Der Dorje Shugden Konflikt
Interview mit dem Tibetologen und Gründer von TibetInfoNet, Thierry Dodin
8. Mai 2014
Worum geht es eigentlich beim Dorje Shugden-Konflikt?
Dieser Konflikt ist im 17. Jahrhundert entstanden und hat sich seitdem auf vielen Ebenen abgespielt. Im Wesentlichen geht es um die Frage, ob die vier Hauptschulen des tibetischen Buddhismus – Nyingmapa, Sakyapa, Kagyupa und Gelugpa – gleichberechtigt sind oder ob eine davon, die Gelugpa-Schule, „reiner“ ist und deshalb höher steht. Die Gelugpa-Schule ist übrigens die, zu der auch der Dalai Lama gehört.
Will also der Dalai Lama seine Schule dominant machen?
Nein, eben nicht! Innerhalb der Gelugpa-Schule gibt es zwei Strömungen: eine – hauptsächlich Dorje Shugden-Unterstützer –, die behauptet, diese Schule sei den anderen Schulen überlegen, und eine andere, die – wie der Dalai Lama – tolerant denkt. Der Dalai Lama hat das Einvernehmen und die Zusammenarbeit mit den anderen Schulen des tibetischen Buddhismus vorangetrieben und vertieft. Und dagegen wenden sich die Anhänger des Dorje Shugden-Kultes. Sie betrachten das als Herabwürdigung der Gelugpa-Schule und werfen dem Dalai Lama vor, er verwässere die „reine Lehre“.
Also handelt es sich um einen rein religiösen Konflikt?
Nein, eigentlich nicht. Zwischen den verschiedenen Schulen des tibetischen Buddhismus gibt es keine gravierenden Unterschiede in Bezug auf die Lehrmeinungen, und schon gar nicht innerhalb ein und derselben Schule. Problemträchtig sind die sogenannten Überlieferungslinien: In den einzelnen Schulen werden Unterweisungen vom Lehrer an den Schüler und von Generation zu Generation in ununterbrochener Folge weitergegeben, und zwischen diesen verschiedenen Überlieferungslinien bestehen manchmal sehr krasse Rivalitäten, ähnlich wie bei Seilschaften. Wohlgemerkt, es geht hier vor allem um Gruppenidentität, um ein Wir-Gefühl. Diese Erscheinungen kann man ganz klar in die Kategorie Politik einordnen, schon deshalb, weil damit Machtfragen verbunden sind. Es geht dabei z. B. um Eigentum an Klöstern oder, im alten Tibet, an Ländereien etc. Vom Wunsch nach Macht, Status und Besitz, der Un-Heiligen Dreifaltigkeit, bleibt also auch der buddhistische Orden nicht verschont – Menschen bleiben nun einmal Menschen.
Aber man muss auch ergänzen, dass dieser essenziell politische und sehr menschliche Zug dadurch eine religiöse Bedeutung erhält, dass im tibetischen Buddhismus die Lehrer-Schüler-Beziehung eine sehr große Rolle spielt. Die Loyalität zum Lehrer wird sehr stark empfunden. Das macht es den Schülern dann schwer, Traditionen, die sie von ihrem Lehrer empfangen haben, wie z.B. den Shugden-Kult, kritisch zu hinterfragen, geschweige denn, sich davon zu distanzieren.
Steht das nicht in krassem Widerspruch zur Aufforderung des Buddha an seine Schüler, selbst seine Worte immer wieder zu hinterfragen?
Doch, das ist eindeutig ein Widerspruch zu diesem Kardinalpunkt in der Lehre des Buddha. Doch der Mensch ist nun mal nicht Rationalwesen allein. Selbst wenn er es besser weiß, wird er immer gute Gründe finden, das zu glauben, was ihn irgendwie in der Komfortzone hält. Es ist immer leichter etwas „wegzuglauben“, als vertraute Vorstellungen in Frage zu stellen und dafür Schmerzen in Kauf zu nehmen. Das ist für den religiösen Menschen wie für den nicht-religiösen Menschen so.
Wie ist der Konflikt historisch entstanden?
Im 17. Jahrhundert hat der Fünfte Dalai Lama Tibet politisch geeint. Dabei hat er aus realpolitischen Erwägungen heraus seine Schule, die Gelugpa-Schule, als institutionellen Rückhalt genutzt und vorrangig mit Ämtern und Aufgaben bedacht. Er brauchte eine loyale Institution sozusagen zur politischen Rückendeckung. Aber in religiöser Hinsicht war er wirklich tolerant: Einige seiner wichtigsten Lehrer gehörten sogar anderen Schulen an.
Deshalb hat er beim Aufbau des tibetischen Staates – seine große politische Leistung – nicht nur seine Gelugpa-Schule berücksichtigt, sondern hat einige Institutionen und Staatsrituale auch anderen Schulen anvertraut. Diese Geste hat aber mächtige Mitglieder der Gelugpa-Schule aufgebracht, die einen Ausschließlichkeitsanspruch für ihre Schule vertraten. Diese Kritiker bildeten eine Gruppe um den Kult einer bis dahin wenig bekannten sog. Schutzgottheit mit Namen Dorje Shugden. Das bedeutet jedoch nicht automatisch, dass die Gruppe religiöser Natur war. Es war im alten Tibet durchaus üblich, auch sehr weltliche Dinge einer Art sakralem Schutz zu unterstellen.
Nach dem Tod des Fünften Dalai Lama 1682 verbreitete sich der Kult sehr stark innerhalb der Gelugpa-Schule, besonders in den politisch relevanten Bereichen. So kam es im Laufe der Zeit dazu, dass die Anhänger des Shugden-Kultes die staatlichen Strukturen des alten Tibet fast vollständig dominierten und auch in den ersten Jahren des Exils in Indien und Nepal – bis in die 1970er Jahre hinein – in den Exilinstitutionen Ton angebend waren. Die Shugden-Verehrung gab dabei der Abgrenzung gegenüber den Nicht-Gelugpa-Schulen eine religiöse Dimension. Der Hauptpunkt aber war die Monopolisierung von Macht und Ressourcen in den Händen einer eingeschworenen Gemeinschaft, also ganz klar eine politische Angelegenheit.
Welche Rolle spielt der gegenwärtige Dalai Lama in diesem Konflikt?
Ihm ist es zu verdanken, dass in den 1970er Jahren langsam eine tolerantere Strömung aufkam, die eher pluralistisch und demokratisch gesonnen war und sich nach und nach gegen die konservative „alte Garde“ – meist Shugden-Anhänger – durchsetzte. Etwa gleichzeitig begann der Dalai Lama, sich skeptisch gegenüber diesem Kult zu äußern. Mit der Zeit wurde seine Position dazu immer deutlicher. Heute ist die Gruppe der Shugden-Befürworter in der Exilgemeinschaft politisch fast völlig bedeutungslos.
Die Shugden-Anhänger werfen dem Dalai Lama vor, er habe diese Praxis mit einem „Verbot“ belegt und unterdrücke damit die Religionsfreiheit. Ist diese Anschuldigung gerechtfertigt?
Nein, ein solches Verbot besteht nicht. Hier geht es nicht um Religionsfreiheit. Niemand, und ganz sicher nicht der Dalai Lama, unterdrückt die Religionsfreiheit. Es geht hier um Macht und Einfluss. Der Dalai Lama hat lediglich von diesem Kult abgeraten. Er weiß wohl auch um das schmerzhafte Dilemma, vor dem viele Shugden-Anhänger stehen, wenn es darum geht, einen Kult aufzugeben, den sie von ihrem Lehrer erhalten haben. Technisch betrachtet könnte der Dalai Lama ein solches Verbot ohnehin nicht erlassen. Er ist ja niemandem gegenüber weisungsbefugt, wie es zum Beispiel in der katholischen Kirche der Papst ist. Er ist nicht einmal, wie vielfach fälschlicherweise angenommen wird, das Oberhaupt der Gelugpa-Schule – das ist der Ganden Tripa.
Wohl aber hat er diejenigen, die den Kult weiterhin betreiben, gebeten, nicht an Unterweisungen oder Ermächtigungen teilzunehmen, die er gibt. Damit hat er eine Art ‚Knautschzone’ geschaffen. Wahrscheinlich auch mit dem Gedanken, dass jeder Ablösungsprozess Zeit braucht. Als sich aber herausstellte, dass die Gruppe sich in Schlüsselklöstern in Süd-Indien festgesetzt hatte, forderte er die restlichen Mönche auf, klare Verhältnisse zu schaffen. Die Shugden-Anhänger mussten sich dann in Klöster zurückziehen, die ausschließlich diesem Kult gewidmet waren, oder sie gründeten neue an anderen Orten. Es ging also darum, eine deutliche Trennung zu schaffen, und nicht darum, die Shugden-Gruppe zu vernichten, wie diese manchmal behauptet.
Bedenkt man, dass die Shugden-Gruppe einst die tibetische Politik und die Gelugpa-Schule in sehr sektiererischer Weise dominiert hat – ein Zustand, den die Demokratie und nicht zuletzt das Wirken des Dalai Lama mittlerweile beseitigt haben –, dann kann man verstehen, warum einige einflussreiche Shugden-Anhänger den Dalai Lama hassen und ihm möglichst großen Schaden zufügen möchten.
Ein weiterer Vorwurf gegen den Dalai Lama ist, dass er und die Tibetische Zentralverwaltung (früher auch als Exilregierung bekannt) Shugden-Anhänger von medizinischer Versorgung und Ausbildung ausschlössen und ihnen Ausweispapiere versagten.
Es ist richtig, dass der Kult sozial geächtet wird. Dass die verbliebenen Anhänger aber aufgrund einer offiziellen Direktive systematisch ausgegrenzt würden, kann man so nicht stehen lassen. Schon deswegen nicht, weil sie von sich aus in Gruppen, weitgehend abgegrenzt von der restlichen Gemeinschaft, leben.
Wie immer bei sozio-politischen Auseinandersetzungen kam es in der Tat hier und da zu unerfreulichen Zwischenfällen. Doch kann man den Dalai Lama nicht für die Taten einiger Übereifriger verantwortlich machen: Er hat weder dazu aufgerufen, noch ihre Taten hinterher gebilligt. Außerdem sind solche Zwischenfälle in Zahl und Schwere von Shugden-Propagandisten maßlos übertrieben worden. – Ja, es hat durchaus gesellschaftliche Spannungen gegeben, Gewalt blieb aber die Ausnahme. Die Spannungen haben sich eher in hitzigen Debatten, in Demonstrationen und Boykotts entladen. Und wenn man bedenkt, dass das Problem bereits seit dem späten 17. Jahrhundert besteht und schon im alten Tibet zu starken Spannungen, ja sogar zu lokalen Kriegen geführt hat, so muss man sagen, dass dieser Konflikt in den letzten 30 Jahren im Großen und Ganzen recht friedlich verlief. Aber es soll hier nicht bezweifelt werden, dass es, wenn es um den Dalai Lama geht, durchaus so etwas wie vorauseilenden Gehorsam unter Tibetern gibt, dabei wird schon mal Übereifer an den Tag gelegt, der nicht immer der intendierten Sache dient. Die tibetische Gesellschaft ist tendenziell eher konservativ als liberal. Das kann schon zu Problemen führen.
Könnte der Dalai Lama derartigen Übergriffen nicht einfach Einhalt gebieten, indem er seine Landsleute aufruft, dies zu unterlassen?
Dies ist eine polemische Frage, sie insinuiert, dass es über längere Zeit zu zahlreichen und heftigen Zwischenfällen gekommen wäre. Das ist aber nicht der Fall.
Spielt China eine Rolle in diesem Konflikt?
Wie gesagt, die Shugden-Frage hat Tibet in den letzten 300 Jahren beschäftigt. Dabei haben sowohl die Shugden-Anhänger wie auch die jeweiligen Herrscher in China immer wieder versucht, mal mehr, mal weniger geschickt, sich gegenseitig für ihre jeweiligen Machtspiele einzuspannen. Mal waren sie dabei einander nah, mal waren sie Feinde.
Gegenwärtig stehen der Dalai Lama und die Shugden-Anhänger in Opposition zueinander, daher liegt es nahe, dass China diese Situation ausnutzt und von staatlicher Seite her alles dazu tut, den Kult zu fördern. So wird z.B. der Aufbau von Shugden-Tempeln und Klöstern finanziell unterstützt. Wir wissen auch, dass die Lehrer des jungen Mannes, der 1995 gegen den Willen des Dalai Lama von der chinesischen Führung zum Panchen Lama ernannt wurde, fast alle der Shugden-Gruppe angehören. Ich denke, diese Beispiele zeigen deutlich, welche Rolle China in diesem Konflikt spielt.
Das übrigens führt vor allem in Tibet selbst zu weiteren Spannungen. Wie erwähnt, fällt es manchen Shugden-Anhängern schwer, den Kult aufzugeben. Das ist natürlich besonders bei älteren Mönchen der Fall. Diese mögen den Kult weiter betreiben, tun das aber diskret, auch weil sie den Dalai Lama als Person und als Institution weiterhin verehren. Die Verunglimpfung des Dalai Lama durch China und Chinas offensichtlich nicht religiös bedingte Unterstützung für den Kult stellen sie natürlich vor weitere ethische Probleme.
Ist der Kult auch im Westen verbreitet?
Es gibt derzeit drei unterschiedliche Shugden-Gruppen. Eine davon, die unter der Führung von Lama Gangchen operiert – er lebt in Rom –, steht in sehr enger Beziehung zu China. Diese Gruppe ist bemüht, den Kult in Tibet in Gegenden wiederaufleben zu lassen, wo er so gut wie verschwunden war. Ihre Mitglieder arbeiten auch eng mit einer Gruppe von chinesischen Anhängern des tibetischen Buddhismus zusammen, die international von Singapur aus operiert.
Dann gibt es noch eine zweite – kleine – Shugden-Gruppe, die fast ausschließlich aus Tibetern besteht. Die meisten von ihnen leben in Indien, aber einige auch in der Schweiz. Leitfigur war für viele Jahre Dagom Rinpoche. Nach dessen Tod hat Lobsang Yeshi diese Rolle übernommen. Er selbst sieht sich als Reinkarnation von Kundeling Rinpoche, einen wichtigen Lama der Gelugpa Tradition. Viele betrachten ihn jedoch als Usurpator und verspotten ihn als „Nga-Lama“ („Ich-Lama“). Es gibt einen anderen Kundeling Rinpoche, der offiziell — auch vom Dalai Lama — anerkannt wird.
Bekannt ist im Westen vor allem die dritte Gruppe, die New Kadampa Tradition (NKT). Sie wurde von Geshe Kelsang Gyatso gegründet, einem Gelehrten, der sich vom Dalai Lama lossagte, als dieser offen erklärte, dass er den Kult ablehne. Die NKT kann man aufgrund ihrer Organisationsform, dem überstarken Gruppenzwang und dem blinden Gehorsam ihrem Gründer gegenüber typologisch als Sekte bezeichnen. Auch der extreme Fanatismus und der aggressive Missionierungsdrang, die von ihnen ausgehen, sind ein typisches Merkmal dafür. Es ist diese Gruppe, die seit den 1990er Jahren, wann immer der Dalai Lama in den Westen reiste, spektakuläre Demonstrationen veranstaltet hat. Tibeter sind in der NKT sehr spärlich vertreten. Die Demonstranten sind fast ausschließlich westliche Mönche und Nonnen, die in der NKT nach deren eigenem Ritus ordiniert wurden.
Arbeiten diese drei Gruppen zusammen?
Die Beziehungen zueinander sind recht komplex. Das ist schon durch die Sektenartigkeit gegeben, die ja Führungspluralität nicht gerade fördert. Dann gibt es auch Unterschiede in der Haltung zu China. Gangchen Lama, wie gesagt, arbeitet eng mit den chinesischen Autoritäten zusammen. Geshe Kelsang Gyatso und seine NKT sind deutlich distanzierter. Auch die ‚Kundeling-Gruppe’ gerät mehr und mehr unter den Einfluss Chinas. Es gibt aber auch Widerstand, da einige Mitglieder früher gegen China gekämpft haben. Die beiden letzten Gruppen arbeiten bei Demonstrationen gegen den Dalai Lama wenigstens informell zusammen. Die Demonstrationen werden aber primär von der NKT organisiert und durchgeführt.
Singapur ist zu einer Shugden-Hochburg geworden, wohl finanziert durch China. Von dort aus wird versucht, die Shugden-Bewegung zu einigen, um sie effizienter zu machen – offenbar mit Erfolg.
Kämpft die Shugden-Gruppe tatsächlich gegen religiöse Unterdrückung und Verfolgung und für religiöse Freiheit, wie sie behauptet? Ihre Kampagne insinuiert ja, dass sie massivster Verfolgung ausgesetzt sei.
Nun, wenn wir das logisch betrachten, dann haben wir folgende Fakten: Der Dalai Lama rät von einem Kult ab, den er für eine falsche Entwicklung innerhalb seiner Gelugpa-Schule hält. Er ruft aber nicht dazu auf, die Anhänger zu vernichten oder ihre Klöster anzugreifen, sondern besteht lediglich auf einer deutlichen Trennung im monastischen Bereich. Also, der Dalai Lama hat sich von der Shugden-Gruppe distanziert, und diese hat sich von ihm losgesagt. Damit bestehen an und für sich keine Überschneidungen mehr, keine Interferenzen mit den Angelegenheiten des anderen. Von daher kann es auch keine Unterdrückung geben – umso weniger als die Shugden-Gruppe, so z.B. die Internationale Shugden-Gemeinschaft, in ihren Broschüren behauptet, dieser Dalai Lama sei gar nicht der richtige Dalai Lama. Warum sollten sie sich von einem „falschen Dalai Lama“, den sie nicht anerkennen, überhaupt etwas verbieten – oder erlauben – lassen? Das macht doch keinen Sinn!
Was wir hier sehen, ist ein Versuch, den Ruf des Dalai Lama als Befürworter von Menschenrechten, Toleranz und Friedfertigkeit zu demontieren. Ein Versuch, der mit besonders fanatischem Eifer von den neueren westlichen Anhängern des Kultes betrieben wird. Die Frage heißt: Cui bono? ■