Milarepa – Leben und Lehre
von Marianna Kneisl
Als Milarepa geboren wurde, blühte der Buddhismus, der schon vom völligen Untergang bedroht gewesen war, in Tibet gerade wieder auf. Es gab Kämpfe zwischen dem wachsenden Einfluß des Buddhismus und der einheimischen Religion, dem Bön. Um die Jahrtausendwende vollzog sich ein beeindruckender Kulturwandel, ein bedeutender geistiger Aufbruch, und die Verbreitung des Buddhismus war nicht mehr hauptsächlich das Anliegen der Könige, sondern auch von kleineren Fürsten und Leuten aus dem Volk.
Man begann, die Übersetzungen buddhistischer Texte von früher zu revidieren, sammelte die Literatur, die man verloren geglaubt hatte und fing an, die Werke zu kommentieren. Lehrer aus Indien wurden eingeladen, dem Ursprungsland des Buddhismus, wo er durch die Einfälle mohammedanischer Truppen ins Wanken geraten war und bald untergehen sollte. Ebenso gingen Tibeter nach Indien, um bei indischen Lehrern buddhistische Unterweisungen zu erhalten, übersetzten sie und machten sie in Tibet zugänglich. Milarepas Lehrer, Marpa, reiste mehrmals nach Indien und kam mit unschätzbarem Material nach Tibet zurück. Für seine Übersetzungstätigkeit wurde er bekannt als »Marpa, der Übersetzer«.
Milarepa wurde 1052 im Jahr des Wasserdrachens in Kya Nga Tsa im Westen Tibets geboren. Bis in die heutige Zeit hat er nichts von seiner Anziehungskraft sowohl für die gebildete Schicht als auch für das einfache, gläubige Volk in Tibet verloren. Er wurde zu einer Art Volksheld, dessen Leben von wandernden Geschichtenerzählern bis in die entlegensten Winkel des Landes getragen wurde. Mitte des letzten Jahrhunderts gelangten einige Gelehrte aus dem Westen nach Tibet, und als sie begannen, seine Kultur beziehungsweise seine Religion zu untersuchen, stießen sie recht bald auf die Gestalt Milarepas. Wir wissen von ihm durch seine Autobiographie, die er auf die Bitte eines seiner engsten Schüler erzählte. Darin beschreibt Milarepa seinen äußeren Lebensweg und den seiner inneren Wandlung. Im 15. Jahrhundert zeichnete der »verrückte« Yogi Tsang Nyön Heruka die »100 000 Gesänge« auf, die zu seinem Ruhm sicher auch noch beigetragen haben und die bis heute in fast keinem tibetischen Hause fehlen. Im Westen wurde Milarepa vor allem durch die Übersetzung von W.Y. Evans-Wentz aus dem Jahre 1928 bekannt.
Die Auffassung, daß es sich beim Buddhismus einfach nur um eine Religion handle mit besonders bunten Auswüchsen magischer Art oder zumindest in abergläubische Richtung gehend, ist leider weitverbreitet. Fernsehen und Touristen, die von Menschen berichten, die Gebetsmühlen drehen und sich in frommem Glauben der Länge nach auf den Boden werfen, bestätigen unsere Meinung von einem liebenswürdigen, tiefreligiösen Volk, das mit unserer westlichen, aufgeklärten Welt nichts zu tun hat. Die Tibeter dort und wir hier, das scheinen zwei Welten zu sein, zumindest auf den ersten Blick.
Doch der Buddhismus hat mehrere Aspekte, den einer hochentwickelten Philosophie, eines Systems präziser Anleitungen zur persönlichen Entwicklung, die weit über das Psychologische hinausgehen – und natürlich auch den einer Religion, was wir gemeinhin unter Religion verstehen. Zur Praxis kann man die Mystik zählen, die deren Resultat ist und deren Erfahrungen sich dem rationalen Geist entziehen. Milarepa gehört zu einer mehr praxisbezogenen Linie – er und sein Lehrer Marpa gelten als die Begründer der Kagyü-pa Schule –, und seine Mystik beziehungsweise die Erfahrung seiner Verwirklichung fand Ausdruck in seinen »100 000 Gesängen«, in denen er die Lehre und Tradition tiefgründig darlegte.
Milarepa wurde in einem wohlhabenden Hause geboren und verlebte mit seiner Schwester eine sorglose Kindheit. Das änderte sich, als Milarepas Vater erkrankte und starb. Die Verwalter des Vermögens, ein Onkel und eine Tante väterlicherseits, rissen das Vermögen an sich, und für Milarepa, seine jüngere Schwester und seine Mutter begann eine harte Zeit. Der eiserne Wille der Mutter, die auf Rache sann, und der willfährige Sohn, der die Rachepläne in die Tat umsetzte, bewirkten gemeinsam die Zerstörung von Haus und Hof und den Tod von 35 Menschen, der gesamten Familie des Onkels. Das Mittel dazu war Schwarze Magie, die Milarepa in kürzester Zeit zu erlernen imstande gewesen war.
Bis hierher geht es um Egoismus, Habgier und Rache, und jedes Mittel zu ihrer Befriedigung ist recht. Dies ist nichts Ungewöhnliches, und noch nichts deutet auf die künftige außergewöhnliche Laufbahn des Buben hin. Bevor Milarepa Schwarze Magie erlernte, hatte ihn seine Mutter sogar als nicht sehr gelehrig und willensschwach bezeichnet.
Die unerwartete Wende kommt dadurch zustande, daß Milarepa das Unglück, das er angerichtet hat, bitter bereut. Er verläßt Mutter und Schwester und macht sich auf die Suche nach einem Lehrer, der ihm buddhistische Unterweisungen geben kann. Er kommt zuerst zu einem Lehrer der Nyingma Schule, Rongton Lhaga, dessen Dzogchen-Unterweisungen von der »Großen Vollkommenheit« er gründlich mißversteht. Rongton Lhaga erkennt Milarepas karmische Verbindung mit Marpa. Als Milarepa zum erstenmal den Namen Marpa hört, ist er wie elektrisiert und sucht ihn, bis er ihn endlich gefunden hat. Eine Zeit der härtesten Prüfungen beginnt.
Es gibt wohl niemanden, der die Biographie liest, dem es nicht naheginge, wie Milarepa leidet, um die gewünschten Lehren zu erhalten. Diese Prüfungen waren notwendig, um Milarepas Motivation zu testen und seinen Geist zu reinigen, um zu einem geeigneten Gefäß für die Lehren zu werden. In der aktuellen Situation hat Milarepa dies mit Sicherheit nicht so gesehen. Er will einige Male ausbrechen, da ihn die Behandlung Marpas überfordert, die keineswegs den üblichen Verhaltensmaßstäben folgt, sondern grausam und widersinnig erscheint. Erst als Marpa die Zeit für gekommen hält, Milarepa vor allen anderen als seinen geliebten Schüler zu erklären, erläutert er, warum er mit Milarepa so umgehen mußte. Nur wer Marpas reiner Motivation vertraut, wird über die Behandlung, die er Milarepa angedeihen ließ, nicht entsetzt sein, sondern sie als Mittel erkennen, die geistige Entwicklung zu beschleunigen.
Eine klassische Lehrer-Schüler-Beziehung
Die Verbindung zwischen Marpa und Milarepa gehört zu den berühmtesten Lehrer-Schüler-Beziehungen, die wir kennen: vorbildhaft die Hingabe und Ausdauer von der Seite des Schülers, ebenso vorbildhaft die Ausdauer des Lehrers(!). Das Thema Lehrer-Schüler ist ein heißes Eisen, nicht nur bei uns im Westen, wo man den Lehrern besonders kritisch gegenübersteht, sondern auch im Osten, auch in Tibet, war das Thema nicht unumstritten. Ein Mißbrauch – von beiden Seiten – liegt durchaus im Bereich des Möglichen, der Lehrer benutzt Schüler oder Schülerin für seine Zwecke, und der Schüler nimmt den »kostbaren Moschus und schießt das Tier ab« .
Es ist schwer für uns, sich eine solche Beziehung vorzustellen oder sich gar auf sie einzulassen, da man bei uns bezahlt, wenn man etwas will. Die Bezahlung garantiert das Recht, das zu bekommen, wofür man bezahlt hat, sonst »Geld zurück«. Will man jedoch einen spirituellen Weg einschlagen, gilt diese Art von Geschäft nicht. Es geht auch nicht einfach nur um intellektuelles Wissen, das man sich aneignen will, sonst würde es ausreichen, Bücher zu lesen. Das Eingehen einer solchen Beziehung ist vielmehr verbunden mit dem Wunsch nach einer inneren Wandlung und dem Vertrauen, ja, der Gewißheit, daß der Lehrer bzw. die Lehrerin dabei behilflich sein können. Auch in Tibet war es durchaus nicht so, daß jeder Schüler wie ein Milarepa behandelt wurde. Es gab Lehrer-Schüler-Beziehungen in der ganzen Bandbreite menschlicher Beziehungen, höfliche, freundliche, innige etc. Beziehungen. Es wurde – und wird – keineswegs allen Schülern dieselbe Medizin verabreicht, nur weil alle krank waren bzw. sind. Es lag und liegt am LehrerIn, der/die mit einem Arzt verglichen wird, zu erkennen, welche Medizin Schüler oder Schülerin benötigen und in welcher Dosierung. Auf dieser Weisheit des Lehrers beruht auch das Vertrauen des Schülers, das nicht unbedingt spontan vorhanden zu sein braucht, sondern das sich entwickeln kann und auch auf die Probe gestellt wird; der Lehrer prüft den Schüler, ob dieser geeignet ist, das zu empfangen, was er/sie geben kann. Und das ist sicher keine rein tibetische Sache.
Für Milarepa brechen nun die guten Jahre an; er erhält alle gewünschten Unterweisungen ohne Rückhalt, und er beginnt zu meditieren. Als er aus seiner Klausur kommt, und Marpa bittet, ihn zu seiner Mutter ziehen zu lassen, läßt ihn dieser nach einem bewegten und bewegenden Abschied gehen, bei dem Milarepa seinem Guru seinen ersten Gesang darbringt. Als sein letztes Vermächtnis gibt ihm Marpa eine Schriftrolle mit, die Milarepa nur öffnen sollte, wenn es ihm sehr schlecht ginge. Milarepa trifft seine Mutter nicht mehr an, sie ist bereits gestorben, die Schwester verschwunden. Er zieht sich in eine Höhle zurück, um zu meditieren. Er meditierte Tag und Nacht, magerte bis zum Skelett ab, und da er sich von Brennesseln ernährte, verfärbte sich seine Hautfarbe grünlich.
Nach einem Jahr in der Einsamkeit, überkam ihn der Wunsch nach der Gesellschaft von Menschen. Doch gerade als er sich auf den Weg machen wollte, besann er sich und sang sich folgenden Selbstvorwurf:
O Dorje Chang in Marpas Körper,
Gewähr mir die Beharrung in der Einsamkeit!Du seltsam sonderbarer Milarepa
Zur Selbstermahnung hör dies Wort:Fern bist du aller Menschenwesen,
Die süße Reden könnten mit dir tauschen.Du fühlst dich einsam, suchst Zerstreuung,
Doch grundlos ist dein ruheloses Suchen.Stör dein Bewußtsein nicht, halt es in Frieden
Flieht es ins Denken, üblen Sehnens wird es voll.Bezwing den Wunsch nach der Zerstreuung, zügle die Gedanken, Verfällst du der Versuchung Macht, zerflattert deine Sammlung.
Irr nicht umher, verharr in Ruhe.
An Steine stoßen könnte sich dein Fuß.Erhebe nicht den Kopf, senk tiefer ihn,
Denn der erhob’ne sucht die Nichtigkeit.Schlaf nicht, verharre in der Sammlung.
aus W.Y. Evans-Wentz »Milarepa - Tibets großer Yogi«, Bern, München,Wien 1985, S. 153
Denn schlafend überfallen dich der Torheit fünffach Gifte.
Dieser Gesang besänftigte ihn, und mit noch größerem Enthusiasmus fuhr er mit seinen Übungen fort.
Immer wieder lesen wir, daß die Yogis sich für lange Klausuren in die Einsamkeit zurückzogen, auch heutzutage ist das noch üblich.
Weltliches Getriebe und seine Ablenkungen suchen die Meditierenden zu meiden. Stille und Wildnis der Natur tragen dazu bei, daß der Geist sich nach innen wendet und die Auseinandersetzung mit sich selbst stattfinden kann.
Schließlich fand ihn seine Schwester, gab ihm Fleisch zu essen und Bier zu trinken. Es ging ihm daraufhin so schlecht, daß er Marpas Schriftrolle öffnete und genaue Anweisungen für diesen Zustand fand. Er führte diese Anweisungen aus und erlangte Befreiung. Nach und nach kamen immer mehr Menschen, um Milarepas Lehren zu hören.
Die Gesänge
Aus dieser Zeit der Lehrtätigkeit resultieren Milarepas wunderbare Gesänge, die einen lebendigen Eindruck nicht nur von seiner Persönlichkeit geben, sondern auch von Tibets Landschaften und seiner Tierwelt. Historisch gesehen leitet man die Gesänge von den sogenannten doha’s indischer Mahasiddhas ab, hochverwirklichter Wesen. Außerdem sind Gestaltungselemente des tibetischen Volksliedes darin enthalten. In Milarepas Gesängen kommen erstmals einige der Tiere vor, die im späteren tibetischen Volkslied eine entscheidende Rolle spielen wie z. B. der Schneelöwe mit seiner Türkismähne, goldene Fische und Adler. Die Verwurzelung nicht nur im indischen, sondern auch im tibetischen Liedgut ist mit Sicherheit einer der Gründe, warum Milarepas Lieder bis heute im Volk lebendig sind und nicht nur der gebildeten Schicht vorbehalten blieben.
Milarepa hatte eine schöne Stimme und sang gerne. Schon als Kind liebte er es zu singen, und später antwortete er auf Fragen seiner Schüler in Versen, die spontan aus ihm herausflossen. So komponierte er zahllose Lieder, 100 000 wie die Tibeter sagen. Auch seine Unterweisungen, die von großer Einfachheit und Direktheit waren, gab er in Versform. In den Gesängen legt er seine Tradition und Lehre dar, die eingebettet ist in Naturbeschreibungen, die Harmonie zwischen Mensch und Natur erkennen läßt.
Felswände, Gletscher und Berge,
Das sind die drei Meditationsstätten des Milarepa.
Können diese drei die deinigen sein,
Dann folge mir, dem Asketen! nach!Hirsche Rehe und Antilopen,
Das sind die drei Hunde des Hauses.
Können diese drei die deinigen sein,
Dann folge mir, dem Asketen nach!Brennesseln, Gänsefuß und Thülpa,
aus: Mila'i mGur 'bum, übersetzt von J.L Panglung
Das sind die drei Nahrungsmittel.
Können diese drei die deinigen sein,
Dann folge mir, dem Asketen, nach!
Schließlich fühlte Milarepa, daß seine Zeit um war, und er akzeptierte – wohlwissend – einen Becher Gift. Der Mörder bat ihn um Verzeihung, die ihm Milarepa gewährte. Dies war im Jahr 1139.
Das Karmagesetz: Grundprinzip des Buddhismus
Die Lehre des Buddha Shakyamuni gründet auf den Vier Edlen Wahrheiten: die erste Wahrheit ist die Wahrheit vom Leiden, die zweite die von der Ursache des Leidens die dritte die der Beendigung des Leidens und die vierte die vom Weg, der zur Beendigung des Leidens führt.
Die Grundlage des Buddhismus ist die Kausalität von Ursache und Wirkung, dem abhängigen Entstehen aller Existenz. Diese Kausalität auf Wesen angewandt heißt, daß eine Tat (skt. Karma, tib. las) ein der Ursache entsprechendes Ergebnis nach sich zieht. Einfach ausgedrückt: eine gute Tat bringt ein gutes Ergebnis mit sich, eine schlechte Tat ein schlechtes Ergebnis, wobei die Bewertung aufgrund der Motivation erfolgt, mit der die Tat begangen wird. Ist das Motiv Haß, dann kann das Ergebnis nicht positiv sein, sondern wird negative Erfahrungen nach sich ziehen. Ist das Motiv selbstlos, wird das Ergebnis gut sein und angenehme Folgen haben, wobei die Folgen der Handlungen nicht unmittelbar danach eintreten müssen, sondern dann, wenn das entsprechende Karma zur Reife gekommen ist. Auf diese Weise kommen im Leben zahllose Handlungen zustande, die qualitativ sehr fein abgestuft sind und karmisch alle relevant sind.
Milarepas Karma hatte seine glückliche Jugend zur Folge, doch kam nach seinem siebten Lebensjahr ein Karma zur Reifung, das eine lange Zeit der Unterdrückung mit sich brachte. Mit Schwarzer Magie häufte er ein großes Maß an negativem Karma an. Und doch konnte er durch die harte Arbeit an sich selbst und die unglaubliche Ausdauer, die er zeigte, sein Karma so stark »reinigen« bzw. das Positive so stark anwachsen lassen, daß er Befreiung erlangte. »Es gibt kein Karma, das so schlecht ist, daß es nicht doch bereinigt werden könnte« ist die erfreuliche Botschaft, und es hängt vom eigenen Einsatz, von der eigenen Ausdauer ab, welchen Grad an Verwirklichung man erreichen kann.
Wie sollte man nun praktizieren, um Befreiung zu erlangen? Milarepa beschrieb seine Praxis und Lehre auf mannigfaltige Weise. Der Gesang hier beginnt mit einer sehr poetischen Beschreibung des Ortes, an dem er sich gerade aufhält, seiner Tier- und Pflanzenwelt und den »Knechten weltlicher Begierde«:
Ich Yogi, beobachte all dies
Von meinem kostbaren, alles erhellenden Felsen aus.Ich betrachte alle Erscheinungen als Beispiele der Vergänglichkeit,
aus Tsang Nyön Heruka "Milarepas gesammelte Vajra-Lieder", Berlin 1996, S. 69
Meditiere, daß Sinnesobjekte wie das Wasser in einer Luftspiegelung sind,
Betrachte das Leben als Traum und Illusion.
Ich praktiziere Mitgefühl für alle, denen dieses Verständnis fehlt,
Nehme die himmelsgleiche Offenheit als Nahrung zu mir
Und meditiere ohne jede Ablenkung.
So erfahre ich viele verschiedene Dinge.
Ach, alle samsarischen Phänomene in den drei Welten
Existieren nicht, obwohl sie erscheinen - wie wundersam!