Wir waren wie Marionetten
Dagyab Kyabgön Rinpoche
S. E. Dagyab Kyabgön Rinpoche hat im Sommer auf Bitten seiner Schüler einen Vortrag (und keine Unterweisung, wie er betonte) über einige seiner persönlichen Jugenderinnerungen gehalten. Er hat dabei – wie schon so oft – „kein Blatt vor den Mund genommen“, aus der Innenperspektive das komplexe Geschehen in Tibet rund um den Einmarsch der Chinesen nach Tibet beleuchtet und damit einmal mehr den romantisch trüben Blick auf das „Alte Tibet“ geklärt.
Wir haben die Darlegungen transkribiert und veröffentlichen sie hier in ganzer Länge, unterteilt in vier Abschnitte:
- seine Zeit in Osttibet,
- in Lhasa,
- im Exil und zusätzlich
- die an den Vortrag anschließende Fragen der Zuhörerschaft und seine Antworten dazu.
Generell finde ich, dass in den buddhistischen Zentren im Westen und auch manchmal im Tibethaus die sozialen Gegebenheiten Tibets vernachlässigt werden. Wir sind schließlich ein Kulturinstitut und kein buddhistisches Zentrum, daher sollten wir breitgefächerte Informationen vermitteln. Wir wollen Tibet, die tibetische Kultur und die sozialen Strukturen darstellen. Ich möchte diesmal aus dieser Perspektive berichten, denn manche Menschen aus dem Westen denken, einzig der tibetische Buddhismus mache Tibet aus.
Wie manch anderer Tibeter so bin auch ich durch drei verschiedene Lebensabschnitte gegangen: Zunächst lebten wir unter mittelalterlichen Bedingungen, dann erfuhren wir die schwierige Situation von Flüchtlingen, und nun üben wir in den unterschiedlichen Ländern als Deutsche, Engländer oder Amerikaner etc. einen Beruf aus.
Ich habe nicht vor, ausführlich über mich zu berichten, weil es – besonders aus buddhistischer Sicht – nichts zu erzählen gibt. Als Dreiundsiebzigjähriger habe ich jedoch einige Erfahrungen ansammeln können.
Die ersten Jahre als Tulku und der Einmarsch der Chinesen in Tibet
Meine Heimat liegt in der chinesischen Provinz Sichuan. Aus tibetischer Sicht befindet sich die Gegend, in der ich geboren wurde, in Tibet, ganz im Osten an der chinesischen Grenze. Aber bei uns war es nicht anders als im Mittelalter in Europa, wo es verschiedene Reiche gab: Wie ihr wisst, waren Ostpreußen, Polen, Tschechien, auch teilweise Frankreich, manchmal unter dieser, manchmal unter jener Herrschaft. Z.B. hatten wir Tibeter im achten Jahrhundert unter dem König Thrisong Detsen China bis zur damaligen Hauptstadt Chang‘an erobert. Umgekehrt haben auch früher schon die Chinesen Macht über Tibet ausgeübt, und auch die Mongolen sind bis nach Zentralasien vorgedrungen.
Tibet ist seit den 1930/40er Jahren offiziell oder inoffiziell ein geteiltes Land, d.h., die Autonome Region Tibet wird ja bis heute als tibetisches Territorium bezeichnet, die Gebiete außerhalb, also Kham und Amdo in Osttibet, waren schon unter chinesischer Herrschaft. Dennoch sagen wir in Kham und Minyak nicht, ich bin in China geboren, sondern in Tibet.
Wie überall in solchen Grenzgebieten gibt es eine Vermischung der Rassen. In meiner Familie gibt es auch chinesisches Blut. In meiner väterlichen Familie wurde Neujahr nach chinesischer Tradition gefeiert und chinesische Dekorationen verwendet.
Die nächste größere Grenzstadt war Dartsedo, chin. Kangding, wo ich ein Jahr und neun Monate in einem bestimmten Kloster lebte. Aber ich möchte gar nicht über meine Reinkarnation usw. sprechen, sondern die sozialen Gegebenheiten schildern.
Bevor wir in Dartsedo lebten, war meine Mutter dort als Dienerin tätig. Von ihr erfuhr ich, dass die Bevölkerung halb chinesisch und halb tibetisch war. Ihr Hauptinteresse galt Geschäften. Es wurden viele Güter aus China transportiert, und die Tibeter verkauften Naturprodukte wie Wolle etc. an die Chinesen. Diese Stadt war sehr interessant und beliebt, aber sie stand eindeutig unter chinesischer Herrschaft. Wir mussten in unserer Heimat Steuern an die Chinesen abführen, obwohl unsere Identifikation ganz und gar tibetisch war. Der zentraltibetische Herrschaftseinfluss reichte nicht bis dorthin.
Um eine Gegebenheit mit spirituellem Hintergrund zu erwähnen: Der Gouverneur von Dartsedo war Chinese, gleichzeitig aber ein sehr traditioneller Buddhist. Sein Hauptlehrer war ein Rinpoche aus meiner Gegend, aus dem Giwakha Kloster. Alles musste auf seine Anordnung hin und mit seiner Zustimmung passieren, auch die Anerkennung meiner Reinkarnation war davon betroffen. Deshalb mussten wir solange in Dartsedo bleiben, bis er aus Chamdo zurückgekehrt war, wo er sich aus medizinischen Gründen aufhielt.
Man konnte damals zu Fuß gehen oder in einer Sänfte getragen werden, er als Herrscher ließ sich natürlich tragen. Ich kann mich daran erinnern, ihn im Alter von fünf Jahren in einer Halle in einem einstöckigen Gebäude getroffen zu haben. Er schenkte mir unter anderem eine Buddha-Statue aus Porzellan, wie es sie sonst in Tibet nicht gab. Ich sah sie aber nur als Spielzeug an, und die Erwachsenen hatten Angst, sie könnte zerbrechen.
Nach der Zeit in Dartsedo kam ich – aufgrund von gutem oder schlechtem Karma, das ist Ansichtssache – nach Dagyab. Ich habe dort quasi neun Jahre unter Hausarrest gelebt, denn ich konnte nicht hingehen, wohin ich wollte. Ich hatte insgesamt zehn Begleiter, die mich immer bewachten. So durfte ich nur einmal im Jahr, am Saka Dawa-Fest, das Kloster umrunden. Nur zu feierlichen Anlässen konnte ich das Kloster verlassen und Mönchsversammlungen oder Ähnliches leiten. Welches Kind hat schon Freude daran? Ich konnte nicht spielen und habe – wie mir später erzählt wurde – meistens auf dem Thron geschlafen.
Wir Tibeter waren dort unter uns, denn Dagyab gehörte zum sogenannten Inneren Tibet, das identisch ist mit der heutigen Autonomen Region Tibet. Damals war Dagyab frei von Chinesen.
Dann, 1949/50, hörte man den Ruf: „Die Chinesen kommen!“ Die kommunistische Befreiungsarmee marschierte ein. Ganz China war zuvor, 1949, von den chinesischen Kommunisten erobert worden. Zunächst waren sie sehr freundlich, sehr hilfsbereit und sehr bescheiden. Die chinesischen Soldaten sagten, sie kämen nach Tibet, um uns zu befreien, nicht, um uns zu belästigen. „Es wäre wunderbar“ – so sagten sie –, „wenn ihr kochendes Wasser zur Verfügung stellen könntet, wenn wir kommen, dann können wir Tee trinken. Mehr brauchen wir nicht, macht keine Umstände.“ Dieses Verhalten gefiel einden Osttibetern sehr.
Wir Dagyab-pa und achtzehn weitere Bezirke waren damals eigentlich frei, jedoch der tibetischen Zentralregierung zugeordnet. Wir hatten ein eigenes Steuer- und Strafrecht, konnten weitgehend selbst bestimmen, ohne die Zentralregierung zu fragen. War jemand mit unserer Rechtsprechung nicht einverstanden, hatte er jedoch die Möglichkeit, in Lhasa Beschwerde einzulegen.
Es kamen zu der Zeit aber immer wieder Regierungsvertreter nach Osttibet – auch in unsere Gegend –, offiziell um zu erfahren, ob alles in Ordnung sei. In Wirklichkeit haben sie uns unterdrückt.
Per Brief wurde ihre Ankunftszeit und ihre Anzahl mitgeteilt, denn wir sollten Vorbereitungen treffen, wie Unterkünfte bereitstellen etc. Hatten wir in den Augen des Anführers der Soldaten ihren Aufenthalt nicht ordentlich organisiert, bekam die Bevölkerung sofort ihre Peitschen zu spüren. Sie waren nur zufrieden, wenn z.B. Teppiche bereitlagen, auf denen sie sitzen konnten, und schöne Mädchen da waren, die sie vergewaltigten konnten. Bei ihrer Abreise nahmen sie die Teppiche etc. mit. Es war unerträglich, wie sich die meisten Abgesandten der tibetischen Zentralregierung verhielten. Darüber hinaus verlangten sie Abgaben, die sie nicht als Steuern bezeichneten, sondern die angeblich freiwillig waren, so z.B. auch vom Dagyab Labrang. Ein Labrang ist der Sitz, der Haushalt eines Lamas. Der größte Labrang war damals der des Dalai Lama, der kleinste umfasste zwei bis drei Leute. Dagyab hatte zwei Labrangs, weil es in zwei Bezirke aufgeteilt war. Es mussten insgesamt zweihundertfünfzig Mitarbeiter entlohnt und zusätzlich diese Sonderabgaben gezahlt werden. Sie galten als Leihgabe, aber wir haben niemals etwas von der tibetischen Regierung zurückbekommen. Unser Verhältnis zur Zentralregierung war also sehr angespannt.
Und dann kamen die Chinesen und sagten, sie brauchten nur kochendes Wasser. Sie kamen zum genau richtigen Zeitpunkt, denn die Osttibeter erhofften sich von ihnen eine bessere Behandlung. Theoretisch sollten wir gegen die Chinesen kämpfen. Wir haben auch gekämpft, aber nur, weil es von oben angeordnet wurde. An der Grenze zu Sichuan haben wir ein paar Tage Widerstand leisten können.
Wie die Beamten der tibetischen Zentralregierung uns damals behandelt haben, zeugt von ihrer Unwissenheit. Diese Beamten waren in der Hand der Adeligen und der Großklöster und nur darauf ausgerichtet, sich selbst Vorteile zu verschaffen – ein rein materialistisches Denken. Wir hatten also keine Unterstützung von unserer Regierung, das war ein sehr günstiger Umstand für die Chinesen. Sie haben es daher sehr leicht gehabt.
Im Herbst 1950 kamen also die Chinesen nach Dagyab und Chamdo. Die Leute waren einerseits froh, andererseits machten sie sich Sorgen über die Zukunft.
Mitarbeiter meines Labrangs flüchteten mit mir eines Nachts zu einem abgelegenen Ort, wir ritten die ganze Nacht. Unser Rückzugsort lag auf einem Berg, und ich verbrachte eine relativ schöne Zeit, weil ich mehr Freiheit hatte. Ich konnte jederzeit nach draußen gehen, und wir hatten nur drei bis vier Mitarbeiter. Meine Mutter war dabei und kochte für uns. Wir führten nun ein sehr menschliches und persönliches Leben. Im Gegensatz dazu hatten wir im Dagyab Labrang acht Köche gehabt, und meine Verwandten konnten mich nur tagsüber kurz besuchen.
Aber eines Vormittags kamen einige Reiter, hohe Mitarbeiter unseres Labrangs. Sie kamen mit vier Plakaten, auf denen Mao Tse Tung, Marshall Chen Yi, der oberste Befehlshaber, Premierminister Zhou Enlai und der spätere Staatspräsident Liu Shaoqi abgebildet waren. Sie wurden von den Chinesen sehr verehrt, so wie bei uns die „Drei Juwelen“ verehrt werden. Die Fotos waren so groß wie Thangkas, und es wurden in meinem Zimmer Thangkas abgehängt und stattdessen diese vier Fotos aufgehängt. Sie sagten, die Chinesen seien jetzt da, und der leitende Chinese wolle noch am selben Tag zu mir kommen, ich solle freundlich zu ihm sein. Ich war also vorbereitet und wartete auf ihn. Es kamen dann drei oder vier Chinesen, die Hauptperson hieß Tang Dai Biao, Tang war der Familienname, Dai Biao bedeutet Repräsentant. Er verhielt sich korrekt. Was konnte er mit einem Kind besprechen? Es war ein Höflichkeitsbesuch.
Er bat mich, an der demnächst stattfindenden Eröffnungsveranstaltung des neu gegründeten „Council of Peoples Republic of Chamdo Area“ – also der Hauptverwaltungsorganisation unserer osttibetischen Heimat – teilzunehmen. Diese hielt später einmal im Monat eine Versammlung ab.
Aus diesem Grund kamen wir nach Chamdo, das inzwischen von chinesischen Soldaten überfüllt war. Für alles brauchte man eine Erlaubnis der Chinesen, die Tibeter hatten überhaupt keine Rechte mehr.
Der von der tibetischen Zentralregierung als Gouverneur nach Chamdo geschickte Minister Ngapö war kurz vor Ankunft der Chinesen geflohen. Die Chinesen verfolgten ihn und zwangen ihn zur Rückkehr nach Chamdo. Auch er nahm an dieser Veranstaltung teil, neben ungefähr dreihundert weiteren Personen.
Die Chinesen ernannten einen Vorsitzenden der Hauptverwaltung, mehrere Stellvertreter, insgesamt neun Personen: Ein kleiner dicker war der Chef des Militärs, sein Name war Wang Chime, er war nett, sehr diplomatisch und vorsichtig. Außerdem Phagpalha Rinpoche, der aus Chamdo kam, und ich selbst aus Dagyab, und dann der schon erwähnte Minister Ngapö und die Königin und der Prinz von Derge usw. Parallel dazu gab es Unruhen. Es gab einen Rinpoche – Getag Tulku – aus Beri, der wohl ein Kollaborateur gewesen war, Genaueres weiß ich nicht. Dieser Rinpoche war gestorben, und es gab Diskussionen darüber, wie er zu Tode kam. Die Chinesen behaupteten, er sei vergiftet worden von einem Engländer namens Ford. Dieser hielt sich damals in Chamdo auf und war im Auftrag der tibetischen Regierung als Funker beschäftigt. Er wurde jedenfalls verhaftet und die Chinesen diskutierten in einer der monatlichen Versammlungen darüber. Sie bezeichneten Herrn Ford als imperialistische Person, die sehr schlecht sei und Getag Rinpoche umgebracht habe. Ein wichtiger Vertreter des Chamdo Labrang namens Nyer-chen Tse-ga-sha, der chinesisch sprach, wandte ein, der Rinpoche müsse nicht von Herrn Ford vergiftet worden sein. Es könne auch sein Schicksal gewesen sein, an verdorbenen Lebensmitteln zu sterben, das sei häufig der Fall.
Er wurde deswegen von den Chinesen heftig getadelt und musste sich am nächsten Morgen bei allen öffentlich entschuldigen: „Ich war gestern total betrunken und ungerecht“, so sagte er, „Getag Rinpoche kann nur vergiftet worden sein.“ Dieser plötzliche Sinneswandel war für mich damals sehr amüsant.
So war die Situation, und so haben wir zunächst Seite an Seite zusammen gelebt.
1953 ging ich nach Zentraltibet, nicht aus eigenem Interesse, sondern der Entscheidung der Dagyab Labrang-Mitarbeiter folgend: Ich musste der Tradition entsprechend in Zentraltibet studieren, wie es bei hohen Lamas üblich war.
Rinpoches sind letztendlich Marionetten, die nach dem Willen ihrer Mitarbeiter auf ihrem Thron tanzen.
Die Aufnahme meines Studiums in Zentraltibet war mit vielen materiellen Gaben verbunden. Der Dagyab Labrang war ein großer Labrang, was eigentlich Reichtum bedeutete, aber der war von den Mitarbeitern für private Zwecke genutzt worden. Von außen betrachtet war der Labrang groß, aber in Wirklichkeit waren alle Schatzkammern leer. Alle hatten sich etwas geliehen, Tausende von Khäl (eine Maßeinheit), und der Labrang hatte nichts mehr. Deshalb konnten die Ausgaben für das Kloster in Zentraltibet, in dem ich studieren sollte, und für den Dalai Lama usw. nicht bezahlt werden. So wurde ich als „Kapital“ für den Labrang eingesetzt und musste in ganz Dagyab an unterschiedlichen Orten kurze Jenangs und Lungs usw. geben, um Gaben zu sammeln. So war ich einmal sechs Monate im Herbst und Winter unterwegs und nochmal im Sommer in Gegenden, in denen es im Winter besonders kalt ist.
Es wurden wohl viele Einnahmen gesammelt, denn die Labrang-Mitarbeiter eröffneten extra ein Büro, das „Büro für den Besuch von Zentraltibet“. Sie beauftragten mehrere Silber- und Goldschmiede, um Geschenke, z.B. Mandalas und Teeuntersätze etc., herstellen zu lassen. Monatelang wurde daran gearbeitet. Dagyab war bekannt für seine hervorragenden Silber-, Gold- und Eisenschmiede.
Die Reise nach Zentraltibet mit ungefähr hundert Reitern und vielen Tieren dauerte drei Monate. Wir brachen jeden Tag in der Frühe auf und kampierten ab mittags an einem guten Platz für die Tiere. Das viele Gepäck wurde U-förmig aufgestapelt, so dass die dreißig bis vierzig Zelte – für mich gab es ein Schlaf- und ein Toilettenzelt – innerhalb einer Mauer aus Gepäck aufgebaut wurden.
Überall, wo wir rasteten, wartete schon ein chinesischer Vertreter, denn die Chinesen waren damals bereits in Lhasa einmarschiert. Soldaten nahmen mich in Empfang und unterstützten mich. Als ich vor kurzem mit meiner Mutter darüber sprach, bestätigte sie, dass die Chinesen auf unserer Reise sehr nützlich gewesen waren.
Wenn hohe Personen nach Lhasa reisten, wurden sie schon drei Tagesreisen vor Lhasa erstmalig empfangen. Dieser erste Empfang wurde von der chinesischen Regierung organisiert, am nächsten Tag kamen Abgesandte der tibetischen Zentralregierung. In Lhasa wurde ich mit sehr vielen Gaben, die vorgeschrieben und genau festgelegt waren, ins Kloster eingeführt.
In der Stadt waren sehr viele Silbermünzen im Umlauf, sowohl chinesische als auch tibetische, die problemlos als Zahlungsmittel genutzt und nach Bedarf umgerechnet wurden. Wir hatten viele dieser Dayang genannten Münzen ausgeliehen, ca. vierzig- bis fünfzigtausend, um damit die anstehenden Gaben für die Klöster Drepung, Ganden, Sera und Ratö und Sangphu zu bezahlen.
Wir entschlossen uns, den Dalai Lama zum Mönlam-Fest 1953 einzuladen, denn ich als Hothogthu war dazu verpflichtet, einmal in meinem Leben eine solche Einladung auszusprechen, entweder bei meinem Eintritt ins Kloster oder anlässlich meiner Geshe-Prüfung. Wir wollten diese Gelegenheit nutzen, denn – so dachten meine Mitarbeiter und ich selbst auch – die Zukunft war ungewiss. Es gab noch einen großen Labrang namens Kündeling, der historisch mit Dagyab verbunden war. Von ihm haben wir viele Güter wie Getreide etc. ausgeliehen. Kündeling galt als der reichste Labrang in Zentral-Tibet.
Ich habe jetzt nur einen Bruchteil dessen geschildert, wie die Dinge damals in Tibet funktionierten: Reiche Labrangs und reiche Adlige hatten das Sagen, denn sie unterstützten die großen Klöster, und die großen Klöster unterstützten die Regierung. Schon der 13. Dalai Lama und dann auch der 14. wollten große Veränderungen in Tibet einführen: Z.B. sollten Schulen gebaut und Schüler nach Indien und England geschickt werden. Dies aber wurde von den Klöstern Drepung, Ganden und Sera verboten mit der Begründung, es sei schädlich für den Buddhismus, und deshalb sei es besser, keine Reformen durchzuführen. Es gab drei große Versammlungen, aber nur eine hatte die Macht, wenn es darauf ankam, und die setzte sich ausschließlich aus den Äbten der großen Gelugpa-Klöster zusammen.
Wir wurden mit der Begründung einer angeblichen Gefährdung des Buddhismus daran gehindert, andere Blickwinkel einzunehmen. Der 13. Dalai Lama wie auch der jetzige schafften es, vier Personen nach England und auch einige nach Indien zu schicken, aber das reichte bei weitem nicht aus.
Es war fraglich, ob ich die nächsten Meter überleben würde.
Rinpoches Leben in Lhasa, der Aufstand vom 10. März und die Flucht
Die chinesische Macht nahm mehr und mehr zu. 1956 gründeten die Chinesen in Lhasa das „Vorbereitende Komitee der Autonomen Region Tibet“, an dessen Versammlungen auch ich immer freitags und samstags teilnehmen musste. Allen Würdenträgern wurden Titel verliehen und ein Gehalt gezahlt, auch mir als sechzehnjährigem Kind. Offiziell musste ich daher jeden Freitag „meine Abteilung“ leiten, aber in Wirklichkeit sollte ich nur anwesend sein. Meine Stellvertreter waren ein hoher Beamter der tibetischen Regierung und ein Chinese. Der Chinese bereitete alles vor und traf die Entscheidungen, wir durften nur mit dem Kopf nicken. Der tibetische Beamte war hartnäckig, er versuchte immer wieder, eine andere Meinung zu vertreten, aber er hatte letztlich nie Erfolg. Selbst wenn ihm in der Versammlung zugestimmt wurde, wurde bei der Umsetzung doch alles so gemacht, wie es der chinesische Stellvertreter für richtig hielt. Unser Standpunkt, unsere Meinung waren bedeutungslos. Die gesamte Situation wurde immer drastischer, es genügte ihnen nicht mehr, nur „kochendes Wasser“ zu bekommen, ihr Machtanspruch wurde zunehmend stärker.
Dann passierte folgendes: Der Dalai Lama verließ seine Residenz nie mit nur wenigen Mitarbeitern, es begleiteten ihn üblicherweise immer mehrere hundert Wachsoldaten. Eine Einladung wurde niemals ihm selbst gegenüber ausgesprochen, sondern immer an den Assistenten gerichtet. Unglücklicherweise für die Chinesen, glücklicherweise für die Tibeter luden die Chinesen den Dalai Lama anlässlich seiner bestandenen Geshe-Prüfung persönlich zu einer Feier ein und instruierten gleichzeitig seinen obersten Sicherheitsberater, er solle nicht wie üblich überall Soldaten postieren. Dies werde von ihnen selbst übernommen, so sagten sie, und der Dalai Lama solle mit möglichst wenig Begleitern kommen, und keiner dürfe bewaffnet sein.
Das war unser großes Glück, denn hätten die Chinesen gar keine Feier für den Dalai Lama geplant und die Einladung nicht mit so auffälligen, zusätzlichen Aufforderungen verbunden, wäre S. H. – wie sonst auch samstags – zur Versammlung des „Vorbereitenden Komitees“ gegangen. Er hätte dort jederzeit verhaftet werden können. So aber wurden die Tibeter durch das ungewöhnliche Verhalten der Chinesen sehr hellhörig. Auf diese Weise ist – verkürzt erzählt – der große Aufstand am 10. März 1959 zustande gekommen.
Kurz vor jenem 10. März – ich erhielt gerade eine intensive mehrtägige buddhistische Unterweisung – kam ein chinesischer Vertreter zu mir, um auch mich zu den Feierlichkeiten anlässlich der Geshe-Prüfung des Dalai Lama einzuladen. Ich ließ mich entschuldigen mit der Begründung, ich sei gerade in einer wichtigen Belehrung und nähme daher die Einladung nur sehr ungern an. Nach einiger Zeit aber kam der chinesische Vertreter zurück und ließ mich wissen, dass ich zwar selbst entscheiden könne, wie ich mich verhalten wolle, durch mein Nichterscheinen würde aber zwischen der chinesischen Regierung und mir ein Riss entstehen. Da sagte ich sofort zu, nicht aus Angst, sondern um nicht eine noch ungünstigere Situation zu schaffen.
Bei den Samstagsversammlungen, sie fanden in einem Gebäude namens Tambohui statt, saß ich immer neben Phagpalha Rinpoche, das war im Protokoll so festgelegt. In jüngeren Jahren war unser Verhältnis belastet gewesen, jetzt aber waren wir gute Freunde. Anstatt, wie von uns erwartet, immer samstags ab 10 Uhr bis zum Mittagessen kommunistische Ideen zu studieren, machten wir viel Blödsinn und unterhielten uns. Wir hielten die Texte mit der entsprechenden Literatur als Tarnung hoch und versteckten uns dahinter. An jenem Samstag, dem 10. März, war die gesamte Situation sehr ungemütlich. Die Gesichter der Chinesen wurden röter und röter, sie verhielten sich ungewöhnlich und waren angespannt. Wir wussten nicht, worin das Problem bestand und was weiter geschehen sollte, also warteten wir einfach ab. Nachmittags gegen 15 Uhr sollten wir alle zum Jünshi Militärcamp gehen, wohin auch der Dalai Lama kommen sollte.
Ich stieg in mein Auto, das mir vom Pateiorgan zur Verfügung gestellt worden war, und nahm einen tibetischen Adeligen, den Mönchsbeamten Tredong Khenchung (tib.:tre-dhong khen chung) mit, der auch ins Camp musste. Als er einstieg, kam ein Junge, sein Diener, und brachte ihm eine Pistole. Man wisse nicht, was passieren werde, so sagte der Junge, er solle sie besser mitnehmen. „Wir gehen doch zu einer vaterländischen Veranstaltung, da brauchen wir so etwas nicht“, war seine Antwort, denn er war prochinesisch eingestellt und fühlte sich in chinesischer Gesellschaft sicher. Es sei doch kein großer Umstand, sie mitzunehmen, sagte ich ihm, und so verbarg er die Pistole in seiner Robe. Als wir im Camp eintrafen, waren schon alle Äbte und andere Würdenträger, wie z.B. Phagpalha Rinpoche, die als gleichrangig mit mir galten, in einer großen Halle versammelt.
Ich schaute aus dem Fenster und sah unsere Kabinettsmitglieder in gelbem Brokat gekleidet hin und her fahren. Wir hatten immer noch keinerlei Nachrichten erhalten, aber es musste etwas Gravierendes geschehen sein.
Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht. Dann kam die Nachricht, ein Tibeter in Zivil mit einem Motorrad, dunkler Brille und Mundschutz sei ermordet worden, und dieser sei der Bruder von Phagpalha Rinpoche gewesen. Rinpoche meinte, das könne nicht stimmen, denn sein Bruder sei am selben Morgen mit normaler Mönchskleidung bei einer Zeremonie im Sommerpalast des Dalai Lama Norbulingka dabei gewesen.
Die Tibeter waren, wie gesagt, durch die Ereignisse misstrauisch geworden. Mehrere Tausend hatten sich am Norbulingka versammelt und verhindert, dass der Dalai Lama den Besuch im Militärcamp antreten konnte. Alle Türen waren versperrt, das Volk wollte nicht, dass der Dalai Lama seine Residenz verließ.
In diesem Moment kam – wie wir dann erfuhren – der Bruder Phagpalha Rinpoches in Motorradkleidung dorthin, wurde von der Menge als Kollaborateur erkannt und gesteinigt, der Leichnam anschließend verschleppt.
Wir alle waren sehr aufgeregt angesichts dieser Ereignisse.
Gegen 17 Uhr hielt der chinesische Militärchef Tan Kuan-sen eine Ansprache: Bis jetzt seien sie, die Chinesen, für den Dalai Lama verantwortlich gewesen, aber jetzt könnten sie nicht mehr für seine Sicherheit garantieren. Dies sei eine sehr gefährliche Situation, und das tibetische Kabinett trage die Verantwortung. Insbesondere Kyabje Dorje Chang (Trijang Rinpoche) und einige andere seien die Verursacher der Unruhen. Der Militärchef sprach Phagpalha Rinpoche sein Beileid aus, weil dessen Bruder, ein guter Freund, ermordet worden war, und überreichte einen Katak.
„Wir wollten mit guter Gesinnung“, so fuhr er fort, „den Dalai Lama anlässlich seiner Geshe-Prüfung einladen, aber die Rebellen haben das verhindert. Trotzdem wollen wir mit der Feier und Tanzvorführungen anfangen.“ Er war während seiner Rede sehr aufgebracht und schlug mehrmals mit der Faust auf den Tisch.
Es folgten einige Darbietungen, aber ich war überhaupt nicht aufmerksam. Meine Gedanken kreisten um die Frage, was passieren würde und ob ich lebend aus dieser Situation herauskommen würde. Alles war vollkommen unsicher. Schließlich war die Veranstaltung zu Ende, Phagpalha Rinpoche wurde von den Chinesen weggeführt, wir Übrigen sollten das Gebäude verlassen und nach Hause gehen. Der Bruder des Dalai Lama, Ngari Rinpoche, war auch dort und fragte mich, ob er mit mir nach Drepung mitfahren könne. Ich stimmte zu, er war noch ziemlich jung, und ich habe ihn sozusagen „per Anhalter“ mitgenommen.
Als wir nach draußen kamen, standen die Soldaten so eng zusammen, dass nur ein schmaler Gang frei blieb, durch den wir hindurch mussten. Wir berührten sie beim Gehen mit unseren Schultern. Dies war ein erschütternder Moment, der sich mir tief eingeprägt hat: Rechts und Links standen die Soldaten, am Himmel stand die rote, untergehende Sonne. Und es war fraglich, ob ich die nächsten Meter überleben würde. Irgendwie schaffte ich es bis zu meinem Auto und stieg ein.
Auch alle Äbte mussten das Gebäude verlassen, es stand für sie ein Bus zur Verfügung. Es gab einen Konvoi nach Drepung, der folgendermaßen aussah: An der Spitze ein Panzer, gefolgt von einem Lastwagen voller Soldaten, dann mein Auto, dann ein Lastwagen mit Soldaten, der Bus mit den Äbten, ein Lastwagen mit Soldaten und am Schluss wieder ein Panzer. An der Kreuzung zum Potala standen plötzlich zwanzig bis dreißig Mönche, es waren Mönche von Drepung Nyagre, aus Dagyab. Sie hatten von den Geschehnissen gehört und wollten herausfinden, was mit mir passiert war. Die Soldaten nahmen ihre Gewehre in Anschlag und hätten fast geschossen. Die Mönche sahen mich unversehrt im Auto sitzen und verließen daher sofort die Straße. So kehrten wir nach Drepung zurück.
Wir waren also in eine Situation geraten, die es uns unmöglich machte, in Drepung zu bleiben. Wir Tibeter konnten uns zu dem Zeitpunkt nicht vorstellen, was die Zukunft bringen würde. So dachten wir, wir könnten zunächst in Südtibet abwarten, bis wieder Ruhe eingekehrt wäre. Irgendwie würde es schon wieder werden und wir würden zurückkehren können.
Ich nahm nur einen kompletten Lamrim Chenmo-Text mit, aus anderen Texten hatte ich nur die Seiten bei mir, die ich gerade studierte, und mein Gebetbuch, das war alles. Nichts sonst nahm ich mit. So verießen wir Zentraltibet.
Als wir in Südtibet ankamen, traf ich dort mit den Dalai Lama zusammen und ging mit ihm nach Indien.
Seitdem sind wir heimatlos.
Heimatlosigkeit
Die ersten Jahre im Exil
Am 13. April 1959 trafen wir in Mussoorie in Uttar Pradesh ein, dort war die erste Residenz des Dalai Lama im Exil. Während der ersten Tage hatten wir alle sehr viel Zeit, einfach weil wir nicht wussten, was wir hätten tun können.
Am 24. April traf der indische Premierminister Pandit Jawahl Neru ein, um den Dalai Lama zu treffen. Ich habe eine sehr deutliche Erinnerung daran. Er kam das letzte Wegstück auf einem prachtvollen weißen Ross. In Tibet gab es nicht so große Pferde, wir hatten eher Ponys. Er schaute uns ernst ins Gesicht und gab jedem von uns einen festen Händedruck.
Der Dalai Lama empfing ihn an der Tür der Residenz, und sie konferierten vier Stunden lang. Wir standen erneut Spalier, als er wieder an der Tür erschien, aber jetzt stand ein Lächeln in seinem Gesicht. Nach diesem Besuch begann der Dalai Lama eine tibetische Exilregierung zu organisieren. S. H. hatte zunächst nicht vor, ein Kloster zu gründen oder Dharma-Unterweisungen zu geben. Sein dringlichstes Anliegen war, den jungen Tibetern eine gute Bildung zu ermöglichen. Die Eröffnung einer tibetischen Schule war daher sein erster Schritt. Darauf folgten die Settlements (Siedlungen) und Vorkehrungen zur Gesundheitsversorgung. Später erst gründeten die Mönche und die Sangha-Gemeinschaft Klöster. Die Exilregierung hat dazu beigetragen, aber darin nicht in erster Linie ihre Aufgabe gesehen. Wir Tibeter konnten relativ gut Fuß fassen, sowohl im Hinblick auf Bildung und Studium des Buddhismus als auch im Hinblick auf das Niveau unserer Lebensumstände. Dennoch, der Dalai Lama, wir alle, sind heimatlos und entwurzelt.
Ich persönlich bin am 23. September 2013 siebenundvierzig Jahre in Deutschland, aber ich kann Deutschland nicht als meine Heimat empfinden, und kein Deutscher wird mich je als Landsmann betrachten. Das ist keine Beschuldigung, sondern einfach eine Feststellung. Wo immer wir sind, sind wir Flüchtlinge und heimatlos. Der Dalai Lama hat den Friedensnobelpreis erhalten und über dreihundert andere Preise, aber auch er ist heimatlos und hat keine Wurzeln mehr, wie wir alle.
Wir haben Sehnsucht nach einem freien und menschenwürdigen Leben in Tibet. Das ist unser Ziel und das Ziel der Tibeter in Tibet. In den aktuellen tibetischen Gesängen, die man im Internet sehen kann, wird in fast allen die große Sehnsucht der in Tibet lebenden Tibeter nach uns, die wir im Exil leben, deutlich, und die Sehnsucht nach einem freien Leben. Meine Frau und ich hören hin und wieder aus Tibet kommende Lieder und lesen den Text. Jedes Wort hat eine tiefgründige Bedeutung, bringt die Sehnsucht zum Ausdruck, der Dalai Lama möge wieder nach Hause kommen, alle mögen wieder nach Hause kommen und zusammen in Tibet leben. Die gesamte Situation ist herzbewegend, und wenn wir Tibeter diese Musik hören und den Text lesen, müssen wir weinen, wir können nicht anders.
Uns allen, einschließlich dem Dalai Lama, bleibt nichts anderes übrig, als zu lächeln, wo auch immer wir sind. Denn wir haben scheinbar ein gutes Leben, und wir haben Aufgaben: Manche Rinpoches leiten Zentren, andere haben Klöster gebaut, und manche praktizieren ernsthaft Buddhismus. Die Klöster sind oft prachtvoll, so gesehen geht es uns bestens. In Wirklichkeit aber geht es uns gar nicht gut. Aus einer anderen Perspektive heraus betrachtet ist die Situation sogar sehr bedrohlich. Ein Beispiel: Ich machte einmal mit meinem deutschen Kollegen Prof. Sagaster von der Universität Bonn eine Dienstreise in Burjatien, ganz nah bei der Mongolei gelegen. Die Burijaten hatten zur Sowjetunion gehört, nach ihrer „Befreiung“ gründeten sie eine eigene Republik. Wir saßen mit unseren burjatischen Kollegen gemütlich zusammen, sie sangen Lieder, erzählten Witze und lachten viel. Alle Witze waren in russischer Sprache, ebenso die Gesänge, aber sie amüsierten sich trotzdem prächtig. Ich konnte das nicht lustig finden, denn ich sah in ihnen ein Beispiel für das, was auch mit uns Tibetern geschieht. Auch in Tibet werden gegenwärtig vor allem von jungen Tibetern Witze auf Chinesisch erzählt und Lieder auf Chinesisch gesungen, aber wir sind keine Chinesen. Es muss uns das Recht zugestanden werden, so weiter zu leben, wie wir ursprünglich gelebt haben.
Ich wurde in Burjatien zu einem Kloster mit ca. hundert jungen Mönchen, die buddhistische Philosophie studierten, gebeten. Ich hielt dort einen Vortrag auf Englisch, der von einer Kollegin in Russisch übersetzt wurde. Bei den anschließenden Fragen und Antworten hätte ich sehr gerne auf Burjatisch mit den Mönchen gesprochen, aber keiner von ihnen konnte Burjatisch. Da es dort nun möglich war, frei zu sprechen, sagte ich den jungen Studierenden, dass es ihnen an der Basis fehle, nämlich an der Fähigkeit, ihre eigene Sprache zu sprechen. Russisch sei doch schließlich eine Fremdsprache für sie. So wird die Situation auch in Tibet bald sein – es ist teilweise schon so –, wenn sich die Lage nicht in kurzer Zeit bessert.
Das also sind die Situationen, die ich in meinem Leben erfahren habe. Vielleicht scheint es so, als hätte ich nur über Politik reflektiert, aber es handelt sich hier nicht um Politik, sondern schlicht um die Gegebenheiten in meinem Leben. Ich hoffe, dass wir tatsächlich – wie es in den Medien verlautbart wurde – in Tibet wieder ein Bild des Dalai Lama auf den Altar stellen dürfen. Was bedeutet das Wort dürfen? Wir haben in unserer eigenen Heimat keine Freiheit, wir müssen um Erlaubnis bitten.
Ich vergleiche Tibet auch mit der DDR. Immerhin wurde die DDR nur von Deutschen regiert wie z.B. von Ulbricht und Honecker. Es kam kein Russe und übernahm die Regierung oder wurde Parteichef. Wie aber ist es in Tibet? Die Tibeter haben keinerlei Macht, sie sind nur Marionetten, das Sagen haben die Chinesen. Alle Lebewesen sollen glücklich sein, die Chinesen sollen glücklich sein, aber die Tibeter auch!
Das ist der heutige Stand der Dinge, aber ich hoffe – ich bin mir sicher –, dass es bald anders sein wird. Ihr alle habt Kontakt zum Buddhismus, insbesondere zum tibetischen Buddhismus. Tibetischer Buddhismus ohne Tibet ist undenkbar. Tibeter ohne Tibet sind ebenfalls undenkbar. Deshalb sind diese Informationen darüber, wie es in Tibet war, wie es sich entwickelt hat und ob es noch eine Zukunft hat, wichtig für euch.
Wie ist die Situation heute und was können wir tun?
Fragen und Antworten
Frage: Die Tibet-Support-Groups auf der ganzen Welt wollen nichts mit Buddhismus zu tun haben und die tibetischen Buddhisten nichts mit Politik. Wie können wir das ändern? Wie können wir sie zusammenbringen?
Antwort: Wie diese beiden Gruppen zusammenkommen könnten, dafür kenne ich kein Patentrezept. Aber alle, auch die Buddhisten, sollten gut informiert sein und sich Gedanken machen. Ich kann keine Politik betreiben, weil ich keine politische Person bin und in meinem Leben nie eine politische Tätigkeit ausgeübt habe. Aber ich bin einer Meinung mit dem Dalai Lama, nicht weil es die Meinung des Dalai Lama ist, sondern weil sie den Tatsachen entspricht. Unser Kampf kann nur mit friedlichen Mitteln geführt werden. Unter friedlich verstehe ich den Einsatz von Dialog. Der Dalai Lama betont immer wieder, dass wir Tibeter mit den Chinesen eine tibetisch-chinesische Organisation gründen sollten, um mit den Chinesen zu sprechen, zu diskutieren, ihnen unsere Anliegen vorzutragen. Es müssten Informationen ausgetauscht und Verständnis geweckt werden, unter diesen Vorzeichen kann ein Dialog nicht gewaltsam geführt werden, sondern nur harmonisch. Wenn beide Seiten füreinander Verständnis haben, kann ein vernünftiges Ziel erreicht werden.
Ich persönlich finde es wichtig, die gesamte Bevölkerung zu informieren. Ich bin aber weder einverstanden mit gewaltsamen Protesten auf tibetischer noch mit gewaltsamer Unterdrückung auf chinesischer Seite. Wenn wir einen Dialog zustande bringen und freundschaftliche Beziehungen aufbauen wollen, müssen wir uns mit einem Lächeln begegnen und miteinander sprechen. Große Demonstrationen veranstalten und die chinesische Botschaft mit Steinen bewerfen o.a., wie es häufig in Indien passiert, sind keine unterstützenden Handlungen.
Wenn in Zeitungsmeldungen der Ausdruck „sogenannte chinesische Zentralregierung“ steht, empfinde ich diese Ausdrucksweise als nicht passend. Was soll das heißen? Die chinesische Regierung wurde von fast der gesamten Welt anerkannt. Was bringt das, wenn wir Tibeter von „sogenannter Regierung“ sprechen? Das kann nur verärgern. Oder etwa „der von der chinesischen Regierung stark beeinflusste Panchen Rinpoche“ oder der „sogenannte Panchen Rinpoche“ oder der „chinesische Panchen Rinpoche“, diese Art von Formulierungen sind sehr schädlich. Auch von „der sogenannten Autonomen Region Tibet“ zu sprechen, hat nur Unruhe und Irritationen bei den Chinesen zur Folge. Wenn wir Harmonie herstellen wollen, müssen wir dafür durch unser Verhalten auch die Voraussetzungen schaffen. Darüber sollten wir uns alle Gedanken machen.
Frage: Ich habe manchmal den Eindruck, dass die Tibeter im Exil negativ über die Tibeter in Tibet denken. Ich habe aber auch die große Hoffnung, dass Tibet in Zukunft freier wird und die hunderttausend Tibeter im Exil, die zum großen Teil staatenlos sind, zurückkehren. Wie könnte das funktionieren? Es würden bestimmt Probleme entstehen, oder würde sich diese Situation auf natürliche Weise von selbst lösen?
Antwort: Es stimmt, diese Situation gibt es leider in unserer Gesellschaft. Zwei Punkte kann ich dazu sagen. Die Tibeter, die zuerst aus Tibet nach Indien kamen, sind ein Aspekt. Ein anderer sind die später nachgekommenen jungen Tibeter. Letztere haben oft eine gute Bildung. Sie wissen schon vieles über die Welt, z.B. über Literatur und Kultur, sie sind nicht auf Tibet beschränkt, sondern allgemein interessiert.
Die Tibeter der ersten Generation in Indien haben sich leider nicht so weiter entwickelt. Z.B. lese ich sowohl aus Tibet kommende als auch von im Exil lebenden Tibetern verfasste Artikel, Berichte oder Bücher. Das sprachliche Niveau der Bücher aus Tibet ist viel höher als das der Exiltibeter. Das exiltibetische Niveau ist haarsträubend: Insbesondere sind aus meiner Sicht heutzutage ihre Berichte und Nachrichten im Internet inhaltlich naiv und sprachlich schlecht. Durch diese Unterschiede entsteht Neid, und viele Tibeter aus Tibet sind manchmal – auch durch die chinesisch geprägte Sozialisation – erbarmungslos. So kommen Diskrepanzen und Komplikationen zustande.
Frage: Durch die Flucht sind viele Rinpoches in den Westen gekommen und haben hier Zentren und Klöster gegründet. Es sind viele Sanghas in allen Traditionen entstanden. Welche Bedeutung haben sie in dem gesamten Gefüge und welche Bedeutung haben die Lehrer im Westen? Wir westlichen Sangha-Mitglieder sind keine Tibeter, und wir verhalten uns auch anders, trotzdem gehören wir zum Gefüge des tibetischen Buddhismus dazu. Wie ordnen Sie die vielen Praktizierenden aus dem Westen ein?
Antwort: Das ist ein kompliziertes, aber wichtiges Thema. Ich möchte dazu etwas ausführlicher antworten. Dass diese Möglichkeiten im Westen entstanden sind, ist weder nur wunderbar noch könnte ich sagen, dass es schlecht ist, es ist beides. Zu siebzig oder achtzig Prozent ist es positiv, der Rest hält sich in Grenzen. Viele gute Lehrer – ich sage extra nicht Rinpoches oder Geshes etc. – haben die Möglichkeit bekommen, den interessierten Westlern, oder genauer gesagt, den Interessierten aus anderen Ländern, buddhistische Inhalte vorzustellen. Das ist eine wunderbare Sache. Es gibt aber nicht wenige Menschen, die zwar als Lehrer fungieren, eigentlich jedoch gar nicht die Fähigkeiten dazu besitzen. Stattdessen sind sie nur am eigenen Wohlbefinden und an materiellen Gütern interessiert. Sie haben ungenügendes Wissen und geben ungenügendes Wissen weiter, behaupten aber das Gegenteil. Auf diese Weise sind viele Missstände entstanden.
Dazu noch ein Beispiel: Es wurde mir neulich von meinem Schwager, der dort zu Besuch war, von einem früher hoch angesehenen Nyingmapa Kloster aus Osttibet, berichtet. Dieses Kloster hat ungefähr hundert Mönche, von denen mindestens vierzig bis fünfzig, auch junge, regelmäßig nach China gehen und den Chinesen sogenannte Dharmas geben. De facto sammeln sie Geld. Das Kloster und die Mönche selbst sind so reich geworden, dass heutzutage in dieser Gegend ein Mönch ohne Motorrad undenkbar ist. Es ist quasi beschämend, wenn ein Mönch kein Motorrad hat. So weit ist es gekommen.
So schlimm ist es im Westen noch nicht, aber auch hier gibt es viele Missstände. Die am Buddhismus Interessierten aus vielen verschiedenen Ländern sind nicht wirklich verantwortlich, da sie gar nicht über die notwendigen Hintergrundinformationen verfügen. Buddhismus ist nicht in ihrer Kultur verankert, sondern zunächst ganz und gar fremd. Ihre Denkweise ist daher eher naiv, sie meinen, der Lama müsse heilig und weit entwickelt sein, er müsse dieses und jenes erlangt haben, und also müssten seine Worte und Handlungen schon richtig sein.
Unter diesem Deckmantel geschieht vieles, was nicht positiv ist. Ich betone immer wieder – entsprechend den Äußerungen des Dalai Lama damals in England –, dass es in Zukunft deutschen Buddhismus, amerikanischen Buddhismus usw. geben wird. Das ist auch völlig in Ordnung, aber Buddhisten müssen genau wissen, was die vier edlen Wahrheiten bedeuten und dementsprechend praktizieren, ohne kulturelle Einfärbung. Sich auf den echten Inhalt zu konzentrieren ist wichtig, denn wir wollen die Essenz des Buddhismus vermitteln.
Es werden Kataks benutzt und Throne gebaut etc., so hat es sich eben ergeben, niemand wurde dazu gezwungen, aber besonders gut ist das nicht. Tibetische Kultur kann nur von Tibetern gelebt werden, sie können das besser. Die anderen sollten entsprechend ihrer Kultur z.B. Verehrung zeigen und nicht wie ein Tibeter die Zunge herausstrecken, wenn ein Lehrer kommt. Das ist nicht der richtige Weg. Wenn ich in Tibet bin und mir entsprechend der tibetischen Tradition Verehrung gezeigt wird, ist das o.k., das kann ich akzeptieren. Wenn ich aber im Westen oder in Singapur bin und Unterweisungen gebe, ist mir viel wohler, wenn mir die Menschen entsprechend dortiger Gepflogenheiten begegnen, ohne großartige Gesten nach tibetischem Stil. Menschen, die nicht aus Tibet kommen, sind letztlich nicht in der Lage, sich wie Tibeter zu verhalten, deshalb sollten sie es lieber lassen, das ist viel vernünftiger. Manche finden die kulturellen Prägungen vielleicht interessant oder schön, legen ihren Schwerpunkt darauf und vernachlässigen dadurch den Buddhismus, das ist nicht wünschenswert.