Gar nicht so friedliebend? –
Zum Gewaltverständnis des 14. Dalai Lama
Interview mit Thierry Dodin von Tenzin Peljor
Weltweit wird dem Dalai Lama seit langem Bewunderung und Sympathie entgegengebracht. Manchen aber ist diese Verehrung, die das geistliche Oberhaupt der Tibeter genießt, suspekt. So gibt es immer wieder ,Investigativ-Journalisten‘, die das Thema für sich entdecken.
Der Stern berichtete über „Die zwei Gesichter des Dalai Lama“¹, und auch die Süddeutsche Zeitung² und das TV-Magazin Panorama³ hinterfragten schon das Bild vom friedliebenden und gewaltfreien Dalai Lama und sahen, so die SZ, „gewaltige Schatten auf den Gottkönig“ fallen. – Müssen wir unser positives Bild vom Dalai Lama korrigieren?
Der Mönch Tenzin Peljor befragt den Tibetologen und Religionswissenschaftler Thierry Dodin nach dem Gewaltverständnis des Dalai Lama.
Tenzin Peljor: Herr Dodin, was ist zu den Anschuldigungen zu sagen, der Dalai Lama geriere sich heute als Friedensfürst, habe aber schon in den 1950er Jahren in Tibet den bewaffneten Widerstand unterstützt? Ist der Dalai Lama ein Heuchler?
Thierry Dodin: Der Dalai Lama hat immer klargestellt, dass er die Beweggründe der tibetischen Guerilla-Kämpfer versteht und sie nicht moralisch verurteilt, aber dass er gleichzeitig den bewaffneten Kampf nicht unterstützen könne. Das schreibt er schon in seiner Biographie von 1962. Die Position, die er konsequent von 1951 bis heute vertreten hat, ist: Er verurteilt niemanden, der in einer Situation, in der er glaubt, sich verteidigen zu müssen, Gewalt anwendet. Er selbst aber lehnt Gewalt ab – auch wenn sie manchmal nicht vermeidbar sei – weil er glaubt, dass Gewalt keine wirkliche Lösung ist. Sie scheine zwar manchmal einige unmittelbare Probleme zu lösen, verursache jedoch letztlich immer mehr, immer neue Probleme.
Das ist eine moralische Position, die rational unterlegt ist: Gewalt ist an sich schlecht, aber nicht immer vermeidbar.
Genau das hat er immer gesagt und gelebt. Ich finde das sehr überzeugend. Und er war es ja auch, der schließlich 1974 die Khampa-Guerillas überzeugt hat, die Waffen niederzulegen, die meisten kamen dieser Aufforderung auch nach.
Später, im Exil, wurde innerhalb der indischen Armee ein Tibetisches Regiment gebildet, das U22, zu dem sich Tibeter freiwillig melden konnten. Viele taten das auch. Doch auch damit hatte der Dalai Lama nur insofern zu tun, als diese Soldaten ihn zum Beispiel baten, sie zu segnen, bevor sie in den Kampf zogen – sie wurden vor allem während des Indien-Pakistan-Konflikts 1970 eingesetzt. Das war aber keine moralische Billigung des Krieges sondern die ,seelsorgerische Pflicht‘ eines religiösen Oberhaupts. Das macht ihn nicht zu einem Kriegsbefürworter.
Tenzin Peljor: Was die Medien herausarbeiten wollen, ist offensichtlich, dass sich der Dalai Lama zwar nach außen hin friedliebend gibt, „doch in der politischen Praxis“, so hieß es in Panorama, „war er ja auch für den bewaffneten Kampf verantwortlich, finanziert von der CIA.“
Thierry Dodin: Ich kann nicht nachvollziehen, wie man ihn dafür verantwortlich machen könnte. Es ist allgemein bekannt, dass das, was die chinesische Regierung als „friedliche Befreiung Tibets“ bezeichnet, nicht friedlich war: Eine militärisch überlegene Macht zwang dem Land ihren Willen auf! Natürlich wehrten sich die Tibeter dagegen.
Aber zurück zu den 1950ern: Die Amerikaner sahen sich damals im Kampf gegen den ,Weltkommunismus‘, und Tibet wurde nun mal von einem Land besetzt, das sich selbst als kommunistisch bezeichnete. Da war es nur logisch, dass die Tibeter sich an die Amerikaner – und umgekehrt! – wandten, und „Amerikaner“ in einer solchen Situation hieß damals wie heute, dass die CIA mit am Tisch sitzt, unter welchem Namen auch immer sie auftritt.
Welche, aus heutiger Sicht, politisch korrekten Freunde hätten die Tibeter sich denn aussuchen sollen für ihren Freiheitskampf? Außerdem, auch das muss man bedenken, waren die Amerikaner und damit auch die CIA für weite Teile der Welt damals noch ,die Guten‘, die Befreier. Das Bild erhielt im Westen erst in den 1960er Jahren erste Risse.
Dann müssen wir festhalten, dass der Dalai Lama 1950 beim Einmarsch der Chinesen, als die ersten Kontakte zur CIA geknüpft wurden, gerade einmal 15 Jahre alt war. Quellen aus dieser Zeit zeigen, dass er eher wenig davon gewusst hat. Die Kontakte liefen über seine beiden älteren Brüder, und diese haben ihn offensichtlich ganz bewusst nur begrenzt darüber aufgeklärt.
Aber er hätte damals, in der tibetischen Gedankenwelt der 1950er Jahre, mit dem Begriff ,CIA‘ wahrscheinlich sowieso nicht viel anfangen können. Für die Tibeter ging es damals darum, die Besetzung ihres Landes zu verhindern. Dafür brauchten sie die Unterstützung der Amerikaner, da sie auf Indien, das sich weitgehend zurückhielt, nicht zählen konnten. Tibet hat übrigens auch auf die Unterstützung Großbritanniens gehofft, aber auch hier vergebens.
Tenzin Peljor: Hatten die Amerikaner ihre Hilfe angeboten, oder kam die Bitte von Seiten der Tibeter?
Thierry Dodin: Ich glaube, das lässt sich im Einzelnen nicht mehr nachvollziehen, es ist aber ohnehin irrelevant.
Wofür die CIA stand, war für die tibetischen Widerstandskämpfer zunächst einmal sekundär, wenn überhaupt bekannt. Man wusste aber schon, dass Amerika gegen den Kommunismus eingestellt war, und das klang erst einmal gut, denn die Tibeter hatten bis dato zweimal schlechte Erfahrungen mit diesem politischen System gemacht: einmal bei der Machtübernahme durch die Kommunisten in der Mongolei und dann beim Durchmarsch der Roten Armee im Zuge des sogenannten Langen Marsches. Beides hatte bei den Tibetern keine guten Erinnerungen hinterlassen.
Der Lange Marsch war dabei nur eine kurze Episode, die mehr regional, in Osttibet, Spuren hinterlassen hatte. In der Mongolei war es weitaus schlimmer. Dort hatte unter sowjetischem Einfluss schon in den 1930er Jahren, also lange bevor die Volksrepublik China gegründet wurde, eine Kulturrevolution stattgefunden. Damals zerstörten die sowjettreuen Kommunisten Klöster, verjagten Mönche und verbrannten Bücher. Das alles war in Tibet wohl bekannt. Der 13. Dalai Lama hatte 1931 in seinem Testament davor gewarnt, dass so etwas auch in Tibet passieren könne.
Man konnte also nicht von den Tibetern erwarten, dass sie den Kommunisten eine unvoreingenommene, positive Einstellung entgegenbrachten, umso weniger, als die Masse der Tibeter eben das kommunistische China als einen Feind erlebt hatte, der ihr Land mit Waffengewalt eroberte. Ist es ein Wunder, dass sie nach der Erfahrung, die sie damit gemacht hatten, Marxismus oder Kommunismus nicht als humanistische Ideologie auffassten?
Tenzin Peljor: Der damals 15jährige Dalai Lama hat sich ja auch schon sehr früh für Reformen ausgesprochen. Glauben Sie, dass er möglicherweise die Invasion als Chance ansah, Reformen durchzuführen?
Thierry Dodin: Es stimmt, der Dalai Lama war für Reformen, aber ich glaube kaum, dass man daraus ableiten kann, er hätte die Invasion befürwortet! Er hat sich mit dem Kommunismus befasst, hat Marx gelesen, mit den kommunistischen Führern gesprochen. Und er hat erkannt, dass diese Ideologie nicht zwangsläufig die zerstörerische Macht sein muss, die er erlebt hat, sondern dass der Kommunismus einen humanistischen Hintergrund hat. Damit konnte er sich anfreunden, darin sah er Parallelen zu den Werten des Buddhismus.
Das hat, zusammen mit seiner eigenen Überzeugung, dass Reformen in Tibet dringend notwendig waren, sicherlich dazu beigetragen, dass er bereit war, den Versuch einer Zusammenarbeit mit den Kommunisten zu wagen. Und ist sicher auch der Grund dafür, dass er sich auch heute noch immer wieder einmal scherzhaft als „buddhistischen Kommunisten“ bezeichnet.
Außerdem: Welche Alternative hatte er denn? Also hat er versucht, das Beste aus der Situation zu machen, und hat auf die positiven Aspekte der kommunistischen Lehre gesetzt. Das hat er so lange durchgehalten, wie es eben ging. Aber natürlich war er nicht damit einverstanden, dass Klöster zerstört und Bücher und Thangkas verbrannt wurden.
Tenzin Peljor: Dabei ist es ja nicht geblieben. Menschen wurden gefoltert und umgebracht.
Thierry Dodin: Das ist richtig. Dazu muss man wissen, dass die Lage in Zentraltibet lange Zeit ganz anders war als in Ost- und in Nordosttibet, also in den traditionellen tibetischen Provinzen Kham und Amdo. In Zentraltibet verfolgten die chinesischen Behörden in den ersten Jahren einen freundlicheren, gemäßigten Kurs. Sie versuchten zunächst, die Tibeter für sich zu gewinnen, sie zu überzeugen. Zu Anfang gelang ihnen das auch relativ gut. Aber die chinesische Regierung betrachtete das östliche und das nordöstliche Tibet, das schon vor 1951 unter ihrer Kontrolle stand, nicht als ,Tibet‘.
Diese Regionen wurde als ganz normale chinesische Provinzen angesehen und entsprechend behandelt, obwohl sie überwiegend tibetisch geprägt und von Tibetern bewohnt waren. Man führte also dort dieselben Reformen ein wie in China, zur selben Zeit und auf dieselbe Art und Weise: ohne Rücksicht, mit Gewalt – und die Bevölkerung hat sich gewaltsam dagegen gewehrt. Kein Wunder! Damals wie heute fehlte China die Einsicht, dass es ihre Politik ist, die das eigentliche Problem darstellt.
Tenzin Peljor: Wann begann der offene Widerstand in Tibet?
Thierry Dodin: Die Revolte in Kham brach etwa 1954 aus. Zunächst waren es einzelne, punktuelle Aktionen, die dann an Zahl und Intensität zunahmen, bis daraus um 1956 eine konkrete Widerstandsbewegung erwuchs. Der Dalai Lama versuchte von Anfang an, zwischen seinem Volk und der chinesischen Fiihrung zu vermitteln, um eine Eskalation der Situation zu verhindern, aber ohne Erfolg.
So bemühte er sich, die Kommunistische Partei in Peking davon abzuhalten, die Reformen mit harter Hand durchzusetzen, und versuchte, die Maßnahmen dort zu unterstützen, wo sie moderat abliefen. Er hat also kein Öl ins Feuer gegossen, sondern schon damals nach einem Weg gesucht, die Aggressionen auf beiden Seiten abzubauen.
Und er hat bis zum Schluss, bis März 1959, versucht, diesen Kurs zu halten. Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass der Dalai Lama von sich aus irgendetwas unternommen hätte, um insgeheim Indien oder Amerika gegen China aufzuwiegeln, oder dass er jemals die Anwendung von Gewalt befürwortet hätte. Für mich zeigt das seine friedliebende Einstellung.
Tenzin Peljor: Wie kommt es dann zum Vorwurf, dass er schon zu jener Zeit Kontakt zur CIA aufgenommen und um Hilfe für den bewaffneten Kampf gebeten babe?
Thierry Dodin: Richtig ist, dass einige Leute aus seiner Umgebung seine Einstellung nicht teilten. Sie hatten schon um 1950, also sehr früh, vor den Chinesen gewarnt. Damals war die Besetzung Tibets gerade angelaufen, es standen noch keine Truppenverbände in Zentraltibet. Diese Personen hatten noch die Hoffnung, dass die Okkupation mit Hilfe von außen abgewendet werden könnte.
In erster Linie ist hier der älteste Bruder des Dalai Lama, Thubten Jigme Norbu [1922–2008] zu nennen, der auch als Taktser Rinpoche bekannt ist. Er war Abt im Kloster Kumbum in Amdo. Auch Taktser Rinpoche versuchte zu Anfang, sich mit den Kommunisten zu arrangieren. Aber er merkte schnell, dass es der Partei nur darum ging, die bestehenden Machtstrukturen zu unterlaufen, um ihre Reformen auf Biegen und Brechen durchzusetzen – auch gegen den Willen der Bevölkerung und gegen den Willen der Klöster.
Als er sah, dass er nichts mehr tun konnte, um die negative Entwicklung aufzuhalten, gab er seine Position im Kloster auf und ging nach Lhasa, um den jungen Dalai Lama zu warnen. Er riet ihm dringend davon ab, sich überhaupt auf einen Kontakt, geschweige denn auf eine Kooperation mit den Chinesen einzulassen. Doch der Dalai Lama wollte den Dialog mit China versuchen. Er wollte vermeiden, dass es zu einem Gewaltsausbruch kommt.
Als die chinesische ,Volksbefreiungsarmee‘ 1950 in Tibet einmarschierte, flüchtete der Dalai Lama nach Yadong nahe der Grenze zu Indien, um dort erst einmal abzuwarten, wie sich die Dinge entwickelten. Im Frühjahr 1951 entschloss er sich, nach Lhasa zurückzukehren. Thubten Jigme Norbu hielt diese Entscheidung für falsch. Er selbst lehnte eine Rückkehr nach Tibet ab und ging stattdessen nach Indien, wo er vergeblich versuchte, die indische Regierung zu einer militärischen Kooperation gegen China zu bewegen.
Die Amerikaner jedoch waren höchst interessiert zu erfahren, was sich in Tibet tat und wie die Reaktion der Tibeter – Regierung wie Volk – aussah. So fand Norbu schnell ein offenes Ohr. Die Inder, die natürlich von der Präsenz der CIA in ihrem Land wussten, hätten deren Aktivitäten unterbinden können – aber sie taten es nicht und schauten weg: So gelangten amerikanische Waffen über Indien nach Tibet.
1959 dann änderte sich alles. Der tibetische Widerstand im Osten kam ins Stocken, und viele Khampa-Kämpfer flohen nach Zentraltibet. Als der Dalai Lama einsehen musste, dass all seine Bemühungen vergebens gewesen waren und China auch in Zentraltibet mit Gewalt durchgriff, beschloss er zu fliehen. Diese Flucht wurde von der tibetischen Guerilla organisiert. Das hat der Dalai Lama schon in seiner Biographie 1962 gewürdigt. Es ist auch kein Geheimnis, dass die CIA die Flucht mitorganisiert hat.
Kurz bevor er die Grenze nach Indien überquerte, rief der Dalai Lama seine Schutztruppe zusammen und dankte den Kämpfern dafür, dass sie ihm sicheres Geleit gegeben hatten. Er hat ihnen damals aber auch gesagt – ohne sie jedoch expressis verbis aufzufordern, die Waffen niederzulegen –, dass er nach wie vor gegen jede Lösung sei, die Gewaltanwendung voraussetzt. Und er hat sie um Mäßigung gebeten. Auch das ist schon 1962 nachzulesen.
Tenzin Peljor: Wie ist eigentlich das Gewaltverständnis des Dalai Lama? In Interviews wird immer wieder deutlich, dass er kein „reiner Pazifist“ ist, der Gewalt oder Kriege generell und unter allen Umständen ablehnt. In Bezug auf den Irak-Krieg sagte er z.B.: „Es könnte nötig sein, Terroristen mit Gewalt zu bekämfen.”⁴ Und schon 1997 antwortete er auf eine entsprechende Frage: „Theoretisch können Gewalt und religiöse Sichtweisen kombiniert werden, aber nur, wenn die Motivation einer Person, als auch die Ergebnisse ihrer Handlungen, ausschließlich auf das Wohl der Mehrheit der Menschen zielen. Unter diesen Umständen und nur, wenn es keine Alternative gibt, ist sie zulässig.”⁵
Sein Verständnis von Gewaltlosigkeit scheint also wesentlich differenzierter zu sein, als man zuerst assoziiert, wenn man diesen Begriff hört.
Thierry Dodin: Das stimmt. Wir im Westen neigen häufig zu einer streng platonischen Betrachtung der Dinge. Doch so wichtig es ist, auf einer absoluten Ebene klare Prinzipien zu haben, sind alle diese Prinzipien letztlich nichts wert, wenn sie der Realität nicht standhalten oder sonstwie nicht praktikabel sind. Man muss halt unterscheiden zwischen Theorie und Wirklichkeit.
Der Buddhismus ist eine Heilslehre, die sehr pragmatisch ist. Im Buddhismus gibt es keinen Gott, der sagt, was richtig ist und was falsch, keinen Gott, der vom Himmel herabsteigt und sagt: ,Du sollst nicht töten, du sollst dies nicht tun, jenes nicht tun.‘ Im Buddhismus sagt man, Töten verursacht Leiden und Gewalt verursacht Leiden, und deswegen solle man beides vermeiden.
Es kann aber durchaus Fälle geben, wo man keine andere Wahl hat. Dann bist du als Mensch gefordert und musst entscheiden, wie du dich verhältst. Viele, die dem Dalai Lama vorwerfen, dass er nicht völlige Gewaltfreiheit predigt, verkennen das. Sie sehen nicht, dass sie hier eine moralische Position projizieren, die meist einem unreflektierten philosophischen Hintergrund entspringt und den Härtetest der Realität nicht besteht.
Der Dalai Lama beschränkt sich gewöhnlich nicht darauf, eine Sache einfach zu verdammen, sondern er weist die Menschen darauf hin, welche Verantwortung sie bei den großen und kleinen Entscheidungen haben, die sie Tag für Tag treffen. Und er rät ihnen, diese Entscheidungen bewusst zu treffen. Sie sollen sich darüber klar sein, warum sie so und nicht anders entscheiden, und sie sollen die Konsequenzen ihrer Entscheidungen berücksichtigen. – Das ist eine Moral, eine Ethik, die sich an der Realität ausrichtet. Ich glaube, wenn man näher hinsieht, dass viele, die Gewaltlosigkeit als Ideal predigen, im Kontakt mir der Wirklichkeit schnell an ihre Grenze stoßen.
Und gerade diese Grenze finde ich beim Dalai Lama nicht, weil er von vornherein eine viel realistischere, eben eine buddhistische Einstellung hat. Denken Sie an die buddhistische Parabel, in der ein Übeltäter ein Schiff versenken will, in dem 108 Arhats sitzen. Um so etwas zu verhindern, so die Botschaft, kann selbst Töten moralisch gerechtfertigt sein. Moralische Grundsätze können in dieser Welt nicht absolut sein. Es gilt abzuwägen! Das trifft auch auf Gewalt und Gewaltlosigkeit zu.
Bevor ich zu Gewalt greife, muss ich ganz sicher sein, dass dies der einzig gangbare Weg ist, um ein größeres Übel abzuwenden; ich darf nur das absolut notwendige Maß an Gewalt anwenden; ich muss sicherstellen, dass sich das Ziel, das ich damit erreichen will, nicht verlagert, und ich muss achtgeben, dass ich nicht über dieses Ziel hinausschieße. Für mich ist das ein sehr realistischer, moralischer Standpunkt. Der Dalai Lama vertritt eine buddhistische Moral, die sich nicht an abstrakte und unerfüllbare platonische Grundsätze hält, sondern sich an der Realität ausrichtet. Es ist eine Moral, die dem Menschen die Freiheit der Entscheidung überlässt. ■
Tenzin Peljor: Herzlichen Dank!
Fußnoten
¹ Stern „Die zwei Gesichter des Dalai Lama“, Nr. 32/2009
² Süddeutsche Zeitung „Heiliger Schein“, ⒏ Juni 2012, S. 3
³ Panorama „Der Dalai Lama und die CIA“, ⒎ Juni 2012, http://tinyurl.com/po5spjx
⁴ New York Times „Dalai Lama Says Terror May Need a Violent Reply”, 18. Sept. 2003, http://tinyurl.com/nvma2x6
⁵ John Avedon: In Exile from the Land of Snows: The Definitive Account of the Dalai Lama and Tibet Since the Chinese Conquest, New York 1997, S. 132
Thierry Dodin studierte Tibetologie, Ethnologie und Religionswissenschaft. Zu seinen Schwerpunktthemen – Kulturgeschichte, moderne Geschichte sowie soziale, politische und ökologische Fragen in Tibet und den Himalaya-Ländern – hat er seit 1990 verschiedene Forschungsprojekte an der Universität Bonn durchgeführt sowie zahlreiche Bücher und Fachartikel publiziert. Darüber hinaus konzipierte und organisierte er verschiedene internationale Konferenzen und wirkte auch an diversen Entwicklungsvorhaben in Tibet mit. Zuletzt leitete er ein Forschungsprojekt über die Globalisierung des tibetischen Buddhismus.
Bhikshu Tenzin Peljor: (Michael Jäckel) wurde 2006 vom Dalai Lama zum Mönch ordiniert. Seit mehr als 10 Jahren leitet er Meditationskurse und unterrichtet in verschiedenen Städten in Deutschland. Von Ringu Tulku Rinpoche wurde er 2007 zum Residenzmönch für Bodhicharya Deutschland e.V. in Berlin berufen. Neben Studium und Lehrtätigkeit hält er steten Kontakt mit Tibetexperten und betreibt verschiedene Websites (deu. und engl.) mit kritischen Informationen rund um Tibet und den Buddhismus. Siehe auch: www.tenzinpeljor.de und http://info-buddhismus.de
Veröffentlicht in Tibet und Buddhismus, Ausgabe 1, 2015, S. 43–47. Mit freundlicher Erlaubnis von mdc und Tibet und Buddhismus. (PDF)
- ›Orientalismus‹ und Aspekte der Gewalt in der tibetischen Tradition – Elliot Sperling
- Formen der Gewalt und des Gewaltverzichts in den Lebensgeschichten der Mahāsiddhas und Lamas – Klaus-Dieter Mathes
- Krieg und Gewalt im Buddhismus: »Buddhist Warfare« – eine Buchbesprechung von Jens-Uwe Hartmann
- Gewalt in buddhistischen Ländern: Zum Hintergrund der Konflikte in Burma, Sri Lanka und Thailand – Interview mit Thierry Dodin
- Burma: Gewalt im Namen des Buddha? – Interview mit Thierry Dodin
- Ein heimlicher Krieg in Shangri-La – Patrick French
- Die Aktivitäten rGya lo don grubs im tibetischen Widerstand – ein Überblick – Petra Maurer
- Korrekturen und Reflexionen zum Stern-Artikel – Tenzin Peljor
- ARD Magazin Panorama »Verklärt, verkitscht - Hollywood feiert den Dalai Lama« – Nov. 1997
- Reaktion der US-Filmemacherin Lisa Cathey auf Panorama’s »Der Dalai Lama und die CIA«
- »Heiliger Schein«: Sensationshungrige Süddeutsche? – Petra Maurer
- Berichterstattung über den Dalai Lama und die CIA im ARD-Magazin Panorama und SZ, 08. Juni 2012 – Nicola Hernádi
- Die China-Lobby – Klemens Ludwig