Sektierertum im Buddhismus – Ursachen & Auswege
von Jürgen Manshardt
Die tibetische Rime-Bewegung versucht, Brücken zu schlagen zwischen den verschiedenen Schulen des tibetischen Buddhismus.
Im Zeitalter der Globalisierung und des Informationsaustausches, in dem nicht nur Güter, sondern auch Menschen und Ideen in einer nie dagewesenen Geschwindigkeit und Fülle durch die Welt reisen, sollten Annäherung, Wertschätzung und Öffnung gegenüber dem Anderen und Unbekannten eine Selbstverständlichkeit sein. Aber wie wir oft beobachten müssen, führt dieses Aufeinandertreffen von verschiedenen Werten, Kulturen, Lebensweisen, Religionen etc. nicht zwangsläufig zu mehr Verständnis, Toleranz und Miteinander, sondern scheint in vielen Lebensbereichen häufig auch Extreme – und Extremisten – auf den Plan zu rufen. Allein auf dem religiösen Sektor gibt es viele Neuauflagen von Fanatismus, Dogmatismus ‚heiligen Kriegen’ und Sektierertum. In einer solchen Zeit ist es besonders wichtig, sich auf die Grundsätze von Humanität, Ethik, Empathie, gesundem Menschenverstand, Toleranz und gelebter Spiritualität zu besinnen.
Man könnte nun denken, dass der Buddhismus mit seiner Betonung des Bestehens in gegenseitiger Abhängigkeit (Skt. pratītyasamutpāda) und solchen Qualitäten wie Mitgefühl und liebender Güte prädestiniert sei, solchen Grundsätzen gerecht zu werden. Insbesondere der tibetische Buddhismus mit seinem altruistischen Bodhisattva-Ideal sollte doch gegen jene inneren Anfeindungen von Intoleranz, Fundamentalismus und Sektierertum gefeit sein.
Aber leider gab es in der Geschichte Tibets eine Vielzahl an sektiererischen Tendenzen, die bis in die heutige Zeit zu mannigfaltigen Konflikten und zur Entfremdung zwischen den vier hauptsächlichen Traditionen – Nyingma, Sakya, Kagyu und Gelug – des tibetischen Buddhismus geführt haben. Aber auch innerhalb der einzelnen Traditionen kommt es immer wieder zu vehementen Auseinandersetzungen, die manchmal zur „Gewalt der Frommen“¹, ja sogar bis hin zu religiös motivierten Morden führen. So wurde Losang Gyatso, ein erklärter Gegner des Shugden-Kultes und Leiter des ‚Institute of Buddhist Dialectics‘ in Dharamsala, Indien, am 4. Feb. 1997 zusammen mit zweien seiner Schüler von unbekannten Tätern erstochen.
Der Gelugpa-interne-Konflikt um den vermeintlichen Dharma-Beschützter (Skt. dharmapala) Dorje Shugden (Tib. rdo rje shugs ldan) sei hier exemplarisch genannt. Die Ablehnung dieses Kultes durch den Dalai Lama hat viele frühere Anhänger von Dorje Shugden gegen ihn aufgebracht.² Aber als prominentestem Vertreter des Rime-Ansatzes geht es dem Dalai Lama sicherlich nicht nur um die Frage, ob Dorje Shugden ein weltlicher Geist oder ein Buddha-gleicher Dharma-Beschützer ist, sondern es geht ihm darum, die oft sich antagonistisch gegenüberstehenden Traditionen wieder zusammenzuführen. Wer einen Einblick in die Materie besitzt, weiß, dass besonders die Dorje Shugden-Praxis, die bisher von vielen Gelugpa-Lamas gepflegt wurde, den Nyingma- und Kagyu-Anhänger ein Dorn im Auge ist, und dass es keine wirkliche Annäherung zwischen diesen Traditionen geben wird, solange dieser Kult beibehalten wird.
Die Gründe für die althergebrachten sektiererischen Tendenzen im tibetischen Buddhismus sind vielfältig und liegen oft historisch weit zurück. Einige der maßgebenden Ursachen sind folgende:
- Es gab keine Trennung von Religion und weltlicher Macht. Somit waren Überlagerungen von machtpolitischen, feudalen mit religiös-spirituellen Interessen vorprogrammiert. Noch heute ist ein Ideal einzelner Lamas, ein Dharma-Raja, ein Dharma-Herrscher, zu werden.
- Jede der tibetischen Schulen besaß über die Jahrhunderte hinweg zumindest regional eine zeitweilige Dominanz aufgrund des Paktes mit jeweiligen Herrscherhäusern bzw. Machthabern. Diesen Einfluss nutzten die jeweiligen Schulen zur Stärkung der eigenen Tradition, und dies nicht selten auf Kosten der übrigen Schulen.
- Zudem haben die Tibeter aufgrund ihrer weitgehend nomadisch-bäuerlichen Lebensart und der hierarchisch-feudal geprägten theokratischen Gesellschaftsform eine überaus starke Bindung und Loyalität gegenüber ihrer Familie, dem Clan, ihrer Heimat sowie gegenüber Autoritäten und Traditionen. In der Regel wurde der einfache tibetische Laie bzw. Mönch ‚in eine Tradition geboren‘ und blieb unreflektiert und mit großer Loyalität (und bisweilen starker Anhaftung) seiner Tradition, seinem Lama und seinem Kloster treu.
- Wie bei jedem Fundamentalismus kommt – psychologisch gesehen – neben Ignoranz noch das starke Bedürfnis hinzu, sich mit einer Lehre und einer vermeintlich überlegenen Heilslehre und erhabenen Lama(s) und Gleichgesinnten zu identifizieren, um der eigenen Unsicherheit und Unbedeutendheit zu entfliehen.
- Wird die Identifikation dann zwanghaft und übersteigert, werden alle Personen, Kräfte und Lehren, die etwas anderes intendieren, als gefährlich und feindlich empfunden und müssen ggf. verdrängt – oder wo dies nicht mehr möglich ist – bekämpft werden, um das übersteigerte (grandiose) Selbstbild aufrechtzuerhalten.
- und da im tibetischen Buddhismus das Anvertrauen und die Verehrung des Lehrers sehr stark betont werden, ist die Erhöhung des eigenen Lamas oft dazu angetan, die Eigenverantwortung zu minimieren und „Andersgläubige“ abzuwerten. So mag die übersteigerte Identifikation mit einem Lama (einer Klostergemeinschaft oder der gesamten Tradition) als devote Bescheidenheit daherkommen, kann sich jedoch nicht selten mit narzisstischen Störungen voller verkappter Allmachtgefühle und Absolutheitsansprüche paaren. Dies wiederum hat zur Folge, dass echte Offenheit und ein Interesse am Dialog mit anderen proportional zur eigenen Verbohrtheit abnimmt und dadurch ein mögliches Korrektiv so gut wie unmöglich gemacht wird.
Und wie schon Chögyam Trungpa in seinem Klassiker Spirituellen Materialismus durchschneiden [Theseus Verlag 2003] warnt, können wir der Illusion erliegen, uns mit Hilfe spiritueller Techniken weiterentwickeln zu wollen, während wir in Wirklichkeit nur unsere Ich-Bezogenheit stärken.
Aufgrund solcher und weiterer Kräfte sind viele Anhänger der Traditionen bis heute oft voneinander isoliert und mit vielen Vorurteilen, fundamentalistisch-sektiererischen Auffassungen und Unkenntnis belastet. Viele Lamas meinen, sich bzw. ihre eigene Tradition gegen konkurrierende ‚feindliche‘ Schulen schützen zu müssen.
Fortsetzung des Konfliktes im Westen
Die Gefahr besteht, dass diese Tendenzen auch bei der Übertragung des Buddhismus in den Westen unerkannt mitgeliefert werden und in neuem Kleide weiter ihr Unwesen treiben. So wird die auf Befreiung angelegte Lehre des Buddha durch fehlerhafte Interpretation in Teilen schnell zur Fesselung. Das Floß der Lehre wird dann zur Wallanlage, die das falsch verstandene Ich ummauert.
So warnt der zeitgenössische Lama Dezhung Rinpoche: „Wird diese Gefahr nicht abgewendet und ist die eigene Herangehensweise an den Dharma falsch, wird ‚Dharma’ zur Ursache für Schädliches anstelle von Nützlichem.“ Und weiter sagt er: „Ich habe gesehen, dass diese engstirnige Geisteshaltung den Buddhismus in meinem eigenen Land Tibet beeinträchtigt hat. Und auch während der letzten 20 Jahren meines Aufenthaltes in Amerika habe ich mit ansehen müssen, wie sich diese Geisteshaltung in vielen Dharma-Zentren verbreitet, die hier von tibetischen Lehrern und ihren Schülern gegründet wurden.“³
Obwohl eigentlich die historisch seltene Möglichkeit besteht, bei der Übertragung der buddhistischen Lehren aus Tibet (oder entsprechend anderen Ländern und Kulturen) eine Filterfunktion einzuschalten, werden oft alle mühsam in der Aufklärung und der Moderne errungenen freiheitlichen und demokratischen Grundsätze über Bord geworfen, um einem fast mittelalterlich anmutenden Sektierertum zu frönen. Die Vertreter der Rime-Bewegung erkannten die Gefahren solcher den Grundsätzen der Lehre zuwider laufenden Tendenzen und haben sich um einen dialogischen Prozess zwischen den Traditionen bemüht. Ihnen ging es um die Bewahrung und Würdigung, nicht aber um eine Vermischung der verschiedenen Traditionen und ihrer jeweiligen oft einzigartigen Besonderheiten.
So verdeutlicht Ringu Tulku zum Beispiel in seinem Buch The Ri-me Philosophy of Jamgön Kongtrül the Great, dass es acht besondere Praxis-Überlieferungen in Tibet gab, die jeweils unterschiedliche Lehren und Übungen in den Fokus rückten und jede für sich einen eigenen Pfad zur Erleuchtung bildeten. Diese Überlieferungen galt es zu erhalten und gegebenenfalls neu zu beleben.
Die großen Rime-Meister des 19. Jahrhunderts – zum Beispiel Jamgön Kongtrül Rinpoche (1813–1899, tib. ’jam mgon kong sprul) – und heute der Dalai Lama haben tiefe Kenntnisse aller Traditionen. Insbesondere der Aufgeschlossenheit und der Weitsicht des Dalai Lama ist es zu verdanken, dass speziell der tibetische Buddhismus mehr und mehr Anerkennung findet und selbst von vielen Wissenschaftlern und Andersgläubigen als wertvolles Gut erachtet wird.
Im ‚globalen Dorf’, unserer modernen, miteinander vernetzten Welt, wird es zunehmend wichtiger, kostbare Traditionen zu erhalten und gleichzeitig eine Offenheit und Wertschätzung für die Vielfalt und Andersartigkeit der übrigen kulturellen und spirituellen Schätze zu entfalten. Die Rime-Haltung kann uns hierbei wichtige Impulse und Orientierungshilfen vermitteln. Nur im Kontakt und Dialog mit der Welt und ihren vielfältigen Erscheinungsformen und Entwicklungen kann die buddhistische Lehre ihre Gültigkeit und Kostbarkeit erweisen. Jede Form von Festhalten an überkommenen sektiererischen und purifizierten Dogmen bewahrt nicht die Lehre des Buddha, sondern gefährdet sie.
Wie die alten Inder in ihren Disputen, die Griechen unter den Arkaden und die Katholiken im Vorhof der Völker ihre Ansichten vertreten und diskutieren konnten, sollten auch die Buddhisten sich besser kennenlernen und beispielsweise verstärkt interbuddhistische Dialoge führen. Es gibt gute Ansätze und übergeordnete Dachverbände wie die Deutsche Buddhistische Union (DBU). Es gibt Tagungen, gemeinsame Vesakh-Veranstaltungen und eine Vielzahl von Dialogen, die bereits Wichtiges geleistet haben. Aber ich träume von einer lebendigen Einrichtung, in der sich über einen längeren Zeitraum eminente Vertreter der buddhistischen Traditionen in Praxis und Theorie austauschen. Und um die Utopie zu vervollständigen, wünsche ich mir zusätzlich Symposien mit Wissenschaftlern, Künstlern, Literaten und Vertretern anderen Religionen. In einem viel bescheideneren Rahmen können aber vernetzte und dialogbereite buddhistische Einrichtungen hier schon jetzt einen deutlichen Beitrag zum Abbau von sektiererischen Tendenzen leisten.
Im Sinne des Humanismus und mit den Worten, die Albert Einstein kurz vor seinem Tode im Jahre 1955 in einer Art Testament hinterließ, können wir am Ende sagen:
Erinnert Euch Eurer Menschlichkeit und vergesst ruhig den Rest.Albert Einstein
Fußnoten
¹ Sudhir Kakar, C.H.Beck 1997
² Eine ausführliche Erörterung dieses Konfliktes findet man in: Michael von Brück Religion und Politik im Tibetischen Buddhismus, Kösel Verlag, München 1999. (Online: »Streit um Shugden«)
³ Zitat aus einem Vortrag von Dezhung Rinpoche (1906–1987) in Los Angeles, Kalifornien, USA, 1983. Dezhung Rinpoche war ein großer Rime-Meister aus der Sakya-Tradition. Siehe die ausführliche Biografie von David. P. Jackson A Saint in Seattle. The Life of the Tibetan Mystic Dezhung Rinpoche, Wisdom Publications, Boston 2003.