Der Stupa – Umfassendstes Symbol des Buddhismus
von Cornelia Weishaar-Günter
Wo immer der Buddhismus Fuß gefaßt hat, finden wir Stupas – auf den ersten Blick rätselhafte, aus geometischen Figuren aufgebaute hügel- bis turmförmige Gebilde mit einer herausragenden Spitze, als Miniatur-Stupas (tib. tsha-tsha) wenige Zentimeter groß oder als monumentale Bauwerke mit über hundert Metern Durchmesser.
Der tiefe symbolische Gehalt ist unumstritten, doch immer noch fördert die Forschung neue Möglichkeiten und Ebenen der Interpretation zutage. Bevor wir uns jedoch einigen dieser Theorien zuwenden, betrachten wir zunächst, was die Präsenz eines Stupa im Alltag der Buddhisten bedeutet.
Leben in der Nähe eines Stupa
Gehen wir dazu nach Bodhnath, in der Nähe von Kathmandu. Dort finden wir einen jener riesigen Augen-Stupas, an die wir beim Begriff „Nepal“ sofort denken. Um diesen Stupa herum wohnen vor allem Tibeter und Sherpas. Tagsüber fällt vor allem auf, daß man auch für kleinere Geschäfte, die man zu erledigen hat, nicht unbedingt den kürzesten Weg um den Stupa herum wählt, sondern darauf achtet, immer nur im Uhrzeigersinn, die rechte Schulter respektvoll dem Bauwerk zugewandt, an ihm vorbeizugehen.
Mit dieser kleinen alltäglichen Achtsamkeit werden kontinuierlich heilsame Geisteseindrücke gesammelt; denn der Stupa ist in erster Linie ein Repräsentant von Buddhas Geist (thugs-rten), höchstes Symbol der Erleuchtung, fast so etwas wie die Präsenz des Buddha selbst (woran auch die Augen erinnern). Ihm Respekt zu erweisen, heißt, den eigenen Geist für die Buddhaqualitäten zu öffnen und sich ihnen damit zu nähern.
Abends dann – die Touristen sind zumeist schon verschwunden –, kommt jung und alt aus den Häusern, eigens nur, um den Stupa ehrerbietig zu umwandeln. Manche beten dabei, manche unterhalten sich, manche schreiten gemütlich, einige kräftige junge Mönche versuchen, durch hohes Schrittempo formal ihre Umwandlungs-Verdienste zu steigern, von den anderen freundlich-amüsiert als „Stupa-Express“ belächelt …
Viele ältere Tibeter sind nur nach Bodhnath gezogen, um an diesen abendlichen Übungen teilzuhaben und ihre Vorsätze wahrzumachen: In diesem Leben wollen sie noch 10.000 Umwandlungen schaffen, vielleicht nochmals 10.000 … Es kann kein Zweifel bestehen, daß solche Zielsetzungen schon weltlich gesehen die alten Menschen körperlich wie psychisch in Form halten.
An besonderen Festtagen finden sich von weither die Bettler ein, weil sie wissen, daß dann jeder eigens Münzen eingesteckt hat, um sie den Armen zu geben; immer wieder werden im Umkreis des Stupas sog. Tshogs-Pujas durchgeführt und die Nahrungsmittel an alle zufällig vorbeikommenden Passanten verteilt. Als besondere Opfergabe gilt es, den Stupa frisch weißen zu lassen; beinahe wöchentlich sieht man, wie die beauftragten Arbeiter damit beschäftigt sind, dem Stupa wieder solch ein neues „Kleid darzubringen“.
In dieser Weise fungiert der Stupa als ständige Quelle für Verdienste oder heilsame Geisteseindrücke im Bewußtsein der gesamten Gemeinschaft, von den Dichtern als unablässiger Strom des Guten und des Wohlergehens besungen. Einen Stupa zu erbauen oder zu schmücken ist eine Form, die buddhistische Lehre zu vermitteln und damit höchster Dienst am anderen; jeder, der ihn sieht und ihm seinen Respekt erweist, wendet sich innerlich unwillkürlich ein wenig der Erleuchtung zu.
Historische Entwicklung
Vergleichen wir die tiefe Verwurzelung des Stupa im religiösen Leben der heutigen Buddhisten damit, wie es im frühen Buddhismus war, so sehen wir uns einem langen Entwicklungsprozess gegenüber.
Offenbar gab es bereits sehr früh – Legenden nach sogar schon zu Lebzeiten Buddhas – Stupas, die die Laien als Grabhügel für verstorbene buddhistische Heilige errichteten. Sie folgten damit einer allgemeinen indischen Sitte, die der Buddha anscheinend nur zögernd billigte. Er wies seine Mönche an, doch lieber zu meditieren. Der Legende nach wurden Buddhas eigene Überreste nach seinem Tod auf acht verschiedene Stupas in Indien verteilt; obwohl die Orte benannt sind, ist keiner dieser Stupas bisher archäologisch nachgewiesen.
Hingegen kennt man bedeutende Stupas aus der Zeit Ashokas (ca. 273–236 v.Chr.) wie z.B. den großen Stupa von Sanchi. Der Legende nach soll Kaiser Ashoka in seinem Bestreben, den Buddhismus und das Wohl der Lebewesen voranzutreiben, 84.000 Stupas errichtet haben. Daran sehen wir, daß der Stupa spätestens zu dieser Zeit bereits weit mehr als ein bloßes Grabmal darstellte: ein Symbol, das für die Menschen die Gegenwart und die Möglichkeit der Erleuchtung repräsentierte. Bis heute enthält jeder große Stupa einen „Reliquienschrein“, der mit entsprechenden Gebeten und Ritualen zumeist irgendwo unterhalb seines “Lebensbaumes” (tib. srog-shing), der zentralen Achse, eingefügt wird, jedoch außer mit Reliquien auch mit Kostbarkeiten und religiösen Symbolen anderer Art – nicht zuletzt Miniaturstupas (tib. tsha-tsha) – gefüllt sein kann.
Mit dem Zugewinn an buddhistischer Symbolik durfte der Stupa in den meisten Schulrichtungen dann auch uneingeschränkten Eingang in das spirituelle Leben des Mönchs finden. An den Ausgrabungen in Nagarjunakonda, wo im 3. und 4. Jahrhundert n.Chr. verschiedene buddhistische Richtungen Tempelanlagen errichteten, läßt sich diese zögernde Integration in die Klöster nachvollziehen.
Als der Buddhismus nach China gelangte, war die Stupa-Pagode zunächst sogar das Zentrum jeder Tempelanlage, bis sie um 900 n.Chr. durch die Bilderhalle im wörtlichsten Sinn zur Seite gedrängt wurde.
In Tibet gab und gibt es – im Gegensatz zu Sri Lanka, wo der Stupabau bis heute eher von Laien ausgeführt wird – keine Spur dieser Trennung. So trug der große indische Mönchs-Gelehrte Atisha, der im 11. Jahrhundert lange Zeit in Tibet lehrte, stets einen kleinen Stupa bei sich, um unheilsame Handlungen jederzeit an Ort und Stelle in seiner Gegenwart beichten und reinigen zu können; und auf jedem tibetischen Altar sollten sich idealerweise Repräsentationen von Körper (Statue, Bild), Sprache (Text) und Geist (Stupa) des Buddha finden.
Die Symbolik der Form
Indien, Sri Lanka
Ursprünglich waren die Stupas massiv; es gab keinen Zugang ins Innere. Innerhalb eines viereckigen Zaunes („Torana“) befand sich auf einem runden Sockel eine mächtige Kuppel („Anda“), darauf ein viereckiger Aufbau („Harmika“), aus dessen Mitte ein Mast („Chattravali“) mit Ehrenschirmen und krönendem Abschluß ragte. Zumindest die drei letzteren Abschnitte – Anda, Harmika und Chattravali – bleiben in der Folge kennzeichnend für den Stupa. Über den Ursprung gerade dieser Bau-Elemente gibt es nur Theorien; sicher ist wohl, daß der zentrale Ehrenschirm-Mast mit den Symbolen der Königsherrschaft und der Weltachse im Zusammenhang steht, somit der Stupa auch Stabilität und Souveränität der Buddhaschaft anzeigt. In Sri Lanka wurde diese ursprünglichste Stupa-Form als sogenannte „Dagobas“ weitgehend bis heute beibehalten.
Für die weitere Entwicklung in Indien, Zentral- und Ostasien war jedoch entscheidend, was im 2.–5. Jahrhundert in der Gandhara-Region geschah, einer Kreuzung wichtiger West-Ost- und Nord-Süd-Handelswege im heutigen Pakistan und Afghanistan. Vermutlich aufgrund des multikulturellen Einflusses wurde die gedrungene Gesamtstruktur des Stupa nach oben gestreckt und erhielt eine mehr turmartige Form. Der runde Sockel wurde in mehrere Etagen abgestuft und auf eine viereckige, ihrerseits mehrstufige Basis gesetzt; wie übrigens schon in Sri Lanka beginnen die Schirme sich nach oben zu verjüngen; auf der Außenseite von Sockel und Anda werden immer mehr Ornamente und Bilder hinzugefügt. Erstmalig in dieser Zeit darf der Buddha als Mensch dargestellt werden. Vorher mußten Symbole als Platzhalter dienen, zum Beispiel das Rad der Lehre für den lehrenden Buddha oder ein Stupa für den sterbenden Buddha, für den Moment seines Parinirvana, der nach den Lehren des Kleinen Fahrzeugs erst den Erleuchtungsprozeß vervollkommnet.
China
Wenig später (ca. im 6.–7. Jh.) entstanden die chinesischen Pagoden durch eine noch drastischere Erweiterung des Sockels, die eine Form ermöglichten, die der mindestens seit der Han-Dynastie in China verbreiteten Turmästhetik entsprach. Die Strukturen von Anda, Harmika und Chattravali krönen dabei das Ganze in Miniaturform. Die Pagode unterhalb dieses „eigentlichen Stupa“ konnte man nun auch betreten und dort zumeist etagenweise entweder den Zentralmast oder eine Buddhastatue umwandeln. Mit der Verdrängung der Pagode aus dem Zentrum des Tempelbezirks im 9. Jh. geriet jedoch auch ihre tiefere Bedeutung zunehmend in Vergessenheit; das ästhetische und geomantische Element einer Pagode in der Landschaft steht in China mehr im Vordergrund als seine religiöse Funktion.
Japan
Pagoden desselben Stils fanden auch ihren Weg nach Japan, wobei man sich jedoch gegenüber dem großen Formenreichtum Chinas auf einen viereckigen Grundriß und die Begehbarkeit im Erdgeschoß beschränkte. Mit der Einführung des tantrischen Shingon-Buddhismus in Japan kamen jedoch noch zwei weitere Stupa-Formen hinzu, die in China keine bekannten Vorbilder haben: Der sogenannte Tahoto-Stupa erinnert hierbei an eine Legende, die in Japan weit verbreitet ist. Danach sei der indische Buddhismus bereits im Verfall gewesen, als Nagarjuna durch sieben Tage Umwandlungen und inbrünstige Gebete bei einem geschlossenen Eisenstupa in Südindien eine Öffnung bewirkt habe; die Gottheiten in seinem Inneren hätten ihn in ihre Tantra-Lehren initiiert, so daß der Buddhismus wieder zur Blüte gelangen konnte. Der Tahoto-Stupa erinnert an diesen Eisenstupa durch den riesigen Anda, der zwischen den beiden japanisch geschwungenen Dächern deutlich ist. Da ein solches Bauelement in Japan fremd ist, finden wir hier die – wie wir gesehen haben, gerechtfertigten – Vorstellungen wieder, die man sich in Japan von alten indischen Stupas machte.
Entsprechend der tantrischen Vorstellung, daß die fünf Elemente auf dem Weg zur Buddhaschaft gereinigt, d.h. in ihrer wahren Natur als Erscheinung der Buddha-Weisheit erkannt werden müssen, sehen die Shingon-Buddhisten im Tahoto-Stupa eine Repräsentation der fünf Elemente: die würfelförmige Basis entspricht dabei der Erde, die abgeflachte Kugel des Anda dem Wasser, der Konus von Harmika und Chattravali dem Feuer und der Aufsatz dem Wind- und Raumelement.
Noch deutlicher, und häufig mit den entsprechenden Sanskrit-Keimsilben bezeichnet, findet sich diese Vorstellung im eigenständig japanischen Gorinto-Stupa; sie zieren u.a. zu Hunderten die einzelnen Gräber japanisch-buddhistischer Friedhöfe. Hier werden nur noch, ohne jedes Beiwerk, die fünf Elemente übereinander dargestellt. Auf der Rückseite, quasi der Kehrseite der Elemente, findet sich dann die einzige Keimsilbe des Bewußtseins, Symbol des Vajradhatu, aus dem letztlich die gesamte Welt der Erscheinungen emaniert. Wie immer steht also der Stupa auch in diesem Kontext als Symbol für die höchste Erkenntnis der Natur der Realität.
Tibet
Auch in Tibet, dem klassischen Land des Vajrayana-Buddhismus, erkennen wir in der Stupaform diese Elemente wieder – die Zuordnung gleicht dabei trotz der tibetischen Stilprägung derjenigen in Japan. Es ist unübersehbar, daß diese wichtige Interpretationsmöglichkeit nur durch die Entwicklung der quadratischen Basis in der Gandhara-Region möglich war – ob sie dort bereits Anwendung fand?
Tibet begreift sich selbst als sehr konservativ, als treuen Bewahrer indischer Traditionen. Somit wird auch die Gruppe von Acht Stupas, die sich in Tibet häufig findet, auf indische, allerdings bisher historisch nicht aufgefundene Vorbilder zurückgeführt. Diese Stupas dienen als Erinnerungsmale wichtiger Lebensstationen des Buddha und weisen Varianten des Sockels auf, hier nach der Liste des Nagarjuna:
- Geburt (rund mit Lotosblätterstufen),
- Erleuchtung (quadratisch mit vier Stufen),
- erste Lehrrede (quadratisch und vieltürig),
- Wundertaten (quadratisch mit Vorbau),
- Herabstieg vom Himmel (quadratisch mit vier Treppen),
- Streitschlichtung unter den Jüngern (achteckig),
- Lebensverlängerung (rund und dreistufig) sowie
- Eingang ins Parinirvana (nur Kuppel ohne Stufen; Glockenform).
Der meistverbreitete Stupa, in Tibet Chörten (mchod-rten, Stütze der Verehrung) genannt, ist der ‚Stupa der Erleuchtung‘, der einen quadratischen Sockel mit vier Stufen besitzt.
Der Stupa, den Atisha mit sich führte, war hingegen ein Stupa in Glockenform (Parinirvana).
Besonders ausbaufähig ist der vieltürige Stupa, der für die erste Lehrrede steht. Sehr oft wurden daraus monumentale Bauwerke, sog. Kumbum (tib. sku-'bum, hunderttausend Körperformen), bei denen sich hinter jeder Tür ein Tempelraum verbirgt, den man bei seiner Umwandlung nacheinander besuchen kann; über Treppen teils im Inneren gelangt man oft bis fast zur Spitze des Stupa. Der bekannteste dieser Art ist wohl der große Stupa von Gyantse aus dem 15. Jh., dessen Statuen und Fresken ein beinahe komplettes Lehrwerk des tantrischen Buddhismus der neuen Übersetzungsperiode liefern. Es war eine Ehre und ein großes Verdienst für die Fürsten stabiler und reicher Geschichtsperioden, als Gönner ihre Mittel in die Errichtung solcher Kunstwerke zu stecken – eine Gelegenheit, die sich auch in Tibet nicht allzuoft bot.
Indonesien
Jahrhunderte früher, um 800 n. Chr., dürfte die Situation auf Java ähnlich gewesen sein, als dort von der Shailendra-Dynastie der Borobudur gebaut wurde, ein monumentaler Bau, bei dem man Stufe um Stufe – diesmal wie bei den älteren Stupas ständig im Freien – an Lehrreliefen vorbei bis zum abschließenden höchsten Stupa geführt wird. Aber ist dieser nun ein kleiner Stupa auf einem großen Stupa oder eher „nur“ der zentrale Stupa auf einem großen Mandala-Gebilde ohne seinesgleichen? Darüber streiten sich die Gelehrten bei diesem einzigartigen buddhistischen Bauwerk.
In jedem Fall ermöglichen Monumentalbauten dieser Art – sei es in Gyantse, Borobudur oder anderswo – eine Art Pilgerreise, die den Begeher seinem Ziel, der Erleuchtung, symbolisch und damit auch innerlich ein Stück näherbringt. Und mit seiner wachsenden Erfahrung wird auch jede Abbildung einer Stupaform für ihn an Wert gewinnen, wird tiefgründiger werden, ihn innerlich zum Guten hin bewegen. Und darum, nur darum, geht es letztlich beim Stupakult.
Empfohlene Literatur
Zur Einführung:
- Johannes W. Glauche, Der Stupa. Kultbau des Buddhismus. Du Mont Verlag, Köln, 1995.
Zur Vertiefung:
- Anna Libera Dallapiccola (Hrgb.), The Stupa, its religious, historical and architectural significance. Franz Steiner Verlag, Wiesbaden, 1980.
- Louis Frédéric und Jean-Louis Nou, Borobudur. Hirmer Verlag, München, 1995.
- Heino Kottkamp, Der Stupa als Repräsentation des buddhistischen Heilsweges. Verlag Otto Harrassowitz, Wiesbaden, 1992.
- Pierre Rambach, Le Bouddha Secrèt du tantrisme japonais. Editions d'Art Albert Skira S.A., Genève, 1978.
- Franco Ricca und Erberto Lo Bue, The Great Stupa of Gyantse. Serindia Publications, London, 1993.