Tibetische Klosterkollegien: Die Spannung zwischen Rationalität und Gruppenzwang¹
Paul Jeffrey Hopkins
Angesichts der Unterdrückung und Zerstörung der tibetischen Kultur durch die kommunistische Regierung Chinas und angesichts der massiven Umweltveränderungen in einem Gebiet, das die Quellen der großen Flüsse Asiens umfaßt, fühlen sich viele von uns zutiefst betroffen. Die düstere Lage, in der sich Tibet und die Tibeter befinden, bedrückt uns so sehr, daß es uns gegenüber dem Wunsch, diese schrecklichen Bedingungen zu verbessern, kontraproduktiv erscheint, unsere Kritikfähigkeit zu gebrauchen. Könnte nicht jede Kritik der politischen, moralischen und ökologischen Sache, die wir verfolgen, Schaden zufügen? Um dieses Dilemma zu umgehen, habe ich selbst mich oft des Kunstgriffs bedient, mit »der Stimme der Tibeter« zu reden, anstelle aus meiner eigenen, leicht als »privilegiert« zu verstehenden Perspektive.
Und doch habe ich seit dem Beginn meines fünfjährigen Aufenthaltes in einem mongolischen buddhistischen Kloster in New Jersey im Jahre 1963 immer das Bedürfnis verspürt, das, was mir entgegentrat, kritisch zu sichten. Aus meinen frühen Studienjahren brachte ich einen an der marxistischen Analyse der sozialen, politischen und ökonomischen Verhältnisse geschulten, fast schon an Zynismus grenzenden Skeptizismus gegenüber fast allem mit, und noch wesentlich zynischer sah ich meine Erfahrungen als jugendlicher Rebell. Während meiner Studien am College war ich der festen Überzeugung, daß alles von Grund auf korrupt ist: Ich konnte zu jedem Aspekt menschlicher Aktivität eine Geschichte über korrupte Motive und Praktiken erzählen – bis hin zur totalen Öde.
Seit meinem letzten Jahr im College faszinierte mich jedoch die Möglichkeit von etwas anderem, von etwas, das wie ein Lichtstrahl unsere dicke Panzerung aus Selbstbezogenheit und Betrug durchbrechen könnte. Darum habe ich meist von den positiven Aspekten meiner Erfahrungen geschrieben; die zynische Seite wird ohnehin ausgiebig von anderen abgedeckt. Trotzdem war es mir immer wichtig, den Müllhaufen aus Anmaßungen und falschen Darstellungen kritisch zu untersuchen, denn um den möglichen Beitrag Tibets zur Kultur der Welt zu erkennen, muß man sich der tatsächlichen tibetischen Einstellungen und Praktiken bewußt sein, die ja nicht unbedingt mit unseren oftmals sehr verherrlichenden Vorstellungen davon übereinstimmen. Wenn man das nicht tut, werden unsere aus Absicht oder aus mangelnder Kenntnis der Kultur geborenen falschen Annahmen eines Tages angesichts der Realität zerplatzen, und dann sind wir vielleicht nicht mehr in der Lage, das, was wirklich nützlich ist, anzunehmen. Verletzt durch unsere ursprünglichen leichtgläubigen Vorstellungen oder durch unsere Unfähigkeit, eine etwas diffferenziertere Betrachtungsweise einzunehmen, könnte uns unser eigener Stolz Ietztlich zerstören.
Dennoch bin ich fest davon überzeugt, daß eine destruktive Kritik nicht ausreichend ist, selbst wenn sie sich in imposante Terminologien kleidet, und z.B. als »Dekonstruktivismus« daherkommt – auch wenn ich in diesem Wort die Reste oder die Trümmer des Marxismus wiedererkenne, der mir die verderbten Kräfte der Gesellschaft vor Augen führte. Ich möchte mich nicht damit zufriedengeben, Vorstellungen zu zerstören und so den Eindruck erwecken, diese Ausübung von Kritik – hier zu lesen als Schuldzuweisung – wäre ausreichend. Das ist sie nämlich nicht.
Klosterkollegien
In der Umgebung von Lhasa gibt es drei große Gelugpa-Klosteruniversitäten: Ganden, Drepung und Sera. Die Universität Ganden, etwa eineinhalb Autostunden (40km) östlich von Lhasa gelegen, wurde im jähre 1409, also acht Jahre vor seinem Tod, von Tsongkhapa gegründet. Zwei seiner Schüler gründeten die beiden Kollegien Shartse und Dschangtse, Gandens wesentliche organisatorischen Untereinheiten. Diese Kollegien sind die wichtigsten funktionellen Einheiten der Universität und verfügen jeweils über eine eigene Verwaltung, einen eigenen Lehrkörper und eigene Lehrbücher. Es ist also etwa so, als ob die Universität von Virginia je zwei Institute für Physik, Philosophie usw. an den entgegengesetzten Enden des Universitätsgeländes hätte. Zusätzlich zu dem zentralen Rundbau müßte es zwei weitere als Versammlungshallen dienende Rotunden geben, und auch alles andere müßte in doppelter Ausführung vorhanden sein, während die eigentliche Universität von Virginia nur eine weitere Verwaltungseinheit wäre, die die beiden Teile per se nicht vereinen könnte.
Die Kollegien verwenden das gleiche Curriculum, das auf den Fünf Großen Büchern des indischen Buddhismus aufbaut, ein Studienprogramm, das man etwa im Alter von 18 Jahren antritt, und das ungefähr 25 Jahre in Anspruch nimmt, aber die verwendeten Lehrbücher, d.h. die Kommentare zu diesen Großen Büchern, sind unterschiedlich. Die Kloster Universität baut auf dieser Trennung in verschiedene Lager auf, was den intellektuellen Austausch fördern soll. Bei den Lehrbüchern handelt es sich um von bedeutenden Gelehrten verfaßte Unterkommentare, die die eigentlichen Kommentare illustrieren und in diesen enthaltene Unklarheiten erläutern sollen. Diesen als »Lehrbuchliteratur« (Yigtscha) des Kollegiums bezeichneten Kommentaren gilt das Hauptaugenmerk, sie werden in den Mittelpunkt des ganzen Studiums und der Loyalität der Studenten gestellt. (Wahrscheinlich aufgrund der protestantischen Betonung des frühen Christentums nehmen amerikanische Forscher häufig irrtümlicherweise an, daß sich religiöse Systeme im allgemeinen vor allem auf ihren Gründer und ihre frühe Geschichte beziehen, während man sich hier auf die Lehrsysteme der Lehrbuchautoren konzentriert.)
Das Studium in einer solchen Klosteruniversität soll in erster Linie das vollständige Lehrsystem des Tsongkhapa ohne jeden inneren Widerspruch wiederentdecken (oder -erschaffen). Dabei geht man davon aus, daß die vielen Werke des Gründers nicht auch nur den geringsten inneren Widerspruch aufweisen, daß sie also vollständig harmonisch zusammenpassen. Die kryptische Natur zahlreicher Darlegungen Tsongkhapas läßt Raum für weitgehende Interpretationsmöglichkeiten, die bis zu einem gewisse Grad durch seine vielen eindeutigen Darstellungen begrenzt werden, ich sage bewußt »bis zu einem gewissen Grad«, da in diesem intellektuellen Spiel die Möglichkeit bestehen bleibt, die tatsächlichen Gedanken Tsongkhapas, die hinter eindeutig erscheinenden Aussagen stehen, zu postulieren. Da man eine vollkommene innere Konsistenz annimmt, müssen scheinbar unvollständige oder inkonsistente Aussagen neu formuliert werden, denn nichts darf als Paradox belassen werden.
Die Regeln dieses Spiels werden von Generation zu Generation weitergegeben, indem der Lehrer gleich zu Anfang der Ausbildung eines Studenten feststellt: »Es ist erstaunlich, daß es in den Werken des Höchsten Kostbaren (Tsongkhapa) nicht auch nur den geringsten inneren Widerspruch gibt!« Kurz darauf wird der Student dann mit einer scheinbaren Inkonsistenz konfrontiert, als ob er selbst die Quelle sowohl der ursprünglichen Feststellung des Nichtvorhandenseins solcher Inkonsistenzen als auch dieses offensichtlichen Widerspruchs wäre. Ich bin der Ansicht, daß ein erheblicher Teil jeder kulturellen Übertragung durch Identifikation mit Ranghöheren vonstatten geht, und in diesem Falle wird der Identifikationsprozeß dadurch erleichtert, daß der Lehrer innerhalb einer angenommenen gemeinsamen Perspektive operiert. Manchmal ist der Ranghöhere, mit dem man sich identifiziert, auch ein Aggressor: Der Lehrer stellt unerhörte Forderungen, die den Studenten schockieren und ungewollte Gegenaggressionen hervorrufen, welche der Student, der sich bemüht, sich mit dem Lehrer zu identifizieren, nicht wahrhaben will. Stattdessen stellt er bei nächster Gelegenheit dieselben unerhörten Forderungen an einen jüngeren Studenten und lebt damit in Wahrheit die Aggressionen seines Lehrers aus! Ich möchte diesen Prozeß an einer Geschichte aus meiner Kindheit verdeutlichen: Eines Tages, als ich unter der Ulme stand, an die ich meinen kleinen Hund angebunden hatte, schimpfte mich meine Mutter aus einem jetzt vergessenen Grund heftig aus. Sofort drehte ich mich um und hielt dem Hund eine gnadenlose Standpauke. (Ich erinnere mich noch heute an das erschreckte Gesicht meiner Mutter.) Diese Identifikation mit dem verhaßten Aggressor, die den Gegenstand der Aggression von einem selbst weg verlagert, baut auf der gefährlichen Grundlage von Zorn und dessen Abtrennung von einem selbst eine starke psychologische Verbindung auf: Man verleugnet seinen eigenen Zorn und identifiziert sich mit der Person, die zornig auf einen ist. Als Mechanismus kultureller Übertragung ermöglicht dies die strikte, unveränderte Weitervermittlung der unerhörten Forderungen vieler kultureller Formen. Ein solcher Prozeß führt zum Beispiel zu dem Ergebnis, daß Studenten, die in Tsongkhapas Texten offensichtliche Widersprüche entdecken, was die angenommene Harmonie natürlich stört, wegen der Infragestellung der grundlegenden Annahme einer vollkommenen Konsistenz starke Schuldgefühle aufbauen, da sie ihre Verbindung zu ihrem Lehrer gefährdet sehen Oder sie verfallen auf den Ausweg, ihre eigene intellektuelle Kapazität als zu gering für diese Aufgabe anzusehen und wiederholen nur noch, oftmals sehr vehement, die Behauptung, daß keine Inkonsistenz zu finden sei.
Andere Studenten (manchmal auch dieselben Studenten zu einer anderen Zeit) sind da erfolgreicher: Sie entwickeln eine regelrechte Begeisterung dafür, Widersprüchlichkeiten aufzufinden und zu versuchen, diese hinweg zu erklären. Dies ist kein individuelles, sondern ein soziales, in der Gegenwart von Klassenkameraden oder Kollegen gespieltes Spiel. Das sehr befriedigende intellektuelle und ästhetische Vergnügen, das die Studenten gemeinsam erfahren, wenn eine besonders kunstvolle Neuschaffung der Gedanken des Gründers zustande kommt, führt zur Fortsetzung dieses Prozesses. Meiner Ansicht nach entsteht dadurch eine innere Verbindung, die noch weit stärker wirkt, als selbst die fast gewalttätigen Folgen der Identifikation mit dem Aggressor. Ich glaube, daß trotz der offensichtlichen Bedeutung dieser rigiden Identifikationsmaschinerie solche mit anderen Teilnehmern geteilten Momente der Schönheit dem ganzen Lehrsystem der Klosteruniversitäten zugrunde liegen. Wie überall schaffen solche Erfahrungen ein Gefühl der Begeisterung bei Lehrern und Studenten, und die intensive Natur des tibetischen Systems, das auf engen Lehrer-Schüler-Beziehungen aufbaut und täglich zwei öffentliche Debatten beinhaltet, bietet zahlreiche Gelegenheiten für solche Erfahrungen. So läßt sich die Struktur tibetischer Universitäten teilweise durch die Kraft gegenseitiger intellektueller Stimulierung und Wertschätzung erklären.
Die Identifikation des Studenten mit seinem Kollegium geht so weit, daß die Universität als übergeordnete Einheit völlig an Bedeutung verliert. (In dem im Exil wiedererrichteten Ganden dient eine Allee zwischen den beiden Kollegien weniger als Verbindung denn vielmehr als unsichtbare Mauer, die verhindert, daß Studenten sich in die gegnerische Abteilung verirren.) Die Verbundenheit der Mitglieder zu dieser Einheit ist so stark, daß die kommunistische chinesische Besatzungsmacht trotz relativer Lockerungen in der Ausübung der Religionsfreiheit die Wiedereröffnung der Kollegien bislang nicht zugelassen hat: Wohl aus Furcht vor der hier vermittelten starken Loyalität wurde diese Grundstruktur, die einen lebhaften intellektuellen Austausch fördert, unterdrückt.
In der engen Verbundenheit der Mönche zu ihren Kollegien spiegeln sich die Kommunikationsprobleme und die daraus folgende relative Engstirnigkeit der tibetischen Gesellschaft wider. Faktionalismus wird sogar befürwortet, und zwar wesentlich stärker zwischen den Kollegien der Gelugpa-Schule als zwischen den Gelugpas und anderen Schulen. Die Gelugpa-Schule, die von den Schülern Tsongkhapas gegründet wurde, ist darum keineswegs einheitlich in ihrem Gedankengut, denn die grundlegende Loyalität gilt dem eigenen Kollegium, das in Konkurrenz zu den anderen Kollegien steht. Ständig wird den Studenten die Bedeutung ihrer jeweiligen Lehrbuchautoren vor Augen gehalten, welche, wie Tsongkhapa selbst, als Manifestationen des Mandschushri, der Verkörperung der Weisheit aller Buddhas, oder als Reinkarnationen großer Gelehrter des indischen Buddhismus angesehen werden. So gilt ein bestimmter Lehrbuchautor als Verkörperung des indischen Gelehrten Buddhapalita, der in entfernter Zukunft der kommandierende General der Truppen von Shambhala sein wird, die die Welt vor den Barbaren retten und ein Zeitalter des Buddhismus einläuten werden, während dessen keine andere Religion Bedeutung erlangen, wird. Solche Geschichten werden den Studenten immer wieder erzählt, bis sie, wie mir ein Lama über seine Studienzeit berichtete, schließlich annehmen, die Mitglieder des anderen Kollegiums seien kaum besser als Nicht-Buddhisten! Und was könnte schon schlimmer sein?
Offensichtlich dienen die vielen doktrinären Unterschiede in den Lehrbüchern der verschiedenen Kollegien sowohl der intellektuellen Anregung als auch einem soziologischen und ökonomischen Zweck. Sie erleichtern es, eine Gruppenidentität zu bilden, und geben ein Gefühl der Besonderheit, das wiederum den Status der Gruppe als Empfänger von Spenden rechtfertigt. Die durch eine solche Dynamik entstandene Loyalität steht dem direkten Wissenserwerb oftmals im Wege und schafft für wissensdurstige Studenten zusätzliche Probleme. Dennoch ist diese Situation sehr vielschichtig, denn in der Debatte muß der Verteidiger die Position des Lehrbuchautors seines Kollegiums aufrechterhalten, während der Angreifer, der meist dem gleichen Kollegium angehört, diese Aufgabe so schwierig wie möglich machen muß und sich dabei häufig selbst an der Eloquenz seines Angriffs berauscht. (Ich sage »er«, denn in Tibet waren die Frauen aus dem intellektuellen Leben weitestgehend ausgeschlossen.) Da dem Gewinnen und Verlieren solcher Debatten große Bedeutung beigemessen wird, entwickeln die Studenten ausführliche Argumentationslinien gegen ihre eigene Lehrbuchliteratur. Die Lösung dieses Konfliktes liegt für viele in einem doppelten Standpunkt: einer eher öffentlichen engen Verbundenheit mit den Positionen des Lehrbuchautors und einer sehr kritischen privaten Haltung.
Alle tibetischen Gelehrten, mit denen ich in den vergangenen 33 Jahren gearbeitet habe, hatten diese zwei Seiten mehr oder weniger stark entwickelt. Ein Lama, der über sehr tiefgründige Einsichten zu übergreifenden Themen verfügte, hatte sich die erwähnte öffentliche Haltung so stark zu eigen gemacht, daß er in Punkten, in denen wesentliche Unstimmigkeiten zwischen den verschiedenen Lehrbücher bestanden, diese schlichtweg ignorierte. Es schien, als wolle er mir vermitteln, der Standpunkt seines Kollegiums sei der einzige überhaupt.
Ein anderer Lama legte mir immer die Positionen von drei der wichtigsten Lehrbuchautoren dar, betonte jedoch stets die Überlegenheit der Sichtweise seines Kollegiums. Die Präzision, mit der er die unterschiedlichsten Ansichten ausbreiten konnte, ließ mich vor Ehrfurcht fast dahinschmelzen, aber jedesmal, wenn er den Namen des gegnerischen Kollegiums der gleichen Universität nannte, drehte er den Kopf zur Seite und spuckte auf den Boden! Ich fand das immer ganz schrecklich, umso mehr, als der Boden mit einem Teppich bedeckt war. Wenigstens auf einen Teppich sollte man nun doch nicht spucken. (Die Loyalität zu meiner Mutter gewann so leicht die Überhand über meine neu gewonnene Loyalität zu meinem Lama.) In haßerfülltem Konflikt zu seinen Füßen sitzend war ich immer wieder schockiert über diese häufigen Ausbrüche engstirnigen Parteigängertums, das sich gegen das gerade vierzig Schritt von seinem eigenen entfernte gegnerische Kollegium richtete. Er wiederholte gelegentlich, daß die Lehrbücher eines dritten Kollegiums, das einer anderen Klosteruniversität angehörte, gar nicht so schlecht seien, eigentlich sogar recht gut, die der gegnerischen eigenen Mannschaft hingegen seien schlichtweg katastrophal. Erneutes Spucken. Da wir das Haus gemietet hatten, bat ich ihn, nicht auf den Teppich zu spucken, und so arrangierte er sich damit, nur das Geräusch des Spuckens zu produzieren.
Dennoch war er eine beeindruckende Persönlichkeit mit einer unglaublichen Fälligkeit, meist durch Wiederholung von Schlüsselthemen und -positionen die komplexen Zusammenhänge einer Weltanschauung zu vermittein. Manchmal schienen mir diese Wiederholungen langweilig und ausgesprochen unnötig, aber meine Versuche, seine nächsten Worte vorherzusagen, wurden nie so recht von Erfolg gekrönt. Also hing ich doch immer an seinen Lippen, um das endlich fertig zu bringen. Seinen unermüdlichen Wiederholungen wohnte eine bemerkenswerte Güte inne. Tatsächlich war wohl eine seiner Absichten, mich zu der Ansicht der von ihm vertretenen Lehrbuchliteratur zu bekehren, aber der Nutzen, den ich aus seinen Wiederholungen zentraler Positionen bezog, wog die Nachteile bei weitem auf.
Als ich schließlich begann, die Lehrbücher des anderen Kollegiums zu studieren, fiel mir jedoch auf, wie tückisch die ganze Angelegenheit letzlich ist: Obwohl ich die Engstirnigkeit meines Lamas vehement ablehnte, kamen mir diese neuen Texte, bereits bevor ich anfing, sie zu studieren, irgendwie jämmerlich unzulänglich vor. Obwohl ich mir völlig bewußt war, daß ich seine Voreingenommenheit regelrecht haßte, war meine Identifikation mit meinem alten Freund so groß, daß ich trotz meiner erklärten, festen Absicht eine Haltung gegenüber dem anderen Kollegium entwickelt hatte, die einer mentalen Variante des Auf-den-Boden-Spuckens gleichkam.
Daß die tibetischen Gelehrten und Verwalter die Kraft einer solchen Indoktrination so hoch schätzen, ist einer der Gründe für den ausgesprochen prallen Stundenplan eines klösterlichen Kollegiums. Als ich das Shartse Kollegium in Südindien besuchte, hörte ich beim Einschlafen regelmäßig eine Stimme, die aus voller Brust einen auswendig gelernten Text rezitierte, und beim Aufwachen vor dem Morgengrauen waren schon wieder die Gebete einer Mönchsversammlung zu hören. Ein solcher mit Gebetsversammlungen, Unterricht und Debattierstunden gefüllter Tageslauf beschäftigt die Mönche den ganzen Tag und einen erheblichen Teil der Nacht dazu. Unter diesem Eindruck unermüdlicher Aktivitäten zerfiel meine marxistische Vorstellung, daß Mönche faul vom hartverdienten Geld der Werktätigen leben, im Nu zu nichts.
Eine letzte Geschichte soll dieses Bild ergänzen: Die Klosterkollegien sind weiter in »Hauseinheiten« unterteilt, die sich auf die Herkunftsgebiete der Studenten beziehen, und so die parochiale Natur des Systems noch weiter fördern. Diese Häuser wiederum zerfallen in »Familien«. Die kleineren Verwaltungseinheiten befassen sich mit den Bedürfnissen der einzelnen Studenten und sind klein genug, um zu sichern, daß jedem Studenten die ihm zustehende Aufmerksamkeit und Sorge zukommt. Da sie in erster Linie soziale Einheiten ohne einen eigenen Lehrbuchkorpus und nicht die primären Identifikationseinheiten sind, würde ein Mönch nie daran denken, den Namen seines Hauses oder semer Familie anzugeben, wenn man ihn nach seiner Identität im Allgemeinen fragt. Im Jahre 1972 hatte ich bei drei Lehrern aus derselben, Hamdong genannten Hauseinheit des Gomang-Kollegiums in der Klosteruniversität Drepung studiert. Danach lebte ich mehrere Monate lang in einem Bungalow auf einem Hügel oberhalb Dharamsalas in Nordindien. Eines Tages verirrte sich ein tibetischer Gelehrter in mein Haus. Nachdem wir uns eine Weile unterhalten hatten, erinnerte er sich, bereits von mir gehört zu haben. In der Annahme, daß meine Loyalität beim Gomang-Kollegium läge, fragte er mich »Bist du Gomang?« Nun bin ich zwar Buddhist, halte mich aber nicht für einen Gelugpa, und schon gar nicht für den Angehörigen einer noch kleineren Einheit. Also gab ich die beste Antwort, die mir im Moment einfiel: »Nein, ich bin Hamdong!«, was der Name des Hauses meiner Lehrer war. Er war ziemlich verblüfft, und konnte sich wohl keinen Reim darauf machen, daß ich mich mit solch einer unbrauchbaren Einheit identifizierte. Es kam ihm gar nicht in den Sinn, daß ich nahezulegen versuchte, daß er selbst genau das täte.
Diese hohe Bedeutung der Verbundenheit erinnert an den Treueschwur eines Kriegers des angelsächsischen England gegenüber seinem Häuptling. Das Gedicht The Wanderer² schildert, wie die Identität eines Kriegers so eng mit dem Stamm verbunden war, daß er, wenn er (zum Beispiel ohnmächtig geschlagen und vom Feind als tot liegengelassen) seinen Häuptling in der Schlacht überlebte, in einen Zustand psychologischer Heimatlosigkeit verfiel. Diese Loyalität gegenüber dem Häuptling benutzten die christlichen Missionare als Modell für die Loyalität gegenüber Gott, dem »ewigen Häuptling«. The Wanderer impliziert, daß die säkulare durch eine religiöse Loyalität gegenüber einem höheren Führer ersetzt werden sollte. In den Gelugpa-Universitäten hingegen werden erstaunlicherweise die scheinbar höheren Loyalitäten durch niedrigere ersetzt, die Verbundenheit mit dem Buddha wird zweitrangig gegenüber der Verbundenheit mit dem Kollegium. Tatsächlich betrachtet man den Autor des Lehrbuchkorpus als einen Buddha unserer Zeit, aber die Form, die diese Verbundenheit mit all ihrer Ablehnung anderer Kollegien annimmt, macht es unmöglich, dieses Argument wirklich zu akzeptieren. Der engstirnige Parteigeist im tibetischen Buddhismus steht eigentlich in starkem Widerspruch zu der allgemein vertretenen Lehre vom universellen Mitgefühl und dem Aufruf, Verantwortung für das Wohlbefinden aller fühlenden Wesen zu übernehmen, worin zweifellos auch die Angehörigen des Nachbarkollegiums eingeschlossen sind. Ein guter Teil meines Schrecks angesichts dieser Situation entstand sicherlich auch aus meiner eigenen historischen Position als Mensch einer Zeit, in der nationale, ethnische und religiöse Engstirnigkeit die Welt in einen Abgrund treibt, und aus meiner Auffassung, daß unser Überleben nicht zuletzt von der Abschaffung eines solchen Parteigängertums abhängt.
Ich möchte hier nicht den Eindruck erwecken, daß eine solche engstirnige Voreingenommenheit die Gelehrsamkeit und die spirituelle Entwicklung in diesen Universitäten völlig verhindert, denn das ist wirklich nicht der Fall. Vielmehr will ich auf die Spannungen hinweisen, die in einer so vielschichtigen Lage bestehen. Solche festen Voreingenommenheiten werden oftmals absichtlich eingeprägt, um eine Arbeitsgrundlage herzustellen, ähnlich der Schaffung einer Bühnenfassade, die den Rahmen für weitere Aktivitäten bildet. Sie schaffen Energie für Studium und Debatte, sowie einen festen Bezugspunkt für Studenten, die noch keinen universalistischen Rahmen kennen. Der so eingeimpfte Sinn für die Einzigartigkeit des eigenen Kollegiums und die ehrfurchterweckende Verantwortung, Mitglied eines solchen Vereins zu sein, verlangt einen Studienablauf, im Laufe dessen durchaus ein tiefgreifendes Verständnis sowie spirituelle Fortschritte erzielt werden können, die dieser Engstirnigkeit entgegenwirken.
Mir scheint, daß die Intensität des umfangreichen Unternehmens tibetischer religiöser Erziehung bis zu gewissem Grad der Spannung zu verdanken ist, die aus dieser Art von Gruppenzwang entsteht, welcher ja den Kernpunkten buddhistischer Doktrin – universellem Mitgefühl, universeller Leerheit und der Erfahrung aller Phänomene als Manifestationen des Klaren Lichtes – eindeutig zuwiderläuft. Der Rahmen dieses auf Wettstreit ausgerichteten, voreingenommenen Zugehörigkeitsgefühls, innerhalb dessen solche universalistischen Einstellungen gelehrt werden, bringt ungelöste Energien mit sich. Diese wiederum bauen sich durch das Bestehen auf den zwei sich grundsätzlich widersprechenden Haltungen von blinder Ergebenheit und rationaler Analyse noch weiter auf. In gewissem Sinne wird ein Gleichgewicht nicht durch Mäßigung, sondern durch die Intensivierung beider Haltungen erreicht.
Die gesamte tibetische Kultur durchzieht ein ambivalentes Verhältnis zum Thema »Autorität«: Einerseits wird Autorität verwendet, um Verbundenheit und Gehorsam einzutrichtern, andererseits setzt man scheinbar volles Vertrauen auf logische Argumentation, selbst wenn dies der Autorität zuwiderläuft. Mit einer solchen Diskrepanz konfrontiert, setzt die tibetische Kultur nicht auf das eine oder das andere oder auch auf eine harmlose Mischung der beiden, sondern auf eine Fülle von beiden. In Tibet geschieht weniges halbherzig: Man veranstaltet Marathondebatten in der Eiseskälte des Januars, bis den Teilnehmern beim Argumentieren die Handflächen aufreißen und zu bluten beginnen, man trinkt vierzig bis sechzig Tassen Tee am Tag, man bevölkert einen Tempel mit (ohne Übertreibung) Hunderten von Ikonen, man kennt zahllose Wunder (es gibt große Mengen sprechender Statuen, Ikonen treten spontan aus dem Felsen hervor, etc.), und man findet nicht nur einige, sondern Hunderte von Inkarnationen berühmter Heiliger im ganzen Land. Fast jedem, der sich auf kulturellem Gebiet hervortut – seien es politische Persönlichkeiten oder spirituelle Meister, die Sekten gründeten oder Lehrbücher verfassten schreibt man sogleich Göttlichkeit zu. Damit werden Jahrzehnte der Hingabe, des Studiums oder der Meditation im Leben dieser Menschen geradezu bedeutungslos gemacht: Die Erfolgreichen stehen jenseits von menschlichen Anstrengungen. Dies führt zu dem merkwürdigen Ergebnis, daß in einer Religion, die sich in ihrem Selbstverständnis vor allem mit der Entwicklung der persönlichen inneren Anlagen beschäftigt, die Effizienz eigener Anstrengungen geradezu geleugnet wird. Auch in dieser buddhistischen Gesellschaft zieht man Aufmerksamkeit auf sich, indem man für sich eine göttliche Abstammung reklamiert, und kann so soziale, wirtschaftliche oder politische Vorteile erlangen. Durch die Aussonderung der wirklich Heiligen kann außerdem der normale Mensch auf eigene Anstrengungen verzichten, und die Kultur schützt sich so vor zu hohen Ansprüchen an die religiöse Praxis des Einzelnen.
Daß vieler dieser Ansprüche auf göttliche Abstammung offensichtlich übertrieben sind, führte zur Entwicklung einer Gegenbewegung unter Mönchen, Nonnen und Laien, die sich – unabhängig davon, welche monastiche oder politische Institution deren Ansprüche unterstützt – nicht sonderlich für die sogenannten Reinkarnationen interessierten. Diese exzessive »Inflation des Göttlichen« kollidiert dabei mit zwei internen Forderungen der Religion, nämlich daß man erstens seine eigene Stellung in dem unkontrollierbaren Prozeß ständiger Wiedergeburt in grundsätzlich leidbehaftete Lebensformen genau einschätzt, und zweitens die psychologischen Prozesse, die dieses Gefangensein hervorrufen, sorgfältig untersucht. Der Widerspruch zwischen Dünkel und der Notwendigkeit realistischer Einschätzung schafft eine Spannung, die wiederum ein hohes Energiepotential freisetzt. Aktivitäten, die durch eine unkontrollierte Identifikation mit Haßobjekten bedingt sind, können so noch intensiviert werden.
Es ist schwierig, innerhalb dieses von der Kultur bereitgestellten überhöhten Rahmens die Bedeutung dessen, was religiöse Persönlichkeiten durch Gelehrsamkeit und Übung erreichen, wirklich einzuschätzen, denn schließlich handelt es sich bei ihnen um Inkarnationen von Gottheiten. Als besonders schädlich erweist sich dabei die Behauptung, daß die Werke eines Gelehrten vollständig den indischen Quellen entsprechen und diese also nur wiederholen. Dadurch wird es unmöglich, die ungewöhnlichen Entwicklungen, die die Einsichten und Anstrengungen der tibetischen Gelehrten für ihre Anhänger innerhalb des weiten Einflußbereiches der tibetischen Kultur³ in Gang gesetzt haben, überhaupt auch nur wahrzunehmen. Eigentlich sollte man annehmen, daß die Behauptung, der Buddhismus der eigenen Sekte stelle das letzte Wort dar, angesichts der unzähligen Kontroversen in den Kollegien der gleichen Sekte bereits vor Jahrhunderten auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet sei. Tatsächlich werden jedoch beide Seiten der Angelegenheit immer noch bewahrt. Einerseits unterwirft man die Studenten einem rigiden Gruppenzwang, andererseits werden intellektuelle Kontroversen bis zum letzten gefördert. Ein solcher, Beteiligte wie Außenseiter gleichermaßen verwirrender und zur Verzweiflung bringender Verzicht auf jegliche Konsistenz ermöglichte det tibetischen Kultur die Entwicklung einer großen Vielseitigkeit. Möglicherweise zeigt sich hierin sogar eine nicht explizit ausgedrückte, aber durch die Eigendynamik der Kultur zum Vorschein kommende weise Einschätzung, nämlich daß das Leben nicht so gradlinig und einfach ist, daß eine einheitliche Perspektive ihm Rechnung tragen könnte. Die Überlegung liegt nahe, daß ein Beharren auf eintöniger Einheitlichkeit den Reichtum einer Kultur zum Erlöschen bringen könnte.
Anmerkungen
¹ Teile dieses Vortrags entstammen meinem in Kürze erscheinenden Buch Reflections on Reality.
² Zu meiner Übersetzung dieses Textes siehe Hopkins 1977. Ezra Pound übersetzte das dazugehörige Gedicht The Seafarer.
³ Der tibetische Kulturraum erstreckt sich weit über Tibet hinaus. Er umfaßt die Gebiete der Kalmück-Mongolen im Bereich der Wolgamündung westlich des Urals, die Äußere und die Innere Mongolei, sowie die in Sibirien gelegene Republik der Buriat-Mongolen ebenso wie Bhutan, Sikkim, Ladakh und Teile Nepals. Überall dort werden buddhistische Rituale und scholastische Studien in tibetischer Sprache durchgeführt. Bis zur kommunistischen Machtübernahme studierten junge Leute aus all diesen Gebieten in Lhasa, und kehrten für gewöhnlich nach Abschluß ihres Studiums in ihre Heimatländer zurück.