehler noch unfehlbar. Kritik an seiner Person ist nicht sakrosankt.
Allein hier wird nicht kritisiert, sondern verleumdet. Der 14. Dalai Lama wird dargestellt als ein von aller Welt überschätzter Heuchler, mit dessen Toleranz und Demokratieverständnis es in Wahrheit nicht weit her ist. Was diesen Entwurf zu bestätigen scheint, erhält in dem Stück breiten Raum, Gegenteiliges oder auch nur Differenzierendes kommt nicht vor. In einem innertibetischen Zwist zwischen ihm und einer Gruppierung innerhalb seiner eigenen Gelugpa-Schule schlagen sich die Panorama-Reporter kritiklos auf deren Seite und übernehmen einseitig ihre Informationen. Wer die Meinung der Angegriffenen erfahren will, muß selbst recherchieren.
Dramaturgisch gekonnt kontrastieren sie Szenen vom Münchener Kirchentag 1993, auf dem der Dalai Lama den dort versammelten Christen Liebe, Freiheit und Gewaltlosigkeit predigt und dafür standing ovations erntet, mit einer Demonstration europäischer Buddhisten in England, deren Teilnehmer »Dalai Lama, gib uns heute Religionsfreiheit!« skandieren. Der Dalai Lama habe den Gläubigen die Verehrung der Schutzgottheit Shugden verboten und damit ihre religiöse Freiheit begrenzt, klagt Gonsar Rinpoche, der Abt des Klosters Rabten Chöling am Genfer See, vor den Panorama-Kameras; seither gebe es eine »gewisse Spaltung«.
Die Substanz dieses religiösen Konflikts entzieht sich abendländisch geprägten Verständniskategorien und kann hier nicht untersucht werden. Was Außenstehende jedoch nachvollziehen können, sind die Konsequenzen im gesellschaftlichen und politischen Raum. Fakt ist, daß der Dalai Lama die Gläubigen nachdrücklich gebeten hat, sich von der Schutzgottheit Shugden abzukehren. Er habe im Lauf der Jahre erkannt, daß deren Verehrung für Tibet und für sein persönliches Wohlergehen schädlich sei.
Das hat in tibetischen Siedlungen und Klöstern in Indien zu Unruhen geführt. Mancherorts soll es zu so heftigen Auseinandersetzungen gekommen sein, daß die Polizei eingreifen mußte. Gelug-Klöster, deren geistliches Oberhaupt der Dalai Lama ist, nötigten ihre Mönche bei Strafe des Ausschlusses, abzuschwören. Exilregierung und -parlament verlangten das gleiche von den Inhabern leitender Positionen in Verwaltung und Justiz; wer von den Betroffenen sich nicht dazu verstehen könne, möge konsequent sein und um seine Entlassung einkommen.
Panorama: »Da wirken Forderungen des Dalai Lama nach Religionsfreiheit und Demokratie wie Lippenbekenntnisse.« Kein Wort darüber, daß er weder etwas ver- noch ge-boten, sondern lediglich gebeten und nahegelegt hat. Etwas eingefordert von ihren Funktionären beziehungsweise von ihren Mönchen haben allerdings die weltlichen und monastischen Autoritäten. Allein erwartet nicht jede Regierung von ihren Beamten Loyalität? Setzt nicht jede Religion – egal welche – der Glaubensfreiheit derer, die sich zu ihr bekennen, Grenzen? Verpflichtet sich nicht jeder Mönch und jede Nonne beim Eintritt in einen Orden zum Gehorsam? Wo werden religiöse Fragen demokratisch entschieden?
Panorama fährt in seiner parteiischen Diktion fort: »Das tibetische Exilparlament, sein demokratisches Aushängeschild, hat nach dem Religionsverbot des Dalai Lama prompt die Verfassung geändert. Bisher hieß es in Artikel 63 der Exilverfassung – Zitat: Der vorsitzende Richter des Gerichtshofes und die beiden Geschworenen sollen Tibeter sein, jetzt wurde hinzugefügt: und außerdem nicht an die Gottheit Shugden glauben.«
Das Office of Tibet, die Repräsentanz des Dalai Lama in Genf, bezeichnet dies als »frei erfunden«: »Eine solche Änderung des Artikels 63 der Verfassung hat es nie gegeben.« Aussage gegen Aussage – allerdings erst nach der Sendung; im Film kommt die Exilregierung weder zu Wort noch wird ihre Stellungnahme erwähnt. Man kann sie ja in Zweifel ziehen, aber man muß sie einholen und zur Kenntnis bringen. Das ist bei so gravierenden Vorwürfen nicht nur eine Frage der Fairneß, sondern des Anstands.
Panorama setzt statt dessen noch eins drauf: »Die Berufsverbote gelten für alle Shugden-Anhänger, vom Minister bis zur Krankenschwester..« Die Exilregierung dementiert auch dies. Wiederum nichts davon in der Sendung? Auch keine Erwähnung der Resolution des tibetischen Parlaments vom 6. Juni 1996, in der es zu den Meldungen über Arbeitsplatzverluste von Shugden-Anhängern heißt: »Sollte es je zu einem solchen Fall kommen, dann sei hiermit festgestellt, daß dies weder der Wunsch Seiner Heiligkeit des Dalai Lama noch die Politik der tibetischen Administration ist. Wir appellieren an alle Organisationen und Individuen sicherzustellen, daß so etwas nicht Platz greift.«
Daß manchmal beiderseits überreagiert wurde, ist bekannt. Es ist auch durchaus vorstellbar, daß es Fälle gab, wo engstirnige Behördenvorsteher, Schulleiter oder Chefärzte Mitarbeiter entlassen haben. Ein so aufgeheiztes Klima fördert Mißtrauen, Verdächtigungen und Denunziantentum. Und Tibeter sind keine Sonderexemplare der Spezies Mensch. Bestimmte Situationen bringen in ihrer Gesellschaft die gleichen Idiotismen hervor wie überall auf der Welt.
In der Shugden-Kontroverse blieb es leider nicht bei Idiotismen. Drei Morde sind zu beklagen. Auch Panorama tut es – allerdings anonym. Obwohl die Opfer bekannt sind, erfährt man nicht, wer sie sind. Angesichts der Tendenz der Sendung muß der unvollständig informierte Zuschauer folgern, daß es sich bei den Umgebrachten um Shugden-Anhänger gehandelt hat.
Ermordet wurden jedoch am 4. Februar 1997 in Dharamsala der Dialektik-Lehrer Geshe Lobsang Gyatso, bekannt als einer der schärfsten Shugden-Kritiker und mit ihm zwei seiner Mönchsstudenten. Von sechs Verdächtigen, die nach Erkenntnissen der indischen Polizei zum Umfeld der Shugden-Anhänger in Delhi gehören und mangels stichhaltiger Beweise auf freien Fuß gesetzt wurden, sollen sich zwei ins Ausland abgesetzt haben. Wer immer den Mord begangen hat, kann sich im Machtbereich der Chinesen am sichersten fühlen. Denn für die ist es ein Geschenk des Himmels, wenn sich die Tibeter selbst zerfleischen und ein Teil von ihnen die Position des Dalai Lama in Frage stellt. Auch der erhält seit geraumer Zeit Morddrohungen. Die indische Regierung sah sich Anfang 1997 veranlaßt, den Polizeischutz für ihn zu verstärken.
Warum vermißt man bei Panorama auch nur andeutungsweise alles, was den Hintergrund transparent machen könnte? Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß das Ziel der Autoren nicht sachliche Information war, sondern Demontage des Dalai Lama, Interessantmacherei.
So gehen sie auch mit der für sie befremdlichen Tatsache um, daß ein so gescheiter Mann wie er Rituale vollzieht, die uns fremd sind. Obwohl »für seine Weisheit weltberühmt … trifft er alle wichtigen politischen Entscheidungen auf höchst zweifelhafte Art. Er fragt traditionelle tibetische Orakel um Rat. … Selbst tibetischen Traditionalisten wird es langsam mulmig bei solchen Entscheidungen,« kommentiert Panorama und präsentiert Gonsar Rinpoche als Kronzeugen. Der erklärt, daß »viele von uns« die Orakelpraxis für ein »Risiko« halten. Der Zuschauer erhält den Eindruck, die Shugden-Anhänger stünden aufgeklärtem westlich-rationalem Denken nahe, während der Dalai Lama und seine Getreuen dem Mittelalter verhaftet sind und dadurch langsam zu einem gefährlichen Unsicherheitsfaktor für ihr Volk werden. Dabei zeichnen sich die Verehrer dieser rasenden Gottheit keineswegs durch generelle Ablehnung von Orakelbefragungen und ähnlichen Ritualen aus und haben das auch nie von sich behauptet.
Das Panorama-Stück war dergestalt unsachlich und unredlich, daß man sich fragt, wie es in dieser Form die Abnahme passieren konnte. Das betrifft nicht die Themenstellung und das Benennen kritischer Punkte, sondern die Einäugigkeit und die daraus resultierende Unvollständigkeit der Information und last but not least die Borniertheit des Kommentars. Nicht um einer von Konservativen gern postulierten »Ausgewogenheit« das Wort zu reden – nichts ist spannungsloser und dilettantischer als ein solches Sowohl-als-auch! –, doch bei einer so zugespitzten Polemik hätten kompetente Verteidiger der Betroffenen nicht fehlen dürfen. Es gab sie nicht in der Sendung.
In der Schlußmoderation von Patricia Schlesinger heißt es lakonisch: »Ein Interview wollte der Dalai Lama uns nicht geben.« Ja gab es denn niemanden, der sich statt seiner und für ihn kompetent hätte äußern können? Nach Auskünften der Exilregierung waren solche Leute bereit und autorisiert. Allein es mußte der Dalai Lama sein, er oder niemand.
Dieser Film hat gewiß keinen Shangri-La-Romantiker von seiner Wolke geholt, keinen New-Age-Jünger verunsichert, keinen Dalai Lama-Schwärmer nachdenklich gemacht und keinen Esoteriker in die Gefilde dieser Welt zurückbefördert. Das typische Panorama-Publikum aber, das sich von der Masse der Fernseh-Konsumenten durch intellektuelle Aufgeschlossenheit und politisches Interesse unterscheidet, ist desinformiert worden. Das hat es nicht verdient. ■