Mythos Tibet – Zwischen Shangrila und Feudalherrschaft. Versuch einer Synthese
Thierry Dodin und Heinz Räther
Der Mythos Tibets im Wechsel der Zeit
Die Tatsache, daß bereits die ersten Nachrichten über Tibet von Sagen umwoben sind,¹ reicht nicht aus, um die Existenz eines »Mythos Tibet« bereits in die Antike zurückzuprojizieren. Schließlich sind derartige quasi-mythologische Berichte aus fast allen, am Rande der bekannten Welt angesiedelten Ländern und Gebieten bekannt – gleich, ob man diese nun eurozentrisch oder von einem anderen Blickwinkel wie etwa Indien oder China aus auffaßt.²
Von größerer Bedeutung für unser Thema sind hingegen die ersten echten Nachrichten über Tibet: Seit dem Mittelalter berichteten christliche Reisende, die in Kontakt mit den Mongolen gekommen waren, gelegentlich von dem Lande Tibet. Wenn sie auch weiterhin von legendären Begebenheiten und mysteriösen Phänomenen kündeten, so fällt doch auf, daß mittlerweile die Religion im Mittelpunkt des Interesses stand. Schon die ersten indirekten Kontakte zwischen Tibet und dem Westen lassen also erkennen, daß es vornehmlich die tibetische Religion war, die Fremde in Erstaunen versetzte. Hier klingen bereits Leitmotive späterer Tibetbilder an. Kein Wunder daher, daß der Sitz des sagenhaften Priesterkönigs Johannes, Oberhaupt einer angeblich im Herzen Asiens lebenden christlichen Diaspora-Gemeinde, in Tibet vermutet wurde.³
Eine nicht unwesentliche Rolle spielte dabei der Venezianer Marco Polo,⁴ dessen Bericht als eine der frühesten westlichen Quellen über Tibet immer wieder erwähnt wird – was übrigens weniger am Informationsgehalt (Polo berücksichtigt Tibet nur sehr peripher) oder an seiner besonderen Zuverlässigkeit liegt, als vielmehr an der weiten Verbreitung dieser Quelle. Die immer wieder geäußerten Zweifel an der Authentizität von Polos Bericht kann man in diesem Zusammenhang wohlgemut außer acht lassen.
Bei den ersten direkten Kontakten zwischen Tibet und dem Westen stand weiterhin die Religion im Mittelpunkt. Grund dafür ist vor allem, daß es christliche Missionare wie de Andrade und Desideri waren, die als erste Europäer Tibet betraten. Interessanterweise wurden Tibet und seine Religion von diesen Missionaren nicht als Kuriosum oder gar Faszinosum betrachtet; vielmehr führten sie, wie Kaschewsky deutlich herausgestellt hat, eine im Rahmen jener Zeit äußerst sachliche und aufgeklärte Auseinandersetzung mit dem tibetischen Buddhismus. Man kann diese Begegnungen mit Recht als echte interkulturelle Dialoge bezeichnen, deren Niveau bis ins gegenwärtige Jahrhundert unerreicht bleiben sollte.
Bei der Rezeption dieser Berichte im Westen rückten jedoch vor allem Darstellungen negativer Aspekte Tibets, seiner Kultur und seiner Religion in den Vordergrund: Vermeintliche Bigotterie, Unterwerfungsdrang unter allmächtige Priester, »Götzendienste« und »Teufelsbeschwörungen« wurden immer wieder herausgestellt. Solche sehr selektive Darstellungen der an sich sachlichen Missionarsberichte in Enzyklopädien und Weltbeschreibungen bestimmten die in den Aufsätzen des vorliegenden Bandes mehrfach erwähnten Wahrnehmungen Tibets durch europäische Denker und Literaten wie Kant, Herder, Rousseau und Balzac. So verbreitete sich ein vor allem negativ geprägter »Mythos Tibet« in der westlichen Welt.⁵
Im Zeitalter des europäischen Kolonialismus fand erneut eine intensive Auseinandersetzung des Westens mit asiatischen Kulturen statt. In dieser Phase bildeten sich äußerst divergierende Ansichten zu Tibet, seiner Religion und seiner Kultur.
Die ersten sachlichen Werke über Tibet veröffentlichte der Ungar Alexander Csoma de Körös, den man somit zurecht als den Begründer der wissenschaftlichen Tibetologie ansehen kann. Csoma nahm das Studium der tibetischen Kultur rein zufällig auf, als er, auf der Suche nach der vermeintlichen »Urheimat« der Ungarn im Inneren Zentralasiens, seine Reise in Ladakh unterbrechen mußte. Bezeichnend ist der koloniale Kontext seiner Arbeit: Sein Pionierwerk, das Wörterbuch der tibetischen Sprache,⁶ war eine Auftragsarbeit für die britische Kolonialregierung in Indien, die bereits seit geraumer Zeit großes Interesse an der Erkundung Tibets, dem »Hinterhof« Britisch-Indiens, bezeugt hatte. Csomas Werk wurde später von indischen Agenten der Kolonialregierung, den sogenannten »Pandits«, fortgesetzt. Der bekannteste dieser Pandits war sicherlich Sarat Chandra Das, dessen Wörterbuch der tibetischen Sprache, ein noch heute für Tibetologen unverzichtbares Nachschlagewerk,⁷ auf Csomas Arbeiten aufbaut. Im Gegensatz zu Csoma, dessen Beschäftigung mit Tibet rein wissenschaftlicher Natur war, suchten die indischen Pandits – den Interessen ihrer Auftraggeber entsprechend – vornehmlich nach politisch, militärisch und wirtschaftlich verwertbaren Informationen. Einem ähnlichen Zweck hatte bereits die Reise des Kolonialbeamten Bogle in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gedient. Das Interesse Bogles, der von Süden aus über Bhutan nach Zentraltibet und schließlich bis an den Hof des Panchen Lama in Shigatse vorgedrungen war, galt vor allem den Reichtümern, die in Tibet vermutet wurden. Seine Beschreibung von Land und Leuten hielt sich dagegen weitgehend an die im Westen bereits bestehenden, eher negativ gefärbten Vorstellungen.⁸
Der koloniale Kontext ermöglichte erstmals umfangreiche Missionsbemühungen im tibetischen Kulturraum. Doch im Gegensatz zu dem differenzierten Bild, um das sich die Missionare früherer Jahrhunderte bemüht hatten, trat eine sachliche Auseinandersetzung mit der regionalen Kultur und Religion nun in den Hintergrund. Vielmehr wurde, entsprechend dem in jener Zeit vorherrschenden Überlegenheitsgefühl der Europäer, das Einheimische oft als rückständig und minderwertig abgetan. Eine wichtige Ausnahme bilden die Herrnhuter Missionare, die eine vergleichsweise konstruktive Auseinandersetzung mit dei lokalen Kultur führten. Einige von ihnen lieferten sogar wertvolle wissenschaftliche Beiträge zur Erforschung hrforaehungTibets.⁹ Die Haltung der Herrnhuter war allerdings nicht zuletzt dadurch bedingt, daß die Indigenisierung des Christentums das Rückgrat ihrer Missionsstrategie bildete. Darüber hinaus versprachen sich viele Missionare von einer Kenntnis der zu konvertierenden Gesellschaft und der »zu besiegenden« Religion eine effektivere Missionsarbeit.
Während in dieser Zeit die westliche Wissenschaft den Buddhismus – vor allem in seiner indischen Ausprägung – ernsthaft zu untersuchen und nach und nach als geistiges Erbe von Weltbedeutung anzuerkennen begann, wurde dessen tibetische Variante offen als abartige Degenerationserscheinung abgetan, da sie in vielen Punkten dem von westlichen Gelehrten konstruierten »Urbuddhismus« zu widersprechen schien. Mit dem in diesem Zusammenhang geprägten, abschätzigen Begriff »Lamaismus« wurde der Widerwille zum Ausdruck gebracht, den tibetischen Buddhismus überhaupt als Buddhismus anzuerkennen.¹⁰
Die Wissenschaft zeigte allenfalls deshalb Interesse an Tibet, weil dort viele in ihren indischen Ursprungsländern verlorengegangene buddhistische Texte in tibetischen Übersetzungen erhalten geblieben warem. Diese wurden als Vorlage für mittlerweile sehr in Frage gestellte – »Rückübersetzungen« in das Sanskrit und andere indische Sprachen verwendet. Eine erste ausfuhrliche Auseinandersetzung mit den tibetischen Erscheinungsformen des Buddhismus betrieb L.A. Waddell in seinem Buch The Buddhism of Tibet or Lamaism, wo er der weit verbreiteten, voreingenommenen Haltung gegenüber dem tibetischen Buddhismus ein »wissenschaftliches« Fundament verlieh. Dieses Werk blieb jedoch in seinen Bewertungen völlig in den bereits geprägten negativen Vorstellungen haften; Waddell hielt seinen Forschungsgegenstand für derartig dubios, daß er sogar einige damals »schockierende« Phänomene bewußt vertuschte.¹¹ Trotzdem galt sein Buch bis weit in die zweite Hälfte unseres Jahrhunderts hinein als Standardwerk über den tibetischen Buddhismus.
So kann es kaum verwundern, daß die Religion bis in jüngste Zeit im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Tibet stand, während andere Aspekte der tibetischen Kultur weitgehend vernachlässigt wurden. Bis weit in die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts hinein waren bis auf eine kleine Zahl wichtiger Beiträge (man denke dabei z.B. an Rolf A. Steins Standardwerk La civilisation tibétaine) nur sehr wenige tibetologische Arbeiten erschienen, die schwerpunktmäßig nicht-religiöse Aspekte der tibetischen Kultur thematisierten. Viele Werke enthalten ausschließlich lange Beschreibungen von Klöstern und Tempeln und lassen den Leser darüber rätseln, wie diese denn wohl ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage bestreiten oder ihren Nachwuchs rekrutieren. Erst 1968 lieferte der amerikanische Ethnologe Melvyn C. Goldstein mit seiner Dissertation An Anthropological Study of the Tibetan Political System eine detaillierte Darstellung des traditionellen tibetischen Regierungssystems. Allgemeine ethnographische Darstellungen Tibets ließen gar mit Martin Brauens Heinrich Harrers Impressionen aus Tibet und dem Sammelband Der Weg zum Dach der Welt bis 1974, bzw. 1982 auf sich warten.
Doch mindestens bis in die 70er Jahre hinein erweist sich selbst die Betrachtung der Religion beim näheren Hinsehen als äußerst selektiv, denn es wurde vorzugsweise der »Hoch-Buddhismus« – vornehmlich indischer Herkunft – der geistigen Hochburgen Tibets untersucht. Die für die große Masse der Tibeter viel relevantere Volksreligion beispielsweise wurde erst viel später »entdeckt«, und dies meist auch nicht vonTibetologen, sondern von Ethnologen.Völlig außer acht gelassen wurden die anderen Religionen Tibets wie das Bön oder der Islam, der freilich nur von vergleichsweise kleinen, doch bedeutenden Gruppen tibetischer Kultur in den städtischen Zentren Zentral- und Osttibets und in Ladakh praktiziert wurde bzw. wird.
Die distanzierte und ihre Ablehnung kaum verhehlende Betrachtung Tibets im wissenschaftlichen Diskurs des ausgehenden 19. Jahrhunderts blieb allerdings nicht unwidersprochen. Schon kurz nach den ersten Gehversuchen der Tibetologie entstand mit der Theosophie eine Bewegung, welche das »Schneeland Tibet« zu einem geistigen El Dorado hochstilisierte. Überwogen bisher kritische Betrachtungen der tibetischen Kultur, so wurde Tibet in der theosophischen Literatur gleichsam über Nacht zu einem geistigen Zentrum der Welt, einem Ort, wo, fernab der Moderne, hinter den sprichwörtlichen »sieben Bergen«, geheimes Wissen und erhabene Weisheit die Jahrhunderte überdauert hätten. Die Gründe, warum sich die Theosophen ausgerechnet Tibet als Standort für ihre Sehnsüchte und Träumereien aussuchten, sind sehr vielschichtiger Art und wohl auch noch nicht abschließend geklärt. Fest steht, daß das so vermittelte Tibetbild in gewisser Hinsicht dem Bild enstpricht, das die Tibeter selbst und die unter dem Einfluß des tibetischen Buddhismus stehenden Völker Asiens wie die Mongolen oder die über China herrschenden Mandschus von Tibet hatten.
Darüberhinaus weckt das Tibetbild der Theosophen Erinnerungen an den in Tibet weitverbreiteten eschatologischen Mythos von Shambhala.¹² Auch die diesem Mythos zugrundeliegenden Texte des Kalatschakra-Tantra berichten von einem sagenhaften, hinter unzugänglichen Bergen verborgenen Land, wo Weisheit und Harmonie bewahrt werden, während die Welt in Dunkel und Chaos liegt. Erst wenn die Zeit reif ist, wird das Licht Shambhalas über der Erde erstrahlen und den Menschen das langersehnte »goldene Zeitalter« bringen. Zwar haben die Tibeter selbst ihr Land nie als das sagenhafte Shambhala betrachtet, doch hatte Shambhala eine lebhafte, fast greifbare Präsenz in ihrer Gedankenwelt. Ob die Gründer der Theosophie mit diesem Mythos in Kontakt kamen und ihn auf Tibet selbst übertrugen, könnte als Hypothese in Betracht gezogen werden. In jedem Fall ließ, wie Korom und Pedersen unterstreichen, die damalige, politisch bedingte Unzugänglichkeit Tibets den Europäern viel Freiraum für die Projektion von Fantasien und Sehnsüchten.
Die Theosophen repräsentierten zwar an sich nur eine kleine Minderheit von – meist recht exzentrischen – Europäern und Nordamerikanern, deren Bedeutung für den auf dem Höhepunkt des Kolonialismus befindlichen Westen zu jener Zeit vernachlässigbar war. Ihr Einfluß auf das Tibetbild des Westens war dennoch erheblich. Das Interesse der Theosophen für das alte Ägypten bescherte beispielsweise dem Bardo Thödol, einem tibetischen Ritualtext, der Verstorbenen den Weg zu einer höheren Wiedergeburt zeigen soll, eine Rezeption als »Tibetisches Buch der Toten«, mit allen mystischen Konnotationen, die das alte Ägypten im Westen zu wecken vermochte. Viele derer, die später den tibetischen Buddhismus im Westen vermittelten, wie Anagarika Govinda, Marco Pallis und Sangharakshita,¹³ waren von der Theosophie beeinflußt worden. Dies gilt auch für den russischen Maler und Mystiker Nicholas Roerich, der in den 20er Jahren unseres Jahrhunderts auf der Suche nach Shambhala eine mehrjährige Expedition nach Zentralasien und Tibet unternahm.¹⁴ Selbst der damalige Staatssekretär im US-amerikanischen Landwirtschaftsministerium und spätere Präsidentschaftskandidat Wallace (dessen politische Karriere übrigens wegen der Publikation seines als Guru-letters bezeichneten Briefwechsels mit Roerich endete),¹⁵ beteiligte sich an der Finanzierung dieses sehr aufwendigen Unternehmens.
Erst nach seiner Rezeption durch die Theosophie fand Tibet Eingang in die westliche Literatur, wie z. B. bei Antonin Artaud in den 20er Jahren oder aber in dem auf ein weitaus breiteres Publikum zugeschnittenen Roman Der verlorene Horizont von James Hilton.¹⁶
Schließlich nahmen, wie Greve darstellt, auch die abstrusen Vorstellungen der Nazis über Tibet deutlich Bezug auf die von den Theosophen popularisierten Bilder.¹⁷ Allerdings wurden hier lediglich Schlagzeilen übernommen, während die zwar eurozentrische, doch weitgehend offene Haltung der Theosophen gegenüber fremden Kulturen durch eine stumpfe, rassistische Ideologie ersetzt wurde.
Auch der Entwicklung des politischen Bildes von Tibet war eine wechselvolle Geschichte beschieden. Hansen und McKay zeigen, daß der britische Kolonialapparat des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts Tibet teilweise als rückständig und barbarisch, teilweise aber auch als- edel und liebenswürdig betrachtete. Interessanterweise neigten die Vertreter der ersteren, negativen Position deutlich dazu, Tibet als Teil der – freilich auffällig unklar definierten – Einflußsphäre Chinas anzusehen, wohingegen für die Vertreter der zweiten Tendenz die offensichtliche Eigenständigkeit Tibets als kulturelle wie auch als politische Entität im Vordergrund stand. Diese Gruppe war es auch, die ein verstärktes Engagement Großbritanniens in Tibet verlangte. Als, nach der »Militärexpedition« von 1904, britische Beamte tatsächlich in Tibet Fuß faßten, vertraten sie eindeutig diese Auffassung und setzten mittels selektiver Darstellung, Zensur und Selbstzensur ein durchgehend positives Bild in der Darstellung Tibets durch. Lediglich Reisende wie William McGovern, Alexandra David-Néel oder auch später Heinrich Harrer, die sich dem britischen Apparat entziehen konnten oder den nicht unter britischem Einfluß stehenden Osten Tibets bereisten, vermittelten ein von dieser Linie abweichendes Bild.¹⁸ Die britischen Beamten bemühten sich in ihren Darstellungen, Tibet in westliche politische Konzepte hineinzudrängen und es als angleichungswillig an die von den Kolonialmächten dominierte Weltgemeinschaft zu schildern, wobei die in politischen Kreisen gebotene Seriosität und Nüchternheit ein Abdriften in mystisch-romantische Shangri-La-Bilder verhinderte. Mag das so vermittelte Bild Tibets auch eine sehr einseitige Perspektive geboten haben, so wäre es doch falsch, es als reine Propaganda abzutun. Vielmehr spiegelte es die gemeinsamen politischen Vorstellungen der damaligen tibetischen Führung insbesondere des 13. Dalai Lama – und Teilen der britischen Beamtenschaft und projizierte lediglich eine Vision der Zukunft Tibets in die Gegenwart. Daß diese Vision letztlich nie verwirklicht wurde, liegt zum einen daran, daß – wie Goldstein meisterhaft gezeigt hat¹⁹ – das Reformprojekt des 13. Dalai Lama den Intrigen der ultrakonservativen Klöster um Lhasa zum Opfer fiel, und zum anderen daran, daß die britischen Beamten in Tibet bei ihrer Regierung keine Mehrheit für ihre Pläne gewinnen konnten. Für die Regierung in London war schon damals die Aufrechterhaltung guter Beziehungen zu China oberstes Prinzip ihrer Politik in dieser Region. Bei aller Sympathie, die von ihren Beamten in Lhasa durchaus mit Erfolg vermittelt wurde, hatte Großbritannien doch relativ wenig Interesse an Tibet. Sowohl die Regierung in London als auch die Kolonialregierung in Delhi weigerten sich daher konsequent, Tibet als unabhängigen Staat anzuerkennen. Aus denselben realpolitischen Erwägungen schlossen sich andere westliche Mächte dieser Haltung an.
Erst die chinesische Invasion Tibets von 1950/51 brachte das Land auf dem Dach der Welt wieder in die internationalen Schlagzeilen. Das breite Mitgefühl, das diesem, einem imperialistischen Regime wehrlos ausgelieferten Volk entgegengebracht wurde, führte allerdings nie zu konkreter politischer Unterstützung. So wurden entsprechende Resolutionen bei den Vereinten Nationen zur damaligen Zeit nur von wenigen und überdies kleinen Staaten wie Costa Rica und Irland unterstützt.
Die Flucht des Dalai Lama und zahlreicher Tibeter ins Exil im Jahre 1959 ermöglichte der westlichen Welt erstmals einen direkten Kontakt auf einer breiteren Basis mit Tibetern, insbesondere mit hochstehenden Vertretern der buddhistischen Geistlichkeit. Die aus damaliger Sicht sehr konkrete Gefahr des vollständigen Untergangs des tibetischen Buddhismus brachte vor allem junge Wissenschaftler dazu, sich intensiver als bisher mit dieser Religion zu beschäftigen und sie erstmals als lebendige Tradition und nicht nur als versteinertes Überbleibsel längst vergangener indischer oder chinesischer Überlieferungen aufzufassen. Das Dringlichkeits- und Betroffenheitsgefühl unter dem wissenschaftlichen Nachwuchs jener Zeit haben Kvaerne, Stoddard und Hopkins im vorliegenden Band, sowie Lopez in seinem Foreigner at the Lama's Feet deutlich unterstrichen. Es sollte allerdings noch ein Jahrzehnt dauern, bis diese neue Sicht die »etablierte« Wissenschaft erreichte.
Auch außerhalb der akademischen Welt wurden – vornehmlich junge, von der Suche nach einer neuen Spiritualität animierte – Menschen zunehmend vom tibetischen Buddhismus angezogen. Die Berichte der ersten »Rucksacktouristen« in Asien, aber auch Film- und Konferenzberichte, sowie Bücher wie z.B. Le message des Tibétains von Arnaud Desjardin brachten sie in Kontakt mit der tibetischen Lehrtradition und ermöglichten ihnen erste direkte Erfahrungen. In den USA schrieben der einstige Harvard-Professor Timothy Leary und um ihn gescharte junge Intellektuelle das Tibetische Totenbuch zu einem Bericht über Bewußtseinserweiterung um und rückten Tibet somit in das Blickfeld der LSD-Generation.²⁰
Bald darauf reisten die ersten tibetischen Lamas auf Einladung ihrer neuen Anhänger in den Westen und legten zusammen mit diesen den Grundstein für das, was Stoddard in diesem Band die »Globalisierung« des tibetischen Buddhismus nennt. Die Rezeption, die der tibetische Buddhismus im Westen fand, war allerdings keine einfache Weiterführung der Verhältnisse in Tibet. Die Vielfalt des westlichen Buddhismus tibetischer Provenienz kann und soll hier nicht dargestellt werden.²¹ Für unser Anliegen genügt es, festzuhalten, daß bemerkenswert häufig ein zwar grundsätzlich positives, jedoch völlig kritikloses Tibetbild offenbar einen großen Teil der Faszination ausmacht. Darin vermischen sich oftmals halb verstandene Lehrinhalte mit einer gehörigen Portion naiven Magie- und Wunderglaubens²² – oftmals geschah auf Kosten einer ernsthaften Beschäftigung mit dem tibetischen Buddhismus und einer gemäß seiner Lehren notwendigen Anpassung seiner an sich kulturneutralen Inhalte an die Bedürfnisse und an das Verständnis einer westlichen Umwelt. Dies mag der Grund sein, weshalb Loden Sherab Dagyab – selber tibetischer Geistlicher und Religionslehrer im Westen – die Ansicht äußert:
Der Rückblick auf die letzten 30 Jahre lehrt uns jedenfalls, daß die positiven Aspekte des überlieferten Tibetbildes sich bei der Verbreitung des Buddhismus auf die Dauer eher als nachteilig erwiesen haben, während die negativen Aspekte zumindest den Vorteil hatten, die tibetischen Lamas und ihre Schüler zu einer kritischen und letztlich fruchtbaren Selbstüberprüfung anzuregen.
Im politischen Bereich kamen nach dem Verlust der Unabhängigkeit Tibets zwei deutlich unterschiedliche Perzeptionen auf:
Unter »Rechten« und Wertkonservativen, die bis 1959 eher dazu geneigt hatten, Tibet aus einer kritischen, eurozentrischen Perspektive zu betrachten und somit die bereits in früheren Jahrhunderten geprägten Auffassungen vertraten, hagelte es nun Kritik an der gewaltsamen Unterwerfung eines vermeintlich friedlichen Volkes und an der – in Tibet lange vor der Kulturrevolution ansetzenden – Zerstörung einer alten, erhabenen Kultur. Tibet wurde hier immer wieder als Beispiel für die Bösartigkeit und Destruktivkät des Kommunismus angeführt und man beschwor die »gelbe« und die »rote« Gefahr zugleich. Es kam allerdings zu wenig mehr als einer verbalen Unterstützung für Tibet, und auch diese verstummte bald. Zwar unterstützte die CIA den Guerillakrieg der Khampas durch Ausbildungsmaßnahmen und Waffenlieferungen, doch diese Aktivitäten waren nach dem low level conflict-Prinzip bewußt darauf angelegt, China zu irritieren, ohne daß die Guerilla ihrem Ziel der Befreiung Tibets auch nur einen Schritt näher kam (bzw. kommen sollte). Als dann schließlich im Zuge der diplomatischen Annäherung zwischen China und den USA unter Präsident Nixon die Unterstützung für die Khampas abrupt eingestellt wurde und ihre Kämpfer in arge Bedrängnis kamen, wurde Tibet aus der politischen Tagesordnung gänzlich gestrichen.²³ Hier zeigt sich deutlich, daß hinter der angeblichen Unterstützung des tibetischen Freiheitskampfes nichts anderes als purer Antikommunismus verborgen war, eine weitere, traurige Episode des kalten Krieges; ihr lag sicherlich keine wirkliche Sympathie, ja nicht einmal Interesse für Tibet und sein Schicksal zugrunde.
Die politische Linke, insbesondere die »neue Linke« hingegen betrachtete das traditionelle Tibet als Paradebeispiel einer »orientalischen Despotie«. Die einflußreiche Stellung der Religion in dem von einem »Gottkönig« geführten Staat, die Inanspruchnahme eines erheblichen Anteils der Ressourcen durch die Klöster und die vermeintlich totale Unterwerfung eines Volkes von Blindgläubigen unter die Herrschaft der »Lamas« schienen die These von der Religion als »Opium fürs Volk« in geradezu himmelschreiender Weise zu bestätigen. Bilder von selbstlosen »Barfußärzten«, befreiten »Leibeigenen« und von lachenden Bauern Hand in Hand mit chinesischen Kadern inmitten von üppigen Kornfeldern setzten dem eine »positive Utopie« entgegen, die hiesigen, selbsternannten »Rotgardisten« den Glauben an die Ankunft des »neuen Menschen« näherbringen konnte.²⁴ In der gleichen Zeit wurden in Jahrhunderten angesammelte Kulturgüter sinnlos vernichtet, Kunstwerke von unschätzbarem Wert zerstört oder über Hongkong in den Westen verkauft, die tibetische Intelligenz – sofern sie sich nicht ins Exil hatte retten können – physisch nahezu vernichtet, während – nicht zuletzt durch die von China zwangsweise eingeführte Umstellung der Getreideproduktion hervorgerufene – Hungernöte einen bis auf den heutigen Tag nicht genau ermittelbaren Teil der übrigen Bevölkerung dahinrafften. Diese heute eindeutig belegten Fakten waren zwar schon damals weitestgehend bekannt, doch man tat sie lieber als reaktionäre Propaganda ab, die das Ziel verfolge, das »neue China«, das sich gerade aus angeblich imperialistischer Knechtschaft befreit hatte und nun einer glänzenden, sozialistischen Zukunft entgegenschritt, zu diskreditieren. Stattdessen wurde naiv und pathetisch »Chinas Sonne über Lhasa«²⁵ gefeiert und Propagandaberichten der abstrusesten Art über angebliche religiöse Menschenopfer oder noch schlimmere Untaten des »Dalai-Regimes« gelauscht. Wie bei dem politischen Gegner bestand hier kein eigentliches Interesse an Tibet selbst, sondern lediglich an einem Bild davon, das den eigenen diffusen Vorurteilen und selbstgefälligen ideologischen Positionen entsprach.
Erst Anfang der achtziger Jahre, als der chinesische Kommunismus nicht mehr als so bedrohlich empfunden wurde, bzw. die Mao-Begeisterung innerhalb der politischen Linken abgeflaut war, wandelten sich die Tibetbilder in der Welt der Politik wieder. Während die politische Rechte angesichts lukrativer Geschäfte auf dem größten Markt der Welt ihre frühere Kritik fast vollständig abgelegt hat und nun bemüht ist, Tibet nebulös als »Teil des chinesischen Staatsverbandes« hinzustellen, haben viele Linke ihre frühere marxistische Dogmatik abgelegt²⁶ und treten nun im Namen des Selbstbestimmungsrechts der Völker und aufgrund allgemeiner humanitärer Überzeugungen für eine weitreichende Autonomie oder gar völlige Unabhängigkeit Tibets ein. Allerdings scheinen auch hier allzuoft utopistische Projektionen das Bild Tibets zu verzerren.
Zwischen Shangrila und Feudalherrschaft
Betrachtet man das Bild Tibets im Westen und seine historische Entwicklung, ist nicht zu übersehen, daß eine sachliche Herangehensweise eher die Ausnahme war und ist, Ebenso auffällig ist, daß bereits früh die Religion im Mittelpunkt der westlichen Wahrnehmung stand. Das ist nicht verwunderlich, nahm doch die Religion in Tibet eine so herausragende Stellung ein, wie wohl nirgendwo sonst auf dieser Erde. Darüberhinaus haben es die Tibeter nach dem Zusammenbruch ihres Weltreiches im 9. Jahrhundert immer wieder verstanden, vornehmlich über die Religion großen Einfluß auf weite Teile Zentralasiens wie auch auf die mongolischen und mandschurischen Dynastien, die zeitweilig über China herrschten, auszuüben.²⁷ Dies bedeutet nicht, daß der tibetische Buddhismus und die tibetische Kultur ein und das selbe sind, oder gar, daß die Tibeter ein Volk vergeistigter Asketen seien. Doch hat diese durch fremde Wahrnehmung verstärkte Überbetonung der Religion immer wieder die anderen Aspekte der tibetischen Kultur in den Hintergrund gedrängt und so ein verzerrtes Bild der tibetischen Gesellschaft vermittelt. Hier handelt es sich um ein im Rahmen interkultureller Wahrnehmung häufig anzutreffendes Phänomen: Bei der Betrachtung einer fremden Kultur führt der Hintergrund eigener Normenvorstellungen, Verhaltensmuster und Erfahrungshorizonte oftmals zur Heraushebung eines besonderen Aspektes dieser Kultur. So werden Schwerpunkte oder Gewichtungen gesetzt, die einer nüchternen Analyse nicht standhalten.
An zweiter Stelle zeichnet sich eine Ambivalenz zwischen zwei extremen, entgegengesetzten Wahrnehmungen Tibets ab: Einerseits wird das Land auf dem »Dach der Welt« mit erhabener Weisheit und schlichter Fröhlichkeit assoziiert, andererseits glaubt man, Aberglauben, Grausamkeit und reaktionäre Unterdrückung als besondere Charakteristika ausmachen zu können.
Nun ist das traditionelle Tibet in Anbetracht an seiner geringen Bevölkerungszahl tatsächlich ein Land der Vielseitigkeit und der Extreme gewesen: Neben ausgeprägten zentralistischen Strukturen fanden sich staatenlose Regionen, in denen ein tief verwurzelter Individualismus nur territorialen oder »Stammes«-Loyalitäten unterworfen war.²⁸ Innerhalb der religiösen Institutionen herrschten ausgesprochene Rivalitäten zwischen den verschiedenen Schulrichtungen, zwischen den Klöstern jeweils einer Schulrichtung und selbst zwischen einzelnen Kollegien der gleichen Klöster.²⁹ Unter den tibetischen Normenvorstellungen findet man Ideale von Friedfertigkeit, Harmonie und Mitgefühl neben einem durchaus gewaltbereiten Selbstbehauptungswillen, intensive Religiosität neben krassem Materialismus. Ein – besonders in der religiösen Scholastik – weit verbreiteter intellektueller Formalismus wurde immer wieder von kreativen Individuen mit beachtlichem Erfolg in Frage gestellt. Selbst die natürliche Umwelt in Tibet³⁰ kann als einer der extremsten von Menschen bewohnten Lebensräume bezeichnet werden: Kahles Hochland und dichte subtropische Wälder liegen oftmals nur wenige Kilometer auseinander, was zu einer entsprechenden Vielfalt der sozio-ökonomischen Bedingungen innerhalb der tibetischen Gesellschaft führte.
Angesichts dieser Diversität erscheint die Eindeutigkeit der meisten Tibetbilder, sei es in positiver oder negativer Ausprägung, umso erstaunlicher. Da liegt der Gedanke nahe, daß jeweils nur eine Hälfte des Ganzen wahrgenommen wurde, während die andere – bewußt oder unbewußt der (inneren) Zensur zum Opfer fiel.
Betrachtet man die in den vorhergehenden Aufsätzen ausführlich beschriebenen und in diesem Essay kurz zusammengefaßten Tibetbilder, so fällt auf, daß diese meistens weniger die tibetische Realität als die Sehnsüchte, Erwartungen und moralischen oder politischen Vorstellungen der jeweiligen Beobachter spiegeln, d.h. stark von Projektionen geprägt sind. Dies wird in Heberers Aufsatz besonders deutlich, der darstellt, wie (Han-)chinesische Tibet-Wahrnehmungen sowohl die xenophobische und ausgeprägt ethnozentrische Haltung gegenüber dem »Anderen« als auch die Sehnsucht nach einer unbeschwerten Lebensfreude und (auch sexuellen) Freizügigkeit offenlegen und damit offensichtlich als solche empfundene Mängel der eigenen Lebensumstände offenbaren. Im Westen blieb das Tibetbild bis zum 19. Jahrhundert wegen der ungleich größeren geographischen Entfernung relativ diffus und kam daher – von wenigen Ausnahmen abgesehen – kaum über allgemeine, halblegendäre Stereotypen hinweg. Erst der Kolonialismus des 19. Jahrhunderts führte zu einer deutlichen Vermehrung der Kontakte zwischen Tibet und dem Westen, was eine wesentliche Ausdifferenzierung und Präzisierung der westlichen Tibetbilder mit sich brachte – allerdings wurden diese deshalb noch längst nicht realitätsgetreuer. Vielmehr erlaubten direkte Kontakte neben einer physischen auch eine emotionale Nähe, welche oftmals zu einer Verzerrung der Wahrnehmung je nach Ausgangsposition und Interessenlage des Beobachters führte.
Kolonialbeamte ärgerten sich über die aus dem Zusammenwirken der konservativen Klöster und der Schutzmacht des Mandschu-Kaiserreiches resultierende Unzugänglichkeit Tibets und vermuteten auf dem »Dach der Welt« Reichtümer und gewaltige Naturressourcen, die die imperialen Schatztruhen füllen könnten. Folglich sahen sie die Tibeter als wilde, fremdenfeindliche Barbaren, die sich stur weigerten, die Segnungen der Moderne zu akzeptieren. Das damalige Bild Tibets erinnert stark an das Afghanistans, das ebenfalls nicht in den Schoß des Empires aufgenommen werden wollte. Zu jener Zeit wurden übrigens eher die Gemeinsamkeiten als die Unterschiede zwischen Tibet und China betont. Das beruhte einerseits darauf, daß eine vergleichsweise undifferenzierte, eher negativ geprägte Wahrnehmung der »Asiaten« (verlogen und unterwürfig oder despotisch) vorherrschte, andererseits aber auch darauf, daß der mangelhafte Informationsstand über die politischen Verhältnisse in Lhasa noch keinen sicheren Schluß über den tatsächlichen Einfluß des chinesischen Kaiserhofs auf die tibetischen Angelegenheiten erlaubte.
Für die Missionare spielten diese außenpolitischen Fragen keine wesentliche Rolle. Vielmehr sahen sie sich vornehmlich mit den inneren Verhältnissen des Landes konfrontiert. Vielen von ihnen, die trotz großem Einsatz in ihrer Evangelisierungstätigkeit nur äußerst geringe Erfolge erzielten, erschien Tibet primär als ein Land, das von dunklem Aberglauben beherrscht sei; seine Religion beruhe auf völliger Unterwerfung unter eine tyrannische Priesterkaste, die diesen Zustand bewußt aufrechterhielt, und auf stupider Wiederholung kultischer Handlungen. Am meisten wurde die im viktorianischen Zeitalter besonders anstößig erscheinende Sexualmoral der Tibeter beklagt: Polyandrie schlimmer noch als Polygamie – und (immer wieder vermutete) sexuelle Geheimriten seien typische Merkmale ihrer sexuellen Verderbtheit.³¹
Dem setzten die Theosophen im Rahmen der gegen Ende des 19. Jahrhunderts einsetzenden »Revolte gegen den Positivismus« mit der Erfindung eines heilbringenden Tibet erstmals ein gänzlich positives Tibetbild entgegen. Die tatsächliche Kenntnis der Theosophen von Tibet war äußerst gering: Schon beim ersten Hinschauen fällt auf, daß sie die vermeintlichen »tibetischen Weisen« nicht mit einem tibetischen, sondern mit dem indischen Begriff »Mahatma« bezeichneten. Auch die einzelnen »Mahatmas« tragen fast ausnahmslos indisch klingende Namen. Bereits dadurch wird der spezifische Zugang der Theosophen und ihrer Nachfolger zu »asiatischer Weisheit« hervorgehoben und ihre Unkenntnis der »wirklichen« Verhältnisse entlarvt. Ihre höchst kreative Darstellung der tibetischen Religion läßt deutlich erkennen, daß sie im wesentlichen mit Projektionen ihrer eigenen Wünsche und Fantasien operieren.
Auch die später aufkommende schöngeistige Literatur über Tibet thematisierte – wie Bishop und Norbu herausgearbeitet haben – nur selten genuin tibetisches Material, sondern nutzte Tibet im allgemeinen lediglich als eine exotische, auf den vorherrschenden positiven oder negativen Stereotypen aufbauende Kulisse für die Darstellung westlicher Helden: In Shangrila, dem Schauplatz des wohl »archetypischsten« Romans über Tibet, Hiltons Der verlorene Horizont, sind sogar die Mönche von weißer Hautfarbe, während einheimische (offensichtlich tibetische) »Kulis« auf den Feldern arbeiten und andere niedrigere Tätigkeiten ausführen. Hier wurden positive (erhabene Weise, hochentwickelte Kultur) und eher negative Bilder (simple, abergläubische Bauern) vermischt, wobei die negativeren Aspekte vorallem auf die Einheimischen angewendet wurde, während das erhabene Moment den weißen Herren vorbehalten blieb.
Als britische Beamte gegen Anfang dieses Jahrhunderts in Tibet Fuß faßten, interpretierten sie das einheimische politische System vor allem in den ihnen vertrauten Begriffen (Nationalstaat, Parlament, Kabinett, etc.). Da wo diese noch keine Entsprechungen hatten (Flagge, Nationalhymne, etc.), bemühten sie sich, diese zu erschaffen. Aus durchaus wohlgemeinter Sympathie für die Tibeter, vor allem aber zur Durchsetzung der Interessen der britischen Krone, verbreiteten sie ein nach diesem Muster aufpoliertes, positives Tibetbild.
Die »rechten« und »linken« politischen Positionen nach der Invasion Tibets durch China waren deutlich von einem blinden Antikommunismus bzw. Antiimperialismus geprägt. Beide Seiten vermieden eine tatsächliche, inhaltliche Auseinandersetzung mit der tibetischen Kultur und Geschichte und begnügten sich stattdessen mit allgemeinen politischen Negativbildern, gleich ob der »Weltkommunismus« am Werk gesehen oder »imperialistische« Bestrebungen vermutet wurden, die das »neue China« als Vorreiter der proletarischen Revolution zu diffamieren trachteten; in jedem Fall wurden nur alteingefahrene Feindbilder bemüht, ohne das reale Tibet mit seinen historischen und kulturellen Besonderheiten in Betracht zu ziehen.
Auch zeitgenössische Tibetbilder erweisen sich bei näherer Betrachtung als nicht frei von vorgefaßten Meinungen. Dies wird am Beispiel der im vorliegenden Band von Norberg-Hodge und Clarke geführten Diskussion um das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines »ökologischen Bewußtseins« in der tibetischen Kultur deutlich.³² Während beide Autoren die erfolgreiche Anpassung der traditionellen Kultur an die extremen Umweltbedingungen Tibets hervorheben, deutet Norberg-Hodge dies als Ergebnis einer altruistischen, vom Buddhismus geprägten Lebenseinstellung. Clarke hingegen vermag darin lediglich einen Umweltdeterminismus zu erkennen, der sich mit der Ankunft moderner Lebensweisen erübrigt habe. Die weiteren Ausführungen zeigen jedoch, daß es beiden Autoren über Tibet hinaus um eine innerwestliche, politische Kontroverse geht. Während Norberg-Hodge eine weltweite Abkehr von der Industriegesellschaft fordert und sich strikt gegen die gegenwärtige Deregulierung der Weltwirtschaft stellt, wendet sich Clarke gegen das Primat der Ökologie über die »Realpolitik« und stellt das Recht des Westens, ein solches zu verlangen, in Frage, wo doch der Westen selbst die Wirtschaftsweise und Technik hervorgebracht hat, die nun die Biosphäre gefährden. Norberg-Hodge betrachtet die traditionelle tibetische (bzw. ladakhische) Gesellschaft als globales Zukunftsmodell,³³ eine Position, die auch unter den Betroffenen selbst nicht unumstritten ist. Clarke hingegen sieht die Tibeter in Vergangenheit und Gegenwart ebenso als Umweltzerstörer wie die Chinesen und die Bewohner der westlichen Welt.³⁴
Heute ist das vorherrschende Bild Tibets im Westen durchgehend positiv. Dies ist zum Teil auf die Rezeption früherer Tibetbilder zurückzufuhren (besonders die Theosophen dienten hier als Wegbereiter), doch hat auch die wachsende Präsenz Tibets in den Medien wesentlich dazu beigetragen. Drangen noch vor zehn oder fünfzehn Jahren Protestveranstaltungen in Tibet oder Kampagnen der Exiltibeter kaum an die breite Öffentlichkeit, so erreichen sie uns mittlerweile regelmäßig und führen im allgemeinen in breiten Schichten der westlichen Bevölkerung zu einem starken Gefühl der Sympathie für und Solidarität mit den tibetischen Selbständigkeitsbestrebungen.
Vor allem aber besitzt Tibet mit dem gegenwärtigen Dalai Lama einen charismatischen Führer, der im Westen nicht erst populär ist, seit er im Jahre 1989 den Friedensnobelpreis erhielt. Kaum ein politischer oder religiöser Führer unserer Zeit verfügt über ein ähnlich positives Image wie der Dalai Lama, und dieses positive Image sowie seine liberalen, pazifistischen politischen Positionen werden beinahe automatisch auf das gesamte tibetische Volk übertragen. Dieses in den Massenmedien weit verbreitete Bild trägt nichts wesentlich Neues in sich; fast alle seine Aspekte finden sich bereits in früheren westlichen Tibetbildern. Bemerkenswert ist heutzutage vor allem, daß es im Westen eigentlich nur noch ein einziges Bild von Tibet gibt: Tibet ist das Symbol des Guten und der letzte Hort der Spiritualität in einer radikal entmythisierten, materialistischen Welt, der jeglicher Zauber genommen zu sein scheint.
Allerdings stellt sich die Frage, ob diese positive, oft romantische und zuweilen ausgesprochen verherrlichende Darstellung Tibets dem berechtigten Anliegen vieler Tibeter und des Dalai Lama, in welcher Form auch immer über ihr Land und ihre Kultur eigenmächtig bestimmen zu können, förderlich ist. Oder anders gesagt: Muß die Unterstützung der tibetischen Anliegen wirklich mit der Übernahme einer solchen Haltung einhergehen? Zwar kann kein Zweifel daran bestehen, daß gerade ein so kleines Volk wie das tibetische nur dann die Aufmerksamkeit und Unterstützung der Weltgemeinschaft auf sich ziehen kann, wenn es ihm gelingt, sich als Sympathieträger auf breiter Basis positiv darzustellen. Um sich jedoch weiter entwickeln und ihre Ziele verwirklichen zu können, braucht, eine Gesellschaft die Fähigkeit, sich und ihre Geschichte kritisch zu betrachten. Wenn aber die Unterstützung für die Tibeter ausschließlich auf einer kritiklosen, die Vergangenheit verherrlichenden Gefolgschaft aufbaut, läuft die tibetische Gesellschaft Gefahr, in einem starren Konservatismus zu verharren. Und in der Tat findet man in der tibetischen Exilgemeinschaft immer wieder die Bereitschaft, selbstgefällige Darstellungen der eigenen Vergangenheit und Gegenwart zu produzieren, und einer kritischen Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte, wie z.B. der Frage, warum die in den historischen Umständen der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts angebrachte Modernisierung Tibets nicht gelang, oder welche inneren Verhältnisse mit dazu beitrugen, daß Tibet seine schwer erkämpfte Selbständigkeit wieder verlor, aus dem Weg zu gehen. Damit aber werden alle Reformbemühungen kreativer und offener Tibeter wie z.B. des Präsidenten des tibetischen Exilparlaments, Samdhong Rimpoche, des Schriftstellers und politischen Aktivisten Jamyang Norbu, vieler weiterer Unbekannter und nicht zuletzt des Dalai Lama selbst be-, wenn nicht sogar verhindert.³⁵
Seit jeher war die Spannung zwischen charismatischer Kreativität und institutionellem Ultrakonservatismus ein besonderes Charakteristikum der tibetischen Gesellschaft. Verhängnisvollerweise kommt es oft dazu, daß man diesen Umstand übersieht und mit der Verherrlichung der ersteren nur zu leicht zweiteren fördert.
Wie bereits angedeutet, stellt sich bei aller berechtigten Sympathie für die Anliegen der Tibeter doch die Frage, ob eine Mythisierung letztlich hilfreich sein kann. Ist nicht, wenn man Tibet als realen Bestandteil dieser Welt akzeptieren und es nicht als Traumland »hinter den sieben Bergen« sehen will, eine Desillusioniemng oder »Ent-Täuschung« sinnvoller? Jamyang Norbu und Dagyab Rinpoche haben in ihren Beiträgen überzeugend dargelegt, welche Probleme der »Mythos Tibet« für die politischen bzw. religiösen Anliegen der Tibeter mit sich bringt. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß Tibet aufgrund seiner prekären politischen Lage und angesichts der eminenten Gefahr, seine kulturelle Identität vollständig zu verlieren, auf eine möglichst weitgehende Unterstützung von Außen angewiesen ist. Und hier bietet die moderne Welt mit ihrem Bedürfnis nach positiven Utopien potentiell ein Gegengewicht zu realpolitischer Rücksichtnahme und einer übermächtigen »wirtschaftlichen Vernunft«. Jedes Land und jede Kultur hat seine Mythen und Idealvorstellungen und es soll hier kein zynischer Dekonstruktivismus herbeigeredet werden. In diesem Rahmen jedoch hat Tibet mit einer konstruktiven und kritischen Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft alles zu gewinnen. Dies ist wohl auch der Sinn der Äußerung des Dalai Lama, der sagte »In unserem Kampf für die Freiheit ist die Wahrheit die einzige Waffe, die wir haben«.
Die im Rahmen von «Mythos Tibet« zusammengestellten Aufsätze haben sich mit Wahrheiten und Unwahrheiten über Tibet beschäftigt. Manch eine der hier gemachten Äußerungen mag dem Leser vielleicht unberechtigt oder überzogen erscheinen, doch wenn dieser Band auch nur in geringem Maße zu einer Versachlichung der Diskussion über Tibet und einer Realisierung berechtigter Anliegen der Tibeter beiträgt, sehen wir den von uns angestrebten Sinn unserer Beschäftigung mit dem »MythosTibet« als erfüllt an. ■
Anmerkungen
¹ Siehe Lindegger 1979-1993.
² Siehe dazu Heberers Aufsatz im vorliegenden Band.
³ Siehe Hofmeister & Lammers 1960.
⁴ Siehe Polo 1978.
⁵ Kurt Tucholsky verwendete dieses Bild als Metapher in seinem gesellschaftskritischen Gedicht Die Mühle von 1922:
Zum erhabenen Brahma
betet jeder Lama
weit in Tibet ein Gebet.
Sitzt da im Gestühle
und dreht an seiner Mühle,
die zum Beten vor ihm steht.
Uralt Wort vom Priestertum:
»Om - mani - padme - hum!Hier bei uns zu Lande
am unsichtbaren Bande
jeder solche Mühle schleppt.
Mancher will nur beten
zu den Papiermoneten,
bis ihn die Devise neppt.
Stets zählt er sein Eigentum …
»Om - mani - padme - hum!«Mancher sieht nur Weiber
Brüste nur und Leiber -
keine, keine läßt ihn still.
Taumelt durch die Nächte,
daß er die Frauen schwächte,
weil die Mühle es so will.
Der kennt nur ein Heiligtum …
Om - mani - padme - hum -Mancher stelzt wie’n Gockel
und klemmt sich das Monokel
ein - und betet nur zum Heer.
Will den Kerls was pfeifen
und seine Deutschen schleifen
und wünscht sich einen Weltkrieg her.
»Nieder mit dem Judentum!
Om - mani - padme - hum!«Also drehn verdrossen
alle Zeitgenossen
immer ihre Mühle rum.
Jeder hat die seine,
und jeder dreht nur eine
Walze lebenslänglich um.
Was sind Schönheit, Geld und Ruhm -?
Om - mani - padme - hum.
⁶ Csoma de Körös 1980-82; siehe auch ders. 1834.
⁷ Das 1902.
⁸ Siehe Markham 1971.
⁹ Hier sind vor allem die Werke der Missionare H.A. Jäschke - besonders dessen Lexikon (Jäschke 1881) - und A.H. Francke anzuführen. Zu Francke siehe die ausführliche Bibliographie von Walravens und Taube (1992)
¹⁰ Interessanterweise wurde und wird der Terminus »Lamaismus« am längsten in der Altaistik verwendet, womit die vermeintliche Fremdheit der aus Tibet eingeführten Religion gegenüber dem indigenen Schamanismus zum Ausdruck gebracht wurde. Auf Sinn und Unsinn des Terminus »Schamanismus« soll hier nicht weiter eingegangen werden; es genügt, zu erwähnen, daß dieser Begriff in jüngster Zeit ebenfalls in Frage gestellt wird.
¹¹ Siehe dazu Stoddards Aufsatz im vorliegenden Band.
¹² Siehe Grünwedel 1915 sowie Bernbaum 1980.
¹³ Siehe u.a. Govinda 1968; Pallis 1939; Sangharakshita 1971.
¹⁴ Zu Nicholas Roerich siehe Decter 1989; zu seiner Expedition siehe N. Roerich 1929 sowie G. Roerich 1933.
¹⁵ Siehe Decter 1989: 136.
¹⁶ Vgl. die Beiträge von Bishop und Norbu.
¹⁷ Zum Tibetbild im Dritten Reich siehe auch Greve 1995 sowie die dort aufgeführte Literatur.
¹⁸ Siehe McGovern 1924; David-Neel 1927; Harrer 1952 und 1984.
¹⁹ Goldstein 1989.
²⁰ Siehe Leary et al. 1975.
²¹ Siehe u.a. Bechert 1984, Coleman 1993, Fields 1992, Bitter 1988.
²² Hier werden Reminiszenzen an die Theosophie deutlich, welche, aktualisiert und mit einem begeisterten, jedoch oberflächlichen Eklektizismus gepaart, zu einem Aspekt der »New Age«-Bewegung wurde.
²³ Siehe Avedon 1987.
²⁴ Für eine etwas weniger extreme, aber dennoch in diese Kategorie fallende Sicht siehe z.B. Grunfeld 1987.
²⁵ Siehe Elan Suyin 1977 sowie Weggel im vorliegenden Band.
²⁶ Einige prominente Linke hängen allerdings noch immer den alten, liebgewonnenen Bildern nach. So schrieb z.B. Jutta Ditfurth noch im vergangenen Jahr in einem Artikel in der TAZ unter dem Titel »Ahnungslose Schwärmerei« von einem »abstrusen Konglomerat aus Dämonen- und Geisterglauben«, oder von einem »spirituell verkleisterten Ausbeuterregime«. Demgegenüber steht die Haltung ihrer verstorbenen Parteifreundin Petra Kelly, die sich als eine der ersten prominenten deutschen Politikerinnen für die Tibet-Frage stark machte (vgl. Kelly & Bastian, 1988).
²⁷ Siehe u.a. Sagaster i960 und 1976 sowie Kämpfe 1974.
²⁸ Zu der immensen. Vielfalt der politischen Strukturen in Tibet siehe Samuel 1993.
²⁹ Siehe z.B. Hopkins Beitrag im vorliegenden Band.
³⁰ Zum Einfluß der natürlichen Umwelt auf die Wahrnehmung Tibets vgl. Kvaernes Ausführungen über die »naturromantische Schule« in diesem Band.
³¹ Siehe Brays Aufsatz im vorliegenden Band.
³² Vgl. Räther 1994.
³³ Vgl. den Titel ihres Buches: Ancient Futures: Learning from Ladakh (Norberg-Hodge 1991).
³⁴ Er erwähnt allerdings nicht, daß die meisten Tibeter, die an der Zerstörung ihrer Umwelt teilnehmen, daraus nur einen geringen Verdienst beziehen und auf solche Aktivitäten zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts dringend angewiesen sind, während chinesische Firmen aus dem Kernland mit der weltweiten Vermarktung von tibetischem Holz astronomische Gewinne erzielen, die natürlich nicht in die Entwicklung Tibets zurückfließen. Auch scheint es fraglich, ob die frühere rücksichtslose Ausbeutung der Natur im Westen ein gleiches Vorgehen im heutigen Tibet oder China rechtfertigen kann.
³⁵ Einen tragischen Präzedenzfall für eine solche Situation bildet das Leben und Wirken des 13. Dalai Lama, der unter dem Druck der extrem konservativen und gegenüber allen neuen Entwicklungen feindlich eingestellten großen Klöster um Lhasa sein Lebenswerk, die Modernisierung Tibets, nicht realisieren konnte. In seinem politischen Testament warnte er denn auch vor der Gefahr einer chinesischen Machtübernahme, wenn es nicht gelänge, Tibet zu einer echten politischen Einheit in einem modernen Sinne zusammenzufügen und sich den Gegebenheiten einer sich verändernden Welt anzupassen. Das Resultat der Nichtbefolgung seiner - in den frühen 30er Jahren durchaus visionären - Ratschläge ist hinlänglich bekannt.