Die China-Lobby
von Klemens Ludwig
Brennpunkt Tibet 03/2012
Der Dalai Lama hat in den letzten Wochen wieder einmal die Schlagzeilen beherrscht. Das ist an sich nichts Besonderes, doch der Anlass war diesmal ungewöhnlich. Es ging um vermeintliche Enthüllungen über seine Rolle in dem von der CIA unterstützten tibetischen Guerillakampf gegen die Volksrepublik China. Chushi Gangdruk nannte sich die Truppe, die China von 1956 bis 1974 gewaltsamen Widerstand geleistet hat, die letzten 15 Jahre vom nepalischen Mustang aus. Es waren Chushi Gangdruk-Einheiten, die die Flucht des Dalai Lama begleitet und vermutlich erst ermöglicht haben. Insofern sind diese Verbindungen schon lange bekannt und vor allem im englischsprachigen Bereich gut dokumentiert. Auch die TID hat mit ihrem Sonderheft »Widerstand« 2009 über den bewaffneten Widerstand berichtet.
Ungeachtet der vorliegenden Informationen präsentierten die Süddeutsche Zeitung (SZ), die Financial Times Deutschland sowie das Fernsehmagazin Panorama zeitgleich eine große Geschichte, die neue Details über die Rolle des Dalai Lama und der CIA versprach. Besonders weit wagte sich dabei die SZ vor. Sie suggerierte mit ihren Bildern und Bildunterschriften eine besondere Nähe des Dalai Lama zu den Kämpfern. Dabei war der Dalai Lama allein während der Flucht den Kämpfern – zwangsläufig – nahe. Ansonsten hatte er unmittelbar nichts mit ihnen zu tun. Die Aufmachung der SZ erweckt den Eindruck, als sei der Dalai Lama generell nah mit dem bewaffneten Widerstand in Kontakt gewesen. Dies wird nirgends belegt, und die Informationen gehen an keinem Punkt über die oben genannten Quellen hinaus.
Die Aufmachung der SZ erweckt den Eindruck, als sei der Dalai Lama generell nah mit dem bewaffneten Widerstand in Kontakt gewesen.
Dennoch waren die Ankündigungen so spektakulär, dass auch internationale Medien in England, Frankreich und Italien das Thema aufgriffen. Schließlich berichtete auch die staatliche chinesische Presse mit offenkundigem Gefallen über die angeblichen Enthüllungen und kommentierte: »Die Medien deckten auch die Beziehungen zwischen dem 14. Dalai Lama und der CIA auf und stellten den sogenannten friedlichen Weg infrage, den der Dalai Lama immer für sich beansprucht.« (China Tibet Online, 21. 06. 2012).
Die CIA und der Krieg
Nach der Besetzung Tibets 1950/51 und der durch das 17-Punkte Abkommen erzwungenen Annexion trat die sogenannte Volksbefreiungsarmee in Zentral-Tibet zunächst zurückhaltend auf. In Kham (Südost-Tibet) dagegen kam es schon früh zu Auseinandersetzungen, weil Kader der Kommunistischen Partei (KP) tibetische Kinder zur Indoktrination nach China entführten und jeden Widerstand dagegen brutal bekämpften.
In dieser Situation gelang es dem charismatischen Gompo Tashi Andrugtsang, einem weit gereisten und außergewöhnlich gebildeten Händler aus Batang, die unkoordinierten Kämpfer zu einer gut organisierten und schlagkräftigen Truppe zu vereinen. »Freiwilligenarmee zum Schutz des Buddhismus« nannte sich die Bewegung zunächst, dann änderte sie den Namen in Chushi Gangdruk, auf Deutsch »Vier Flüsse, sechs Gebirge« – die Grenzen von Kham; und so signalisierte die Bezeichnung, dass alle in den Widerstand einbezogen waren.
Der Chushi Gangdruk wurde bald klar, dass sie auf Verbündete angewiesen war, wenn sie die übermächtige Volksbefreiungsarmee besiegen wollte.
Über die bereits im Exil lebenden älteren Brüder des Dalai Lama, Thubten Jigme Norbu und Gyalo Thundop – die über gute Beziehungen zur US-Administration verfügten – nahm Gompo Tashi Kontakt zur CIA auf und stieß dabei auf offene Ohren. Der tibetische Guerillakampf erschien den amerikanischen Strategen als Chance, die Volksrepublik China zu destabilisieren.
1957 begann das geheime Ausbildungsprogramm, und bis Mitte der 1960er Jahre unterliefen etwa 2.500 junge Tibeter auf Saipan und Guam sowie in Camp Hale, Colorado, eine militärische Ausbildung, 16.000 in den Nachbarstaaten Tibets. Zudem warfen CIA-Agenten 400 Tonnen Waffen, Munition und technische Geräte über den Gebieten ab, in denen sich die Chushi Gangdruk aufhielt. Nach der Annäherung an China unter der Nixon/Kissinger-Administration beendet die CIA das Programm. 1974 legten die letzten Chushi Gangdruk-Kämpfer die Waffen nieder; nicht zuletzt aufgrund eines entschiedenen Appells des Dalai Lama.
Keine Verleugnung der Geschichte
Wie wenig Interesse die CIA-Führung am tibetischen Freiheitskampf hatte, beleuchtet ein Erlebnis des Agenten John Greaney. Er sollte 1957 dem CIA-Direktor Allen Welsh Dulles über die Aktivitäten in Tibet berichten. Hinter Dulles hing eine Weltkarte. Der CIA-Chef ging dorthin und fragte seinen Agenten: »Also, wo liegt Tibet?« Dabei zeigte er mit dem Finger auf die Karte und fragte: »Ist das Tibet?« Es war Ungarn, wo ein Jahr zuvor ein Aufstand gegen die kommunistische Herrschaft stattgefunden hatte.
Für die tibetische Elite, den Dalai Lama eingeschlossen, nimmt dieses Kapitel ihrer jüngeren Geschichte eine untergeordnete Rolle ein, und der Dalai Lama sollte nicht von »60 Jahren strikt gewaltfreiem Widerstand« sprechen. Geleugnet hat er den Guerillakampf jedoch nie: »Ich wusste natürlich, dass es da eine Bewegung gab, die zu Gewalt griff. Aber sie hatte keine andere Wahl. Zunächst wehrten sich die Menschen gegen die wirklichkeitsfremden chinesischen Reformen. Die Chinesen reagierten mit Verhaftungen. Dann griffen meine Landsleute zu den Gewehren. Das entspricht dem buddhistischen Gesetz von Ursache und Wirkung: Etwas geschieht, und es hat Auswirkungen. In diesem Fall begannen die Chinesen, alle Waffen einzusammeln, und die Tibeter hatten nur die Wahl, die Waffen abzugeben oder sie einzusetzen. Sie haben sie nicht abgegeben, und es ist sehr schwer, sie dafür zu verurteilen.«
Ich wusste natürlich, dass es da eine Bewegung gab, die zu Gewalt griff. Aber sie hatte keine andere Wahl.Dalai Lama
Angesichts derartiger Äußerungen fragt man sich, was mit solchen »Enthüllungen« bezweckt werden soll? Niemand zweifelt die moralische Autorität von Nelson Mandela an, obwohl auch der ANC (African National Congress) nicht nur friedlich gegen das Apartheid-System in Südafrika gekämpft hat. Persönlichkeiten wie Jassir Arafat oder Ho Chi Min gelten nicht nur als bedeutende politische Führer, sondern auch als moralische Instanzen, dabei waren sie persönlich weit tiefer in den gewaltsamen Befreiungskampf ihrer Völker involviert als der Dalai Lama.
Hätten es die heutigen »Enthüllungsjournalisten« den Tibetern hoch angerechnet, wenn sie sich mit blanken Fäusten gegen die waffenstarrende und kriegserfahrene Volksbefreiungsarmee zur Wehr gesetzt hätten?
Der kräftige Applaus von offizieller chinesischer Seite für diese Berichterstattung macht deutlich, wessen Spiel hier gespielt wird. Die chinesische Regierung fühlt sich in ihrer Diffamierung des Dalai Lama bestärkt und wird entschiedener denn je alle Dialog- und Verhandlungsangebote zur Lösung der Tibet-Frage zurückweisen.
Die Mission des Helmut Schmidt
Nicht nur in den Medien findet die Volksrepublik China starke Fürsprecher. Auch in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft übernehmen zahlreiche prominente Stimmen die chinesischen Positionen; und da China in der Tibet-Frage besonders am Pranger steht, wird gerade in diesem Punkt die Deutungshoheit reklamiert. Die zweifellos prominenteste Stimme in diesem Chor ist Altbundeskanzler Helmut Schmidt, über den der Kritiker Ralf Huismann einmal gewitzelt hat: »Er hat mehr recht als der liebe Gott.«
Als sich 2008 die Menschen in Tibet gegen die chinesische Herrschaft erhoben, und die Weltöffentlichkeit über die Brutalität der Sicherheitskräfte schockiert war, hat kaum jemand das chinesische Vorgehen so vehement verteidigt wie Helmut Schmidt.
In seinem Hausblatt »DIE ZEIT« vom 15. Mai 2008 verglich er das alte Tibet mit dem heutigen Iran, was schon deshalb absurd ist, weil es im alten Tibet keine zentrale Macht gab, die eine religiöse Diktatur hätte durchsetzen können. Die verschiedenen buddhistischen Schulen mutierten zu »Sekten«. Dagegen haben die Kommunisten »moderne Technologie und Infrastruktur« nach Tibet gebracht, »damit die Mönche heute per Handy und Internet mit der Außenwelt verbunden sind«. Letzteres ist zwar nicht ganz von der Hand zu weisen, aber der tibetischen Führung bis 1951 kann man schlecht vorwerfen, dass es keine Handys und kein Internet in Tibet gab. Und im Exil hielten diese Medien auch ohne chinesische Besetzung Einzug.
Derartige Modernisierungen in Tibet herauszustellen, ist angesichts einer allgegenwärtigen Internet-Polizei, die jeden identifiziert und verhaftet, der auf eine verbotene Webseite geht, eine mehr als zynische Sicht. Und Helmut Schmidt geizt nicht mit Ratschlägen: »Unserer Regierung ist Abstand und Respekt anzuraten – vor China und vor jeder Religion«.
Derartige Modernisierungen in Tibet herauszustellen, ist angesichts einer allgegenwärtigen Internet-Polizei eine mehr als zynische Sicht.
Nicht alle hören auf ihn. Ausgerechnet die Bundesregierung zeigte als eine der wenigen in Europa, Rückgrat, sich zu den tragischen Selbstverbrennungen in Tibet zu äußern, in denen sie einen »Ausdruck einer religiösen Verzweiflung und einer anhaltend tiefen Unzufriedenheit in Teilen der tibetischen Bevölkerung mit China« sieht.
Helmut Schmidts Berater in Sachen China und Tibet ist der Politologe Prof. Eberhard Sandschneider, Forschungsdirektor bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Unter dem Eindruck des Volksaufstands in Tibet wurde er am 18. März 2008 zu einem Tagesschau-Chat eingeladen. Bei der Gelegenheit erhielt er eine besonders passende Steilvorlage, um seine Position zur Tibet-Frage deutlich zu machen: »Welche Reaktion würden Sie der deutschen Bundesregierung empfehlen, wenn die Volksrepublik China gewalttätige Demonstrationen in Deutschland für eine Unabhängigkeit – sagen wir Bayerns – unterstützten würde?«
Ein Kommentar zum Vergleich von Tibet mit Bayern erübrigt sich. Die Frage wäre allenfalls, welcher Staat den Volksaufstand der Tibeter unterstützt hätte. Das jedoch beschäftigt Sandschneider nicht. Er nutzte seine Chance: »Im Zweifelsfall dieselbe Reaktion, die auch China zeigt.« Die deutsche Bundesregierung müsste sich mit allem Nachdruck eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Chinas verbieten. Und weiter: »Im Übrigen ist Ihr Hinweis durchaus berechtigt: Wenn es am 1. Mai in Kreuzberg randalierende Demonstranten gibt, die Schaufenster einschlagen und Autos anzünden, greift auch in Deutschland die Staatsgewalt mit aller Konsequenz durch. Ihre Frage ist insofern hilfreich, als dass sie zeigt, wie wichtig es ist, nicht nur besserwisserisch nach China zu schauen, sondern gelegentlich auch mal in den eigenen Spiegel.«
Unverblümter und simpler kann man die Position der KP Chinas nicht wiedergeben: Tibet ist ein Problem der inneren Sicherheit, ausgelöst von ein paar Randalierern, und China geht dagegen nicht anders vor als andere Staaten auch.
Dabei weist der Forschungsdirektor Simplifizierungen weit von sich. An anderer Stelle im gleichen Diskussionsforum erklärte er: »Wir haben gelegentlich im Westen die Neigung, hochkomplexe, schwierige Zusammenhänge in China auf einfache Perspektiven zu reduzieren. Der freundlich lächelnde Dalai Lama ist dafür ein ausgesprochen geeigneter Sympathieträger.«
Einmischung in innere Angelegenheiten?
Die von Eberhard Sandschneider und Helmut Schmidt immer wieder kritisierte »Einmischung in innere Angelegenheiten« ignoriert, dass Völkerrechtler darunter in erster Linie ein Interventionsverbot verstehen, sofern es nicht ausdrücklich von der UNO gebilligt ist. Umstritten ist die Frage nach humanitären Interventionen wie seinerzeit auf dem Balkan. So etwas stand aber in Sachen Tibet niemals zur Debatte. Kritik an der Verletzung von Menschenrechten gilt nicht als »Einmischung in innere Angelegenheiten« und wird nur von den kritisierten totalitären Regierungen als solche verstanden – oder von deren Freunden.
Dabei sollte ein kluger Kopf wie Helmut Schmidt die ganze Doppelmoral dieser Argumentation durchschauen: Gerade die Volksrepublik China betreibt selbst eine massive Einmischung in innere Angelegenheiten, wenn es ihren Interessen dient: in Nepal, in Myanmar, in vielen afrikanischen Staaten.
Unter Sinologen und China-orientierten Politologen ist es die Regel, die Position Chinas in der Tibet-Frage zu vertreten. Darauf im Einzelnen einzugehen, würde hier den Rahmen sprengen.
Hervorgehoben werden soll exemplarisch nur noch ein publizistisch ebenfalls sehr rühriger und einflussreicher Vertreter, Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer, Direktor der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel und langjähriger Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Chinastudien. Ebenfalls unter dem Eindruck des Volksaufstands von 2008 schrieb er in einem Aufsatz für die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW): »Tatsächlich ist Tibet kein souveräner Staat, der annektiert worden wäre, sondern Teil des Vielvölkerreichs China. Das Recht der Tibeter auf Erhaltung ihrer kulturellen Identität im Vielvölkerreich China aber wird keiner bestreiten […] Die Forderung aber nach einem weitgehend freien Großtibet hat mehr als alles andere dazu beigetragen, die politische Unterdrückung und die Sinisierungspolitik zu befördern.«
Die Forderung aber nach einem weitgehend freien Großtibet hat mehr als alles andere dazu beigetragen, die politische Unterdrückung zu befördern.Helwig Schmidt-Glintzer
Opfer, die aufbegehren, so unmissverständlich für ihre Unterdrückung verantwortlich zu machen, ist bemerkenswert. Ebenso wie die Tatsache, dass Schmidt-Glintzer als Experte für die chinesische Geschichte gilt. Die völkerrechtlichen Studien zum Status Tibets scheint er komplett ignoriert zu haben. Und wenn aus historischen Herrschaftsstrukturen gegenwärtige Machtansprüche abgeleitet werden können, hätten in Europa Staaten wie Italien, Frankreich, Russland, Österreich oder die Türkei das Recht auf ihrer Seite, äußerst großzügig ihre Nachbarn zu annektieren, denn sie waren schließlich einmal große Reiche – wie China.
Eine wichtige Rolle spielen auch die Konfuzius-Institute, die von chinesischer Seite mit lokalen Partnern unterhalten werden. Der ehemalige chinesische Botschafter in Deutschland, Lu Qiutian, hat diese Bewegung im November 2004 in Korea initiiert. Inzwischen gibt es über 300 Institute in 82 Staaten. Offiziell dienen sie in erster Linie dem chinesischen Sprachunterricht, tatsächlich jedoch nimmt Peking darüber massiven Einfluss auf die öffentliche Meinung, zum Beispiel in der Tibet-Frage. Die Institute laden konforme Tibeter oder chinesische Tibetologen ein, um der Kritik an Tibet entgegenzuwirken.
Ein »Überzeugungstäter«
Eine besondere Rolle unter den China-Lobbyisten spielt der Münchner Guntram »Colin« Goldner, ein gelernter Erzieher mit Zusatzstudium in Psychologie, der gern als »Wissenschaftsjournalist« auftritt – in Online-Foren, Kleinverlagen und Zeitungen wie »Junge Welt«, dem ehemaligen Zentralorgan der Freien Deutschen Jugend (FDJ) der DDR.
Goldner gehört darüber hinaus dem wissenschaftlichen Beirat des »Internationalen Bundes der Konfessionslosen und Atheisten« an. Einen gewissen Einfluss übt er aufgrund einer intensiven Vortragstätigkeit auf junge, politisch engagierte Menschen aus, die wenig über Tibet wissen, aber eine gesunde Skepsis gegenüber religiösen Autoritäten mitbringen und spirituell geprägte Gesellschaften automatisch für repressiv halten.
Der Dalai Lama und das alte Tibet zur Zeit der Unabhängigkeit sind in besonderer Weise Gegenstand seiner Veröffentlichungen, und er sieht sich dabei als Aufklärer. Über seine Motivation sagte er in einem Interview: »Es ging um die Indoktrination mit all den Okkultismen und Wahnvorstellungen, den blutrünstigen Teufeln, Monstern und Dämonen, von denen der tibetische Buddhismus durchzogen ist. Dies ist Teil der menschenverachtenden Dressur, dem der Mönchsnachwuchs im ›alten Tibet‹ ausgesetzt war: Kinder wurden schon ab drei oder vier Jahren für die Klöster rekrutiert. In der extrem repressiven, von alten bis uralten Männern dominierten Mönchskultur der tibetischen Klöster wurden systematisch geistes- und seelenverkrüppelte Menschen herangezüchtet. Meine Kritik richtet sich gegen den tibetischen Klerus, der im indischen Exil seine Praktiken weitgehend unverändert fortführt. In Tibet selbst ist die Rekrutierung von Kleinkindern seit den 1960ern verboten, was der Dalai Lama als gezielte Vernichtung der Mönchskultur durch die chinesischen Kommunisten geißelt.«
Den Dalai Lama charakterisiert er in dem gleichen Interview wie folgt: »Nach wie vor gilt er als Symbolfigur für Friedfertigkeit, Güte und in unendlicher Weisheit ruhender Gelassenheit. Derlei verklärende Sicht ist reine Projektion. Dass der Dalai Lama nichts anderes ist als eine Randfigur im Propaganda-Schach der Großmächte, will man ebenso wenig wahrhaben wie die Tatsache, dass er als oberster Repräsentant des ›alten Tibet‹ einem der blutsaugerischsten Herrschaftssysteme vorstand, die es je auf diesem Planeten gab – einer theokratischen Mönchsdiktatur, in der die große Mehrheit der Bevölkerung in unvorstellbarer Armut und bitterstem Elend lebte, unterdrückt und ausgebeutet von einer winzigen Schicht aus Adel und hohem Klerus.«
Goldner stützt sich bei seinen Veröffentlichungen weitgehend auf chinesisches oder nicht-chinesische kommunistische Quellen wie Alan Winnington, Stuart & Roma Gelder, Anna Louise Strong. Letztere haben Tibet nach der chinesischen Besetzung als verlässliche ideologische Freunde bereist. Unabhängige Augenzeugen des alten Tibet, vor allem britische Händler, Gesandte oder Abenteurer, die deutlich machen, dass dieses System sehr viel differenzierter und weit weniger repressiv war als dargestellt, werden von Goldner – und all den anderen China-Freunden – nicht zur Kenntnis genommen.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung attestiert Goldner, er »polemisiert nicht nur respektlos, sondern beleidigend. Er ist besessen von der Vorstellung, er müsse einem möglichst großen Publikum unbedingt die Augen öffnen. … Schwarzmalerei in dieser Menge und in so herabsetzendem, verletzendem Jargon gibt es nicht alle Tage« (FAZ, 14. März 2000).
Schwarzmalerei in dieser Menge und in so herabsetzendem, verletzendem Jargon gibt es nicht alle Tage.FAZ
In den letzten Jahren hat er immer wieder versucht, die österreichische Filmemacherin und Autorin Maria von Blumencron – die das Drama der tibetischen Flüchtlinge der Welt bekannt gemacht hat – als unseriös zu diffamieren und dabei die ganze Fluchtbewegung als »frei erfunden« darzustellen. Die Tibeter könnten, wie alle Bürger der Volksrepublik China, problemlos ein- und ausreisen und seit Jahrzehnten bestünde eine Buslinie zwischen Lhasa und Kathmandu, so Goldner.
Grundsätzlich haben alle Bürger Chinas das Recht auf Freizügigkeit, doch im Einzelfall entscheiden die Behörden über die Ausstellung des Passes. Tibetische Antragsteller sind deren Willkür ausgeliefert. Besonderen Restriktionen sind ehemalige politische Gefangene unterworfen. Sie erhalten nur in Ausnahmefällen einen Pass, gewöhnlich dann, wenn ihre Gesundheit durch die Haft so ruiniert ist, dass China ihren Tod – und damit internationale Kritik – befürchten muss. Der behördlichen Willkür unterliegen auch die politischen Aktivisten. Beispielhaft ist das Schicksal der Schriftstellerin Tsering Woeser. Zu mehreren Preisverleihungen sowie zur Frankfurter Buchmesse 2009, als ihr Buch »Ihr habt die Gewehre, ich einen Stift« im Lungta-Verlag erschien, erhielt sie keine Ausreiseerlaubnis. Eine dritte Gruppe, die besonders restriktiv behandelt wird, sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren.
Insofern entbehrt nicht nur die Diffamierung des alten Tibet jeder Grundlage, sondern auch der Versuch, die Fluchtbewegung als »Erfindung« darzustellen. Beides dient der chinesischen Propaganda, die ebenfalls versucht, die Flucht zu unterbinden, denn jeder geflohene Tibeter ist eine lebende Anklage gegen die vermeintliche Befreiung Tibets. Seit dem Volksaufstand von 2008 ist die Zahl der Flüchtlinge drastisch gesunken, von 2.–3.000 pro Jahr auf etwa 400, da die Kontrolle des gesamten Lebens nahezu lückenlos ist.
Resümee
Wenn renommierte Wissenschaftler, einflussreiche Politiker und Journalisten großer Zeitungen den Pazifismus des Dalai Lama anzweifeln, wenn sie das alte Tibet als »Schreckensstaat« diffamieren, wenn sie sämtliche völkerrechtlichen Expertisen zur Unrechtmäßigkeit der chinesischen Besetzung Tibets ignorieren, wenn sie die aktuelle Tibet-Frage auf ein Problem der inneren Sicherheit reduzieren, und wenn das Recht der Tibeter auf Selbstbestimmung durch Vergleiche mit einer imaginären bajuwarischen Sezessionsbewegung ins Lächerliche gezogen wird, dann handelt es sich nicht um differenzierte akademische Debatten oder unterschiedliche politische Auffassungen. Dann geht es darum, den Tibetern ihr Recht auf Selbstbestimmung abzusprechen und die chinesische Unterdrückungspolitik zu legitimieren.
Es geht darum, den Tibetern ihr Recht auf Selbstbestimmung abzusprechen und die chinesische Unterdrückungspolitik zu legitimieren.
Es ist eine bemerkenswerte Allianz: Konservative Sozialdemokraten, überzeugte Atheisten und der Wissenschaft verpflichtete Sinologen treffen sich an dem Punkt, dass sie in der Tibet-Frage uneingeschränkt die Position der chinesischen KP einnehmen und versuchen, damit die Deutungshoheit in der öffentlichen Debatte zu gewinnen. Die Motivation mag unterschiedlich sein: Helmut Schmidt ist ein großer Bewunderer von Deng Xiaoping und sieht vermutlich dessen Werk in Gefahr, wenn die Tibeter mehr Selbstbestimmung erhalten. Goldner hat allem Religiösen den Kampf angesagt und ein Sinologe kann es sich nicht erlauben, bei der KP in Ungnade zu fallen. Ein Einreiseverbot hätte gravierende berufliche Konsequenzen. Jeder weiß, dass die chinesische Führung in Bezug auf Tibet besonders sensibel reagiert.
Dazu kommen mächtige Wirtschaftsinteressen. Wenn es darum geht, auf dem wichtigen chinesischen Markt Fuß zu fassen – und dazu steuern Politiker und Sinologen gern ihre Unterstützung bei – dann stört Tibet nur. Beispielhaft ist der Unmut deutscher Firmen in China über den Empfang des Dalai Lama durch Bundeskanzlerin Merkel im September 2007. Er gipfelte in dem Ausspruch, die Kanzlerin habe »um des Applauses einiger Gutmenschen willen« deutsche Wirtschaftsinteressen massiv aufs Spiel gesetzt.
Gewinnen die »China-Versteher« die Deutungshoheit über die Tibet-Frage, ist dieser Störfaktor ausgeschaltet. ■