Über das Verhältnis von Religion und Politik

XIV. Dalai Lama, Tenzin Gyatso

Vortrag S.H. des Dalai Lama 1986 im Margarethenhof der Friedrich-Naumann-Stiftung in Königswinter. Das Thema des Vortrages ist »Ethik im politisch aktiven Leben«.

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Ich bin kein Experte auf diesem Gebiet, sondern ich bin ein buddhistischer Mönch und habe einige Erfahrung im politischen Leben, deshalb möchte ich einige meiner Gedanken zu diesem Thema ausdrücken. Eine grundlegende Auffassung des Buddhismus ist es, daß es wichtig ist, ein Ziel anzustreben, das von besonders großem Nutzen ist; die Mittel, die dazu angewandt werden, sind dagegen nur zweitrangig.

Es ist nicht möglich, Gutes und Schlechtes einfach so in zwei Gruppen aufzuteilen, wie man eine weiße und eine schwarze Wolke klar als solche unterscheiden kann. Denn nur in Abhängigkeit bestimmter Umstände ist etwas als schlecht oder gut zu bezeichnen. Da das der Fall ist, ist eines der allerwichtigsten Elemente unserer Arbeit unsere persönliche Einstellung.

Wenn man keine positive Einstellung hat, dann sind auch Bemühungen wie Meditation, intensive Geistesschulung und das Geben von Unterweisungen in der Religion wahrscheinlich ohne Nutzen, denn es ist sehr zweifelhaft, ob sie, wenn keine entsprechende Motivation vorhanden ist, wirklich eine gute ethische Bemühung sind. Wenn jedoch eine heilsame Motivation die Arbeit bestimmt, dann sind selbst die Mittel, die man zum Erreichen eines Ziels anwendet, zweitrangig.

Wenn man von Politik spricht, denken heutzutage viele Leute, daß Politik ein schmutziges Geschäft sei. Aber was ist Politik eigentlich wirklich? Politik ist nichts anderes als ein Instrument, um die Schwierigkeiten und Probleme der Gesellschaft zu lösen. Ob dieses Instrument, nun ein schmutziges Instrument wird oder nicht, hängt einzig und allein von denen ab, die es anwenden.

Ich habe manchmal im Spaß zu Politikern, die zu mir kamen und sagten: »wir verstehen nichts von Religion, wir sind Politiker und müssen uns mit der Politik beschäftigten«, folgendes geantwortet: »Wenn jemand, der sich in die Berge zurückgezogen hat, um dort der Anwendung seiner Religion zu folgen, von Religion nicht viel versteht, dann macht das nichts, denn er fügt durch sein Unverständnis niemandem einen großen Schaden zu. Aber ein Politiker, der von Religion nichts versteht, ist sehr gefährlich: Es ist viel wichtiger, daß der Politiker die Religion klar versteht.«

Mitgefühl und Weisheit

Generell wird im Buddhismus betont, dass Liebe und Mitgefühl mit Weisheit einhergehen müssen.

Liebe wünscht das Wohlergehen der Lebewesen, auf die sich die Liebe richtet. Liebe kann nachfolgend geistige, sprachliche oder körperliche Handlungen veranlassen, die zum Wohlergehen (oder Glück) der Lebewesen beitragen. Mitgefühl wünscht Lebewesen vor Schaden zu beschützen oder von Leid zu befreien. Mitgefühl kann nachfolgend geistige, sprachliche oder körperliche Handlungen veranlassen, die andere vor Schaden schützen oder sie von Leid befreien. Das Ideal ist, dass Liebe und Mitgefühl alle Lebewesen ohne Ausnahme umfassen und man dabei frei von Abneigung (Zurückweisung), Anhaftung (Festhalten) oder Gleichgültigkeit (Ignorieren) ist.

Diese Herzqualitäten müssen mit Weisheit einhergehen, die in der Lage ist, die kurzfristigen und langfristigen Folgen von Handlungen für einen selbst und andere korrekt einzuschätzen.

Theorie und Praxis von Liebe und Mitgefühl im Kontext des Buddhismus bedeuten also nicht, alles durchgehen zu lassen und indifferent gegenüber langfristig schädlichen Handlungen zu sein oder sich aus religiösen Reinheitsgedanken oder grundsätzlich nicht politisch zu betätigen.

Wenn ich von Religion spreche, dann meine ich damit nicht irgendwelche Rituale. Sie gehören zwar auch zur Religion, aber wenn ich hier das Wort Religion verwende, dann verstehe ich darunter Erbarmen, Mitgefühl und Zuneigung für den Mitmenschen. Ich empfinde diese Eigenschaften als eine universelle Religion. Schon als Kind benötigt man unbedingt jemanden, der einem Liebe entgegenbringt, denn sie ist etwas, das alle Menschen benötigen. Es scheint etwas in unserem Blut zu sein, das dieses Bedürfnis mit sich bringt, es ist die grundlegende Eigenart von uns Menschen, ob wir gebildet sind oder nicht, ob wir reich sind oder nicht, ob wir mächtig sind oder nicht; all das sind nur oberflächliche Unterschiede. Was uns als Menschen wirklich charakterisiert, ist die Eigenart, daß wir Zuneigung und Liebe benötigen und uns danach sehnen.

Ich glaube, daß wir als eigentliche Religion folgendes ausüben sollten: Unser Heim sollten wir als eigentliche Kirche empfinden, in der wir Religion anwenden und diejenigen, die uns Liebe und Zuneigung zeigen, seien es unsere Eltern, Geschwister oder Verwandten, sollten wir als unsere Lehrer ansehen, die uns die Religion beibringen. Durch das eigene Wohlbehagen, das wir durch die Zuneigung der anderen empfinden, sollten wir die Notwendigkeit erkennen, daß wir anderen ebenfalls Liebe und Zuneigung zeigen müssen. Auf diese Art und Weise sollten wir Religion ernsthaft ausüben.

Ich kann aus meiner eigenen Erfahrung sagen, daß ich in dem Maß, in dem ich Zuneigung und Mitgefühl für die anderen empfinde, eine geistige Ruhe, Offenheit und Ausgeglichenheit verspüre.

Wenn es einem gelingt, eine zuneigende, liebende Einstellung zu anderen zu haben, dann ist das ausgezeichnet. Es ist meine Überzeugung, daß heutzutage die Frage, ob wir Liebe zu den anderen Menschen dieser Welt entwickeln oder nicht, nicht lediglich eine Frage des Luxus ist, sondern eine Frage des Überlebens. Ganz gleich, was wir als Beispiel nehmen, seien es die internationalen Beziehungen auf dieser Erde oder seien es selbst Kriege, ich bin überzeugt, daß das Ausschlaggebende die geistige Einstellung der Betroffenen ist; nämlich ob in ihnen eine Zuneigung zu den anderen vorhanden ist oder nicht.

Hier im Westen wurde eine außerordentliche technologische Entwicklung erreicht. Das ist sehr gut. Es ist wertvoll, aber es besteht die Gefahr, daß man durch diese einseitige Entwicklung mit der Zeit die menschlichen Werte verliert und daß der Mensch dann ebenfalls als etwas Mechanisches erscheint.

In der menschlichen Gesellschaft wird es sicherlich immer Streitigkeiten und Unstimmigkeiten geben, selbst in einer Familie gibt es sie. Aber solange man diese Unstimmigkeiten innerhalb der Familie austrägt, können sie keinen größeren Schaden anrichten. Und genauso empfinde ich es als wichtig, daß wir als Menschen dieser Erde unsere Streitigkeiten auf einer menschlichen Ebene austragen, daß wir die Grenze bei der Menschlichkeit setzen. Selbst wenn ein Krieg ausbricht, besteht noch Hoffnung, solange die menschlichen Empfindungen und Gefühle noch eine Rolle in einem solchen Streit spielen. Wenn jedoch Kriege zu einem vollständig mechanisierten, automatisierten Prozeß werden, dann sind die menschlichen Werte vollständig verloren gegangen und dann ist die Zerstörung unermeßlich.

Man kann also sehen, daß der Friede in der Welt seine Wurzeln in der menschlichen Einstellung der Betroffenen hat. Solange sich der Mensch in einem Zustand des Ärgers und der Wut befindet, ist es unmöglich, daß Frieden entsteht. Friede kann nur gedeihen, wenn der Mensch entspannt, fröhlich und gelassen ist.

In unseren Beziehungen auf dieser Erde zwischen Ost und West gibt es zweifellos eine Menge Unstimmigkeiten. Aber wenn diese Unstimmigkeiten auf der Grundlage einer menschlichen Beziehung mit dem Verständnis ausgetragen werden, daß wir sowohl im Osten als auch im Westen Menschen dieser Erde sind, wenn diese Einstellung unsere Dispute trägt, dann können wir diese sicher in Frieden austragen.

Auch scheint es Probleme in der Beziehung zwischen nördlichen und südlichen Ländern in Bezug auf ihre wirtschaftliche Lage zu geben. Aber wenn diese Beziehungen ebenfalls ihre Grundlage in einer Achtung des anderen als Mensch haben, dann tragen diese Beziehungen keine weiteren unüberwindbaren Probleme in sich.

Ich bin auch der Auffassung, daß wir durch unser System der Erziehung der Jugend nur dann eine wirkliche Verbesserung unserer Gesellschaft erreichen, wenn in der Erziehung Menschlichkeit, eine Einstellung des Respektes und der Zuneigung für die anderen, vermittelt wird.

Ich bin fest davon überzeugt, daß die Grundlage dafür, daß die Menschheit in der Zukunft fröhlicher und glücklicher leben kann, diese Einstellung der Zuneigung und Liebe zu den anderen ist.  ■


Eine mündliche Übersetzung von Bhikshu Jampa Lungtog (Helmut Gassner). Überarbeitet von Michael Fritzsch.

© Tibet und Buddhismus

Der Artikel erschien in Tibet und Buddhismus Nr. 19, 1988, S. 19–20. Online-Veröffentlichung mit freundlicher Erlaubnis von Tibet und Buddhismus. (PDF)