Religionskämpfe unter den Exil-Tibetern?
Michael von Brück
Ludwig-Maximilians-Universität München
Interfakultärer Studiengang Religionswissenschaft
Die Exil-Tibeter stehen vor einer inneren Zerreißprobe. Es könnte zu Spaltungen kommen, die politisch verhängnisvoll wären. Der Dalai Lama hat den populären Kult der »Gottheit« Shugden verboten. Protestierende Mönche des Klosters Gaden wurden wegen Widerstandes gegen das Gelübde des Gehorsams aus der Mönchsgemeinschaft ausgeschlossen. Ein religiöser Konflikt mit politischem Hintergrund – oder ein politischer Konflikt, der sich religiös einkleidet? Wer will das so genau sagen, zumal die Welt der Religionen seit eh und je vergleichbare Konflikte durchlebt hat. Aber im geistigen Umfeld des Dalai Lama, des humorvollen Weisen auf dem Politikersessel, hatte man solches doch nicht vermutet! Der Dalai Lama, Friedensnobelpreisträger von 1989 und international hochgeachteter Advokat des Dialogs der Religionen, der »Papst der Protestanten« (wie ein pfiffiger Journalist nach dem Münchner Kirchentag 1993 titelte), – ein unduldsamer Wächter im eigenen Haus, der die Religionsfreiheit einschränkt?
So jedenfalls seine Gegner in tibetischen Klöstern, in Indien und Europa. Es sieht beinahe nach offener Revolte aus. Dagegen argumentieren andere, daß es sich um eine weitsichtige und unvermeidliche Reform handele. Besonders die Laien stehen (fast) geschlossen hinter dem Dalai Lama. Toleranz könne schließlich nicht heißen, das Gift der Spaltpilze zu dulden. Friedensstiftung im Geist der Religion bedeutet auch nicht, den Unvernünftigen gewähren zu lassen. Ein aus Weisheit gestifteter Friede unterzieht sich vielmehr der Transparenz des öffentlichen Argumentierens und setzt sich dem Widerspruch aus.
Das Problem, um das es geht, reicht bis zu den Anfängen des Buddhismus in Tibet zurück. Der tibetische Buddhismus kennt seit Jahrhunderten vier Haupt-Schulen oder »Konfessionen«: Nyingma, Kagyü, Sakya und Geluk. Sie haben vieles gemeinsam und in ihrer Geschichte miteinander kooperiert, nicht selten aber erbittert um geistliche wie wirtschaftliche Macht und politischen Einfluß gekämpft. Da liegt auch heute ein Problem der Auseinandersetzung. Denn »Shugden« gilt als Beschützer der Gelugpa, die ohnehin die stärkste und mächtigste Gruppierung sind, und obendrein gehen aus dieser Gruppe die Dalai Lamas hervor. Deshalb fühlen sich die anderen Traditionen durch die Shugden-Verehrung bedroht, zumal dieser Kult in der tibetischen Geschichte Abgrenzung statt Kooperation bewirkt haben soll. Mit historischen Argumenten läßt sich das Problem jedoch nicht entscheiden. Es wird um die Plausibilität – und damit um den sozialen Zusammenhalt – einer ganzen Kultur gestritten. Denn nur durch Zustimmung zu dem, was gelten soll, läßt sich das friedliche Miteinander unterschiedlicher Gruppen und Traditionen unter den Tibetern – und nicht nur dort – gestalten. Auch der Dalai Lama weiß: Geschichtliche Konstellationen wirken unterschwellig fort; sie können gefährliche Mentalitätsmuster erzeugen und zum sozialen Sprengsatz werden. Die Kontroverse schwelt seit Ende der siebziger Jahre. Sie hat sich im Sommer 1996 dramatisch verschärft, zumal durch Versendung von englischsprachigen Erklärungen des tibetischen Exil-Kabinetts rund um die Welt nun auch zunehmend Europäer und Amerikaner verunsichert sind. Ratlosigkeit breitet sich bei zahlreichen Tibet-Initiativen in aller Welt aus. Peking reibt sich die Hände und soll die Dalai Lama-Gegner finanziell unterstützen: Seit Jahrzehnten gibt es eine »Mongolisch-Tibetische Kommission« bei der Regierung Taiwans, der Gelder aus Peking zufließen sollen. Ironie der Geschichte: die zwei verfeindeten chinesischen Staaten vereint gegen Tibet? Unbestritten ist, daß die chinesischen Kommunisten nun auch den Shugden-Kult im besetzten Tibet fördern, denn schließlich setzt Peking alles daran, die Autorität des Dalai Lama zu untergraben. Worum aber geht es eigentlich?
Religionen verwässern im Laufe ihrer Geschichte immer wieder die Eindeutigkeit ihres Ursprungsimpulses. Wer wüßte es nicht: Die Botschaft Jesu ist so massiv korrumpiert worden, daß Europa auch heute noch die Schockwellen spürt, nicht nur auf dem Balkan. Der Buddha predigte den Pfad zur Befreiung aus dem Netz selbstverschuldeter Projektionen, die auf Egozentrismus, Gier und Haß beruhen. Sie verzerren nüchterne Wahrnehmung und vergiften das menschliche Handeln. Aber aus diesen klar überschaubaren Anfängen wurden nach Jahrhunderten komplexe Systeme der Philosophie und des Kultes, die miteinander rivalisierten: Konfessionen entstanden, einzelne Gruppen strebten nach Macht und politischem Einfluß, Mönche, die der Welt entsagt hatten, lebten in Klöstern, die durch Schenkungen reich wurden und wirtschaftlichen Einfluß gewannen. Das war in Europa nicht anders als in Tibet, China oder Japan. Im Laufe dieser Entwicklungen nahmen die Religionen kulturelle Elemente der Länder auf, die sie missionierten: So ist das Christentum nicht ohne die vorchristlichen »Gottheiten« und Kulte verständlich – von den germanischen Fruchtbarkeitsriten zum Osterfest bis zu der römischen Sonnensymbolik an Weihnachten. Nicht anders im tibetischen Buddhismus: Er hat viele Elemente der vorbuddhistischen Kulturen Zentralasiens in seine geistige Welt aufgenommen. »Geistige Welt« ist hier wörtlich gemeint – die Buddhisten »zähmten« in jahrhundertelangen Kämpfen die alten Berg-, Baum- und Flußgeister, die hinfort als Beschützer der buddhistischen Religion (dharmapala) dienten. Diese Wesen waren und sind allerdings unterschiedlichen Charakters. Einige sind friedlich, andere wild und grausig, die meisten können beide Aspekte annehmen. Das Alltagsleben der Tibeter wird stark von der Furcht vor diesen Wesen geprägt, aber auch von der Hoffnung, daß noch mächtigere geistige Kräfte hilfreich – den christlichen Schutzengeln nicht unähnlich – in das Leben eingreifen mögen.
Eines dieser »geistigen Wesen« ist Shugden oder Dolgyal, wie ihn die Tibeter nennen. Schwer bewaffnet kämpft er unerbittlich gegen die Mächte des Bösen. Aber was oder wer ist hier »böse«? Derjenige, der einer anderen Schule des tibetischen Buddhismus angehört? Shugden, so heißt es in einigen Quellentexten (denen andere Traditionen widersprechen), sei die Wiedergeburt Tulku Drakpa Gyaltsens, eines Zeitgenossen des großen 5. Dalai Lama (1617–1682). Dieser Dalai Lama konnte nach erbitterten innertibetischen Kämpfen und durch eine kluge Ausgleichspolitik gegenüber den mongolischen Khanen erstmals das riesige Territorium Tibets politisch einen und die ständigen Bürgerkriege (zeitweise) beenden. Und zwar so, daß er die geistliche und politische Macht in sich vereinte. Die Integration widersprüchlicher Interessen wurde durch die religiöse Idee der Präsenz des Buddha-Geistes der Barmherzigkeit im Dalai Lama möglich. Integration bedeutet Ausgleich und eben auch Beschneidung von Einzelinteressen: Drakpa Gyaltsen und seine Anhänger hatten in einer gewissen Rivalität zum Dalai Lama gestanden, nicht zuletzt, weil dieser Dalai Lama auch andere Schultraditionen (vor allem der Nyingmapa) pflegte und in die eigene Gelukpa-Schule integrieren wollte; ein innertibetischer Ökumeniker also, der die Engstirnigkeit des Konfessionszwists konsequent bekämpfen wollte! Dies erregte den Unwillen der Gelukpa-»Fundamentalisten«, und sie verpflichteten den »Geist« des inzwischen wahrscheinlich ermordeten Drakpa Gyaltsen, hinfort als exklusiver Beschützer der Gelukpa dienstbar zu sein.
Hier muß man wissen: Tibetische Buddhisten leben nicht nur in Gemeinschaft (und gelegentlichem Streit) mit den Lebenden. Vielmehr wird die Welt des Geistes als endloses Kontinuum gedacht, in dem die äußere Gestalt der Wesen zwar höchst vergänglich ist, die Energieimpulse eines jeden Lebewesens aber ständig fortwirken.
Nicht nur jede Tat, sondern auch jeder Gedanke hat unübersehbare Wirkungen auf nahe und ferne Existenzen. Der Geist ist unzerstörbar. Und alle Wesen, von den erbärmlichen Existenzen in den tiefsten Höllen über die Tiere und die Menschen bis hin zu den höheren geistigen Wesen, bilden eine einzige Kette von Lebensformen, die voneinander abhängen und einander beeinflussen eine ökosphärische Gemeinschaft der gegenseitigen Verantwortung, eine Bruder- und Schwesternschaft allen Lebens, quer durch die Zeiten hinweg. Wegen dieser Verantwortung ist es nicht gleichgültig, wohin sich die persönliche wie auch die kollektive Verehrung wendet, denn sie schafft ein »Klima«, das heilsam sein oder auch Negatives bewirken kann.
Dem 5. Dalai Lama ging es im 17. Jahrhundert vor allem um die politische Einheit Tibets und um kulturelle Emanzipation im Sinne der buddhistischen Lehre, welche die Eigenverantwortung des Menschen, nicht die Abhängigkeit von schützenden Geistwesen, betont. Politische Einheit war (und ist) ohne eine kulturellreligiöse Integration der Einzelgruppen nicht zu haben. Deswegen hat auch der 13. Dalai Lama (1876–1933) zu Beginn des 20. Jahrhunderts den angesehenen Charismatiker Phabongka mehrfach zurechtgewiesen, weil dieser im Namen des »Beschützer-Geistes« Shugden gegen die anderen religiösen Schulen anpredigte, die nicht zur Gelukpa-Tradition gehören, und sogar Schriften und Kultbilder der Nyingmapa-Schule zerstört haben soll. Der Shugden-Kult hat mithin einer engen Sektenmentalität und Absolutheitsansprüchen gegenüber Andersdenkenden Vorschub geleistet.
Nicht nur das. Die Zahl der Shugden-Anhänger wuchs nach 1960 besonders im indischen Exil, wo sich angesichts der auswegslosen Lage der Tibeter der Wunsch nach einer mächtigen überirdischen Helfergestalt vertiefte. Weit entfernt davon, das Denken der Menschen auf das buddhistische Ziel, die geistige Befreiung von allen ichbezogenen Wünschen nämlich, auszurichten, wird Shugden auch, und zwar ganz offen, für materiellen Wohlstand angerufen. So verwundert es nicht, daß der Dalai Lama die Substanz und Einheit des Buddhismus gefährdet sieht. Ein Buddhismus, der seine geistige Kraft zur Befreiung vom Ego verliert, mutiert zu bloßem Schamanismus oder Geisterglauben, so der Dalai Lama. Eine höhere geistige Kraft (Shugden), die nicht die universale Barmherzigkeit und Brüderlichkeit verkörpert, sondern für die kulturelle Abgrenzung vom jeweils anderen kämpft, hat im Buddhismus keinen Platz. Hier ist Widerstand geboten – im Namen der Religion der Barmherzigkeit, der Toleranz und der Vernunft. Zwischen diesen dreien kann es, so der Buddhist, keinen Widerspruch geben.
Individuell, so der 14. Dalai Lama (geb. 1935), könne weiterhin jeder Tibeter beten und verehren, wen er oder sie wolle, auch Shugden. Aber größere Gruppen, Klöster und vor allem die staatlichen Institutionen, die dem Dalai Lama nahe stehen, sollen sich von diesem Sektengeist fernhalten, der sich für die Sache Tibets als schädlich erwiesen habe.
In der Tat, der Dalai Lama wußte, daß er eine Kontroverse entfachen würde, zumal er früher selbst zu den Shugden-Verehren zählte. Er hat sich nach eingehenden Studien korrigiert. Allein schon solche Selbstkorrektur verdient Respekt. Nun hat er eine Kommission eingesetzt, um die historischen und psychologischen Hintergründe des Shugden-Kultes noch genauer zu erforschen. Erkenntnis zählt, nicht blinde Tradition. Das ist die Lehre aus dem offenen Konflikt – nicht nur für die Tibeter. ■