Von der Empathie zum Mitgefühl in einem neurowissenschaftlichen Labor
Aus „Allumfassende Nächstenliebe: Altruismus – die Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit“, Edition Blumenau (2016)
Matthieu Ricard
Im Jahr 2007 befand ich mich mit Tania Singer als Mitarbeiter und Versuchsperson in einem Forschungsprogramm über Empathie im neurowissenschaftlichen Labor von Rainer Goebel in Maastricht. Tania bat mich, ein starkes Empathiegefühl in mir zu wecken, indem ich mir Menschen vorstelle, die von großem Leid getroffen sind. Tania verwendete die neue von Goebel verwendete funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT), mit der Veränderungen der Hirntätigkeit in Echtzeit (Echtzeit-fMRT), anstatt wie bisher nur anhand einer nachträglichen Auswertung, verfolgt werden können. Bei diesem Versuch muss der Meditierende, in diesem Fall ich, etwa zwanzig Mal zwischen unterschiedlichen Geisteszuständen hin und her wechseln, hier also zwischen Empathie und einem neutralen Zustand, in dem man an nichts Besonderes denkt und keine andere Meditationsmethode anwendet.
In einer Pause am Ende einer ersten Meditationsserie fragte mich Tania: „Was machst du? Das sieht überhaupt nicht so aus, wie das, was wir normalerweise beobachten, wenn Menschen Empathie für das Leid Anderer empfinden.“ Ich erklärte kurz, dass ich über das bedingungslose Mitgefühl meditiert und versucht hatte, ein starkes Gefühl von Liebe und Güte gegenüber leidenden Menschen zu empfinden, aber auch gegenüber allen anderen gefühlsbegabten Lebewesen.
Tatsächlich bestätigte die im Nachgang erstellte vollständige Datenanalyse, dass die von der Meditation über das Mitgefühl im neuronalen Netzwerk des Gehirns aktivierten Areale sich sehr von denen der Empathie unterschieden, die Tania seit Jahren erforschte. In vorangegangenen Studien beobachteten in Meditation ungeübte Probanden eine Person, die in der Nähe eines MRT-Geräts saß und der schmerzhafte elektrische Schläge in die Hand verabreicht wurden. Diese Forscher stellten damals fest, dass ein mit Schmerzempfindungen verbundenes Teilareal des Gehirns reagierte, wenn ein Mensch einen anderen leiden sieht. Er leidet also mit, wenn er das Leid des Anderen sieht. Um es noch genauer zu fassen: Es werden bei dieser empathischen Reaktion die beiden Hirnareale vordere Inselrinde und Gürtelwindung (Gyrus cingularis) stark aktiviert, was mit einer negativen affektiven Erfahrung des Schmerzes verbunden ist.¹
Als ich begann über altruistische Liebe und Mitgefühl zu meditieren, stellte Tania fest, dass ganz andere Hirnareale aktiviert wurden. Bei der Meditation über Mitgefühl blieb insbesondere der Bereich inaktiv, der mit negativen Empfindungen und Hilflosigkeit verbunden ist, während hingegen traditionell mit positiven Gefühlen, wie zum Beispiel Mutterliebe, verbundene Areale aktiv wurden.²
Nur Empathie nutzt sich ab, Mitgefühl nicht
Dies war der Ausgangspunkt für Untersuchungen zur genaueren Unterscheidung zwischen der empathischen Resonanz mit den Schmerzen eines Anderen und dem Mitgefühl für dessen Leid. Wir wussten auch, dass diese empathische Resonanz mit Schmerz bei häufiger Wiederholung zu Gefühlserschöpfung und Hilflosigkeit führen kann. Solches erleben Krankenschwestern, Ärzte und Pflegepersonal, die im ständigen Kontakt mit Schmerzpatienten sind, sehr häufig. Dieses Phänomen, im Englischen burnout, also Ausgebranntsein genannt, wird im Französischen mit emotionaler Erschöpfung oder Ermüdung des Mitgefühls übersetzt. Sie trifft Menschen, die von Sorgen, Stress oder Druck im Beruf derart belastet sind, dass sie dem nicht mehr standhalten können und arbeitsunfähig werden. Burnout tritt insbesondere bei Menschen auf, die täglich mit dem Leiden anderer konfrontiert werden, wie vor allem Pflegepersonal und Sozialarbeiter. In den USA hat eine Studie nachgewiesen, dass 60 % der Pflegekräfte unter Burnout leiden oder einmal gelitten haben und dass ein Drittel deshalb für gewisse Zeit arbeitsunfähig war.³
In Gesprächen mit Tania und ihren Mitarbeiterinnen haben wir festgestellt, dass Mitgefühl und altruistische Liebe mit positiven Gefühlen verbunden sind. Wir sind also auf den Gedanken gekommen, dass Burnout in Wahrheit eine „Ermüdung der Empathie“ und nicht des Mitgefühls ist. Letzteres stärkt unsere innere Kraft, unsere innere Balance und unsere couragierte und gutmütige Entschlusskraft, Leidenden zu helfen, und führt nicht zu Hilflosigkeit oder Entmutigung. So bringen unserer Meinung nach Liebe und Mitgefühl weder Ermüdung noch Abstumpfung mit sich, sondern helfen uns im Gegenteil, auftretende Erschöpfungszustände zu überwinden.⁴
Wenn ein meditierender Buddhist Mitgefühl einüben möchte, so beginnt er, über das Leiden von Lebewesen und seine Ursachen nachzudenken. Dazu stellt er sich so realistisch wie möglich die verschiedenen Formen von Hilflosigkeit und Ohnmacht vor, bis sie für ihn unerträglich werden. Dieses empathische Vorgehen soll dazu führen, diesem Leiden mit allen Mitteln abhelfen zu wollen. Da aber dieser Wunsch allein nicht ausreicht, muss auch der Wille dazukommen, alles daran zu setzen, das Leid zu lindern. In der Meditation fängt der Meditierende an, über die tieferen Ursachen des Leids, wie die Unwissenheit, welche die Wahrnehmung der Realität verzerrt, oder auch über mentale Gifte nachzudenken, wie Hass, Anhaftungen und Neid, die ständig neues Leid schaffen. Dieser Prozess führt dann zu einer stärkeren Bereitschaft, anderen zu helfen und sich für ihr Wohlergehen einzusetzen.
Dieses Einüben des Mitgefühls geht mit dem Training der altruistischen Liebe einher. Um diese Liebe in sich wachzuhalten, stellt sich der Meditierende zunächst ein geliebtes Wesen vor, für das er grenzenlose Zuneigung hegt. Er versucht dann nach und nach, dieses Gefühl auf alle Wesen zu übertragen, so wie auch die Sonne unterschiedslos über allem und allen scheint.
Diese drei Dimensionen – Nächstenliebe, Empathie (Resonanz mit dem Leid eines Anderen) und Mitgefühl – sind ganz natürlich mit einander verbunden. In der altruistischen Liebe manifestiert sich Empathie, wenn man mit dem Leid von Lebewesen konfrontiert wird. Diese Konfrontation generiert dann das Mitgefühl (den Wunsch, dieses Leid und seine Ursachen zu beenden). So wirkt Empathie wie ein Prisma und verwandelt altruistische Liebe in Mitgefühl.
Die Sichtweise des Meditierenden
Kommen wir zum Versuch zurück: Die erste Sitzung am nächsten Morgen war der Empathie gewidmet. Es ging darum, so intensiv wie möglich Empathie für das Leiden eines anderen Menschen, z. B. eines geliebten Menschen, zu empfinden. Ich sollte mich nur auf Empathie konzentrieren und ein spontanes Empfinden von altruistischer Liebe oder Mitgefühl, die sich in die Empathie hineinmischen könnten, vermeiden. Durch das Isolieren der Empathie hofften wir, dieses Gefühl besser zu verstehen und die speziellen Hirnareale ausmachen zu können, die es aktiviert.
Während der Meditation jedoch versuchte ich all meine Konzentration auf den gewünschten Geisteszustand zu lenken – hier die Empathie –, um ihn so klar, dauerhaft und intensiv wie möglich darzustellen. Wenn er schwächer wurde oder wenn eine kurze Ablenkung ihn verflüchtigt hatte, fachte ich ihn erneut an. In einer ungefähr eineinhalbstündigen Sitzung wechselten sich die Meditationsphasen von etwa einer Minute mit Erholungspausen von dreißig Sekunden ab. Das bedeutet nur eine relative Erholung, da ich während der gesamten Versuchsdauer nur wenige Millimeter Bewegungsspielraum hatte.
An diesem Tag hatte ich mir als Meditationsthema zu Empathie einen erschütternden Dokumentarfilm der BBC ausgesucht, den ich am Vorabend gesehen hatte. Er handelte von den Lebensbedingungen geistig behinderter Kinder in einem rumänischen Krankenhaus, die zwar täglich ernährt und gewaschen, jedoch vollkommen ihrem Schicksal überlassen wurden. Die meisten von ihnen waren erschreckend dünn; einer war sogar so dürr, dass er sich das Bein beim Gehen gebrochen hatte. Die Pflegehelferinnen hatten ihm einen notdürftigen Stützverband angelegt und ließen ihn auf seinem ärmlichen Bett dahinsiechen. Wenn die Kinder gewaschen wurden, stöhnten die meisten vor Schmerzen. Ein anderes Kind, das ebenfalls nur noch Haut und Knochen war, saß in einem kahlen Raum auf dem Boden und nickte pausenlos mit leerem Blick mit dem Kopf. Alle wirkten so in ihrer ohnmächtigen Resignation verloren, dass sie die Pflegehelferinnen nicht einmal mehr ansahen, wenn sie sich ihnen näherten. Jeden Monat starben mehrere Kinder.
Ich stellte mir auch einen lieben Menschen vor, der mitten in der Nacht durch einen Autounfall verletzt am Straßenrand in seiner Blutlache lag, weit weg von jeglicher Hilfe; in meine Verzweiflung mischte sich beim Anblick der blutigen Szene das Gefühl von Abwehr.
So stellte ich mir über eine Stunde lang, mit kurzen neutralen Unterbrechungen, so intensiv wie möglich, diese unsäglichen Leiden vor. Meine Resonanz auf diese Schmerzen wurde schnell unerträglich. Die Intensität schuf einen Abstand, ein lähmendes Ohnmachtsgefühl, das es mir unmöglich machte, mich spontan auf die Kinder zuzubewegen. Eine kurze aber sehr intensive Empathieerfahrung, vollkommen abgetrennt von Liebe und Mitgefühl, hatten mich zu einem Burnout geführt.
Genau in diesem Moment fragte mich Tania über die Kopfhörer, ob ich eine weitere Sitzung im MRT-Gerät machen würde. Wir könnten sofort zu einer Meditation über Mitgefühl übergehen, die eigentlich für den Nachmittag vorgesehen war.
Ich stimmte mit Begeisterung zu, weil ich deutlich spürte, wie sehr mir Liebe und Mitgefühl in dieser isolierten Empathieerfahrung fehlten. Kaum richtete ich meine Meditation auf Liebe und Mitgefühl aus, veränderte sich mein Gemütszustand grundlegend. Die Bilder vom Leid dieser Kinder waren noch immer so präsent und stark, doch anstatt in mir ein kaum aushaltbares Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht zu generieren, fühlte ich jetzt einen starken Mut, verbunden mit grenzenloser Liebe zu diesen Kindern.
Indem ich jetzt über das Thema Mitgefühl meditierte, öffneten sich die Schleusen der Liebe und des Mitgefühls für die Leiden dieser Kinder in mir. Jedes Atom von Leid wurde durch ein Atom von Liebe ersetzt. Die Distanz zwischen ihnen und mir wich. Anstatt nicht mehr zu wissen, wie ich mich diesem so zerbrechlichen Kind nähern sollte, das beim geringsten Kontakt vor Schmerzen aufstöhnte, oder der blutüberströmten Person, nahm ich sie geistig in den Arm, wiegte sie mit Sanftheit und Zuneigung. Ich war überzeugt, dass ich diesen Kindern in einer realen Situation mit Zärtlichkeit begegnet wäre, die sie trösten konnte.
Manche werden vielleicht sagen, dass darin nichts Altruistisches sei und dass der Meditierende sich selbst Gutes tut, indem er seine Hilflosigkeit überwindet. Darauf kann man zunächst einmal antworten, dass nichts Schlechtes daran sei, wenn sich der Meditierende von den Symptomen der Hilflosigkeit befreit, die eine lähmende Wirkung haben, und die dazu führen, dass er, zu Lasten einer aufmerksamen Anteilnahme gegenüber den Leidenden, nur noch in der Lage ist, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Zweitens, und das ist das Wichtigste, haben Gefühle und Geisteszustände unwiderlegbar eine ansteckende Wirkung. Wenn ein Mensch in der Nähe einer leidenden Person Angst empfindet, dann kann das die geistige Missstimmung des Leidenden verschlimmern. Umgekehrt, wenn die zu Hilfe kommende Person liebevolle Gefühle ausstrahlt, dann wirkt sie beruhigend, und wenn sie zugewandt ist, dann wird die leidende Person Tröstung aus diesem Verhalten erfahren. Und schließlich, wenn sich Mitgefühl und Anteilnahme entwickeln können, dann führt dies auch zur seelischen Bereitschaft und dem Willen, dem Anderen zu helfen. Mitgefühl und altruistische Liebe sind also geprägt von einer Herzlichkeit, Liebe und einer positiven Einstellung, die das Gefühl von Empathie allein angesichts des Leidens anderer Menschen nicht leisten kann.
Kommen wir zurück zu meiner persönlichen Meditationserfahrung: Ich erlebte, dass Empathie an eine Grenze stößt, nämlich die des Burnouts, und umgekehrt, dass Liebe und Mitgefühl grenzenlos vorhanden sind. Diese Geisteszustände stärkten zugleich meinen Mut, statt ihn zu untergraben, und meinen Willen, anderen zu helfen, anstatt Hilflosigkeit zu generieren. Ich war weiterhin mit dem Leid konfrontiert, aber Liebe und Mitgefühl verliehen mir eine konstruktive Stärke, sodass ich dem Leid der anderen besser begegnen konnte und meine Hilfsbereitschaft und mein Willen dadurch gestärkt wurden. Es war für mich also klar, dass es eine „Ermüdung“ der Empathie gibt, die zu einer emotionalen Erschöpfung und zum Burnout führt, jedoch keine Ermüdung der Liebe und des Mitgefühls.
Nach der ausgiebigen Analyse der Daten erklärte mir Tania, dass die Stimmungsumschwünge in meinem Erleben von deutlichen Änderungen in der Aktivität bestimmter Hirnareale begleitet waren. Diese Änderungen betrafen hauptsächlich die vordere Inselrinde und die Gürtelwindung, die bei Empathie aktiviert werden. Das Team stellte insbesondere fest, dass bestimmte Regionen des Gehirns, die normalerweise bei positiven Empfindungen stimuliert werden, in Momenten des Mitgefühls aktiver waren als bei der reinen Empathie. Diese Forschungen werden heute weiter vorangetrieben, und es gibt ständig neue wissenschaftliche Publikationen dazu.⁵
Durch Kombination einer präzisen introspektiven Untersuchung mit MRT-Datenanalysen wird der sogenannte instruktive Ansatz „in der ersten Person“, nämlich der des Meditierenden, mit dem Ansatz „in der dritten Person“, dem des Forschers, zusammengebracht. Hieraus lassen sich die Vorteile einer solchen Zusammenarbeit zwischen geübten Meditierenden und Forschern für die Forschung erkennen.
Tania Singer und ihre Kolleginnen haben seitdem eine Längsschnittstudie⁶ durchgeführt, das Projekt mit Namen „ReSource“, bei dem eine Gruppe von ungeübten Probanden ein Jahr lang in vielen affektiven und kognitiven Fähigkeiten, u. a. zu den mentalen Fähigkeiten der Empathie und des Mitgefühls, trainiert wird.⁷
Bevor ein so großes Projekt initiiert werden konnte, führten die Forscher, immer über den Zeitraum von einer Woche, mehrere Schulungsprogramme für Meditationsanfänger durch, die über altruistische Liebe und Empathie meditierten. Diese Vorstudie konnte bereits aufzeigen, dass die meisten Empathie beim Anblick des Leids eines anderen Menschen empfinden können und dass dieses Leid systematisch mit ausschließlich negativen Gefühlen wie Schmerz, Hilflosigkeit, Ängstigung und Entmutigung verbunden wird. Die neuronale „Signatur“ der Empathie ähnelt der von negativen Empfindungen. Allgemein ist bekannt, dass der bei Empathie mit dem Schmerz eines Anderen aktivierte Bereich des neuronalen Netzes (vordere Inselregion und Gürtelwindung), auch bei eigenem Schmerzerleben reagiert.
Tania Singer und ihre Kolleginnen haben etwa 100 Themen auf zwei Gruppen aufgeteilt. Eine Gruppe meditierte über Liebe und Mitgefühl, eine andere über Empathie. Die ersten Ergebnisse zeigten am Ende einer Meditationswoche über altruistische Liebe und Mitgefühl, dass die Probanden eine sehr viel positivere und liebevollere Wahrnehmung bei Videoauszügen mit leidenden Menschen zeigten. „Positiv“ bedeutet aber nicht, dass die Probanden das Leiden als annehmbar empfanden, sondern dass sie mit konstruktiven Geisteszuständen wie Mut, mütterlicher Liebe und Hilfsbereitschaft reagierten und nicht mit negativen Geisteszuständen, wie Hilflosigkeit, Abwehr, Entmutigung und Vermeidung.⁸
Darüber hinaus wurde Empathie nicht mehr systematisch mit einer negativen und störenden Wahrnehmung fremden Leids verbunden. Diese Veränderung wurde auf die Tatsache zurückgeführt, dass die Probanden zugewandte Empfindungen für den Nächsten für alle Situationen geübt hatten. Sie waren so in der Lage, dem Anderen in einer schwierigen Situation mit Liebe und Mitgefühl zu begegnen und Resilienz angesichts des Leidens des Anderen zu entwickeln. Normalerweise findet Resilienz beim Patienten statt; nach der Definition von Boris Cyrulnik handelt es sich dabei um die Fähigkeit zu überleben und ein Trauma zu überwinden, indem innere Ressourcen aktiviert werden.⁹ Unter Resilienz verstehen wir hier, die Fähigkeit des Probanden, sein ursprüngliches Hilflosigkeitsgefühl zu überwinden und es durch aktive Anteilnahme und Mitgefühl zu ersetzen. Die Daten der gemessenen Hirnaktivitäten bei den Probanden haben ebenfalls gezeigt, dass das Areal des neuronalen Netzes für das Verbundenheitsgefühl und das Mitgefühl aktiviert war, was in der Gruppe, die nur über Empathie meditierte, nicht der Fall war.
Wenn die Probanden hingegen eine Woche lang nur Empathie einübten und in affektive Resonanz mit dem Leid anderer traten, verbanden sie Empathie weiterhin mit negativen Werten und zeigten eine gesteigerte Wahrnehmung des Leids, die manchmal sogar so heftig wurde, dass sie ihre Gefühle und Tränen nicht mehr zurückhalten konnten. Bei diesen Probanden verstärkten sich negative Gefühlsregungen bei Videos mit Leidensszenen. Diese Probandengruppe zeigte auch mehr negative Empfindungen beim Anblick normaler Alltagsszenen, was darauf schließen lässt, dass die Einübung empathischer Resonanz die Sensibilität für negative Affekte in normalen Situationen steigert. Manche Probanden gaben an, dass sie mehr Empathie für all jene empfinden, denen sie im Alltag begegnen, unabhängig davon ob sie die Menschen kennen oder nicht. Eine der Teilnehmerinnen sagte, dass sie, wenn sie morgens in die Straßenbahn stieg, anfing in den Menschen um sich herum überall Leid zu sehen.¹⁰
Tania Singer und Olga Klimecki setzten daraufhin, um eine mögliche Destabilisierung durch diese Übungen zu vermeiden, täglich eine weitere Übungsstunde zur altruistischen Liebe jeweils nach der Übungsstunde für Empathie auf das Programm. Sie beobachteten daraufhin, dass diese Zusatzstunde ein Gegengewicht zu den negativen Auswirkungen der Empathiestunden bot: Die negativen Effekte sanken auf ihr Anfangsniveau zurück und die positiven Affekte nahmen zu. Diese Ergebnisse brachten ebenfalls entsprechende Veränderungen in den jeweiligen mit Mitgefühl und positiven Affekten sowie mit mütterlicher Liebe verbundenen Hirnarealen hervor.¹¹ Darüber hinaus konnten die Forscher aufzeigen, dass nach einer Trainingswoche zur Einübung des Mitgefühls in einem virtuellen Spiel, das speziell für die Messung von Hilfsbereitschaft konzipiert worden war, die prosozialen Verhaltensweisen zunahmen. Eine Übungswoche zum Gedächtnistraining erbrachte hingegen keine Veränderungen in den prosozialen Verhaltensweisen.¹²
Dieses Phänomen wurde im wissenschaftlichen Labor von Richard Davidson in Madison in Wisconsin von dem französischen Forscher Antoine Lutz und seinen Kollegen ebenfalls untersucht. Sie konnten nachweisen, dass bei sechszehn geübten Meditierenden im Geisteszustand des Mitgefühls beim Hören von aufgezeichneten Stimmen, die Hilflosigkeit ausdrückten, Areale aktiviert wurden, die bei der Mutterliebe und Zugehörigkeitsgefühlen beteiligt sind - wie der mittlere Bereich der Inselregion (und nicht der vordere wie beim Schmerz) – ebenso Areale, die der „Theory of Mind“ zugeordnet sind. Bei Meditationsanfängern war dies nicht der Fall.¹³ Diese Beobachtungen bestätigten die Tatsache, dass geübte Meditierende sensibler und empfindsamer für das Leiden anderer sind, jedoch dabei nicht mit steigender Hilflosigkeit reagieren, sondern mit Anteilnahme, und dass diese Seelenzustände „eingeübt“ werden können.
Empathie durchdrungen von Mitgefühl
Kürzlich sprach ich mit einer Krankenschwester, die wie die meisten ihrer Kolleginnen ständig mit dem Leid und den Problemen ihrer Patienten konfrontiert wird. Sie erzählte, dass in aktuellen Schulungsmaßnahmen für das Pflegepersonal mehr und mehr auf die emotionale Distanz gegenüber Kranken hingearbeitet wird, um dem Burnout vorzubeugen, der bei Mitarbeitern im Gesundheitswesen häufig auftritt. Diese sehr herzliche Frau mit warmer, beruhigender Ausstrahlung vertraute mir noch an: „Es ist seltsam, ich habe das Gefühl etwas zu gewinnen, wenn ich mich um die Leidenden kümmere, aber wenn ich meinen Kolleginnen von diesem Gewinn erzähle, fühle ich mich schuldig, etwas Positives dabei zu empfinden.“ Ich beschrieb ihr kurz die Unterschiede, die es offenbar zwischen Mitgefühl und empathischer Hilflosigkeit gibt. Dieser Unterschied entsprach ihrer Erfahrung und zeigte ihr, dass sie keinerlei Grund hatte, sich schuldig zu fühlen. Im Gegensatz zur praktischen Hilflosigkeit sind Liebe und Mitgefühl positive Geisteszustände, die innere Kraft im Umgang mit fremdem Leid mobilisieren.
Wenn ein Kind ins Krankenhaus kommt, wird eine liebende Mutter an seiner Seite, die ihm die Hand hält und es mit liebevollen Worten tröstet, sicherlich hilfreicher sein, als eine verängstigte Mutter, die von empathischer Hilflosigkeit überwältigt ist und den Anblick ihres kranken Kindes nicht mehr ertragen kann und deshalb im Gang auf und ab läuft. Von meinen Erklärungen bestärkt, sagte diese freundliche Krankenschwester noch, dass sich diese Betrachtungsweise, trotz gelegentlich aufkommender Skrupel, mit ihren Erfahrungen in der Pflege decke.
In Anbetracht dieser vorläufigen Untersuchungsergebnisse erweist es sich als sinnvoll, altruistische Liebe und Mitgefühl mit Menschen einzuüben, die täglich leidende Patienten pflegen. Eine solche Ausbildung könnte ebenfalls Angehörigen helfen (Eltern, Kindern, Ehegatten), die sich um kranke oder behinderte Menschen kümmern. Altruistische Liebe schafft in uns einen positiven Raum, der wie ein Gegenmittel gegen empathische Hilflosigkeit wirkt und verhindert, dass sich affektive Resonanz so verstärkt, dass sie lähmt und Merkmale emotionaler Erschöpfung wie beim Burnout hervorruft. Ohne den Anteil der Liebe und des Mitgefühls wirkt Empathie für sich allein wie eine elektrische Pumpe, in der das Wasser nicht mehr zirkuliert: Sie läuft schnell heiß und fängt an zu brennen. Empathie muss also ihren Platz in dem viel weiteren Raum der altruistischen Liebe finden. Der kognitive Aspekt des Mitgefühls, d. h. das Verständnis der verschiedenen Leidensgrade und ihrer offensichtlichen oder latenten Ursachen, muss ebenfalls berücksichtigt werden. So können wir uns in den Dienst anderer stellen, ihnen wirksam helfen und uns zugleich unsere innere Kraft, unsere Anteilnahme und unseren inneren Frieden bewahren. Christophe André beschrieb es einmal so: „Wir alle brauchen Sanftmut und die Kraft des Mitgefühls. Je klarer man auf diese Welt schaut, desto deutlicher wird einem diese Tatsache bewusst: Ohne diese Kraft, ohne diese Milde können wir all dem Leid, dem wir in einem Menschenleben begegnen, nicht standhalten.“¹⁴ ■
Fußnoten
[1] Für eine Zusammenfassung von 32 Studien über Empathie beim Sehen von Schmerz s. Lamm, C. / Decety, J. / Singer, T. (2011): Meta-analytic evidence for common and distinct neural networks associated with directly experienced pain and empathy for pain. In: Neuroimage, 54(3), 2492-2502.
[2] Dass über das Mitgefühl eine positive Reaktion verstärkt wird, hängt mit einer Aktivierung verschiedener Hirnareale zusammen, darunter des medialen orbitofrontalen Cortex, des ventralen Striatums, des ventralen tegmentalen Axeals, des Kerns des Hirnstamms, des Nucleus accumbens, der medialen Inselrinde, des Pallidums und des Putamens, also der Hirnareale, die bereits mit der Liebe (insbesondere der Mutterliebe), dem Gefühl der Verbundenheit und der Zuwendung in Verbindung gebracht wurden. Im Fall der Empathie sind vordere Inselrinde und mediale Gürtelwindung beteiligt. Klimecki, O. M. et al. (2012): a. a. O.; Klimecki, O. / Ricard, M. / Singer, T. (2013): a. a. O.
[3] Felton, J. S. (1998): Burnout as a clinical entity — its importance in health care workers. In: Occupational medicine, 48(4), 237-250.
[4] Für eine neuronale Unterscheidung zwischen Ermüdung des Mitgefühls und Ermüdung der Empathie s. Klimecki, O. / Singer, T. (2011); Empathie distress fatigue rather than compassion fatigue? Integrating findings from empathy research in psychology and social neuroscience. In: Oakley, B. / Knafo, A. / Madhavan, G. / Wilson, D. S.: Pathological Altruism, Oxford University Press, USA, 2011, S. 368-383.
[5] Singer, Tania / Bolz, Matthias (Hrsg.) (2013): a. a. O.; Klimecki, O. / Ricard, M. / Singer, T. (2013): a. a. O. Die jüngste Publikation dazu ist: Klimecki, O. M. / Leiberg, S. / Ricard, M. / Singer, T. (2013): Differential Pattern of Functional Brain Plasticity after Compassion and Empathy Training. In Social Cognitive and Affective Neuroscience.
[6] Dieser Ausdruck bezeichnet eine Studie, die über Monate ja sogar Jahre die Entwicklung von Probanden untersucht. Bornemann, B., & Singer, T. (2013). „The ReSource study training protocol“, in T. Singer, & M. Bolz (Hrsg.) Compassion: Bridging Practice and Science. A multimedia book [E-book].
[7] Bornemann, Boris / Singer, Tania (2013): Das ReSource-Trainingsprotokoll. In: Singer, Tania / Bolz, Matthias (Hrsg.): Mitgefühl: In Alltag und Forschung, Max Planck Society, Munich, 2013 [E-book].
[8] Klimecki, O. M. et al. (2012): a. a. O.
[9] Cyrulnik, Boris / Jorland, Gérard: Résilience: Connaissances de base [Resilienz: Grundwissen], Éditions Odile Jacob, 2012.
[10] Die Wissenschaftler beobachteten, dass bei der Einübung empathischer Resonanz die Aktivität in einem neuronalen Netz erhöht wird, das auch bei der Empathie fiir den Schmerz anderer und bei der Wahrnehmung von eigenem Schmerz eine Rolle spielt. Zu diesem Netz gehören die vordere Inselrinde und die mediale Gürtelwindung. Singer, Tania / Bolz, Matthias (Hrsg.) (2013): a. a. O.
[11] Konkret gehören zu diesen Hirnarealen der orbitofrontale Cortex, das ventrale Striatum und die vordere Gürtelwindung. Im Rahmen des Seminars fanden Lerneinheiten zum Konzept metta statt, was auf Pali „altruistische Liebe“ bedeutet. Die den Teilnehmenden vermittelten Inhalte konzentrierten sich hauptsächlich auf den Aspekt der Zugewandtheit und der wohlwollenden Wünsche („Mögen Sie glücklich, gesund, usw. sein.“). Die Seminartage fanden unter Anleitung einer Lehrkraft statt, abends gab es jeweils eine Stunde praktische Übung in der Gruppe. Darüber hinaus wurden die Teilnehmenden aufgefordert, zu Hause zu üben.
[12] Klimecki, O. M. et al. (2012): a. a. O.
[13] Lutz, A. / Brefczynski-Lewis, J. / Johnstone, T. / Davidson, R. J. (2008): Regulation of the neural circuitry of emotion by compassion meditation: effects of meditative expertise. In: PLoS One, 3(3), el 897.
[14] André, Christophe (2010): a. a. O., S. 353.