Tibetische Interpretationen der Buddhanatur im Vergleich

Klaus-Dieter Mathes
Institut für Südasien-, Tibet- und Buddhismuskunde
Universität Wien

Die Lehre, dass alle Lebewesen das Potenzial besitzen, ein Buddha zu werden, gelangte vor allem in Tibet zu großer Bedeutung, wo es von den verschiedenen Schulen sehr kontrovers diskutiert wurde. Die weit gefächerte Palette der vertretenen Positionen reicht von einer vollkommenen Verneinung der Buddhanatur über eine Entkräftung dieser Lehre durch eine Gleichsetzung mit der Leerheit bis hin zu der Auffassung, dass alle Lebewesen schon einen vollkommenen Buddha mit allen Qualitäten in sich haben, es aber noch nicht wissen. Die Exegeten stritten sich aber nicht nur über die Frage, ob die Buddha-Qualitäten gar nicht, nur in subtiler Form oder gar voll entwickelt in Lebewesen vorhanden sind, sondern auch darüber, wie man das Verhältnis zwischen der Buddhanatur und den welt-konstitutiven Faktoren zu fassen hat, und auch ob die entsprechenden Worte des Buddha wörtlich zu nehmen sind oder nicht.

Bevor ich aber die einzelnen Positionen genauer erläutere, möchte ich einen kurzen Überblick über die Entwicklung der Lehre von einer Buddhanatur geben. Ein wichtiger Vorläufer befindet sich im Avataṁsakasūtra, und zwar im Abschnitt über das Erscheinen eines Tathāgata:

Es gibt niemanden unter der Gruppe der Lebewesen, in dessen Körper die Weisheit des Buddha nicht vordringt. Dennoch kann man die Weisheit des Buddha aufgrund falscher Vorstellungen nicht erkennen. Indem diese Vorstellungen beseitigt werden, kann diese Weisheit der Allwissenheit, selbst-entstandene Weisheit, unbehindert in Erscheinung treten. …

Es folgt das bekannte Beispiel des feinen Seidentuchs, auf dem sich eine Karte des gesamten Universums im Maßstab 1:1 befindet. Zusammengefaltet passt es in ein einziges Atom hinein. In gleicher Weise befindet sich die unermessliche Weisheit eines Buddha in jedem Lebewesen. Im Sūtra heißt es dann weiter:

Ich werde versuchen, durch die Lehre des edlen Pfads alle durch Konzepte hervorgerufenen Verstrickungen in den Lebewesen zu beseitigen, derart dass sie selbst durch die Kraft des edlen Pfads den großen Knoten der Konzepte durchtrennen, die Weisheit des Tathāgata erkennen und eines Tathāgatas ebenbürtig werden.

Hier begegnen wir zwei wichtigen Konzepten, die bei der Formulierung der Lehre von der Buddhanatur eine bedeutende Rolle spielen. Zum einen wird hier gesagt, dass die Weisheit des Buddha zu allen Lebewesen vordringt, so dass ihnen seine unterstützende Aktivität auch unmittelbar zuteil werden kann. Zum anderen müssen sie aber auch aus einer Kraft den Weg gehen und ein Buddha werden. D.h., obwohl alle Lebewesen in der Weisheit des Buddhas enthalten sind, müssen sie offensichtlich auch ihre eigene Buddha-Weisheit realisieren und manifestieren.

Der früheste indische Text über die Buddhanatur ist das sog. Tathāgatagarbhasūtra, das nach Zimmermann nicht später als im 3. Jh. n. Chr. niedergeschrieben worden sein dürfte. Kern dieses Sūtras über die Buddhanatur bilden neun anschauliche Beispiele, wie sich hinter der Hülle spiritueller Befleckungen ein Buddha verbirgt. Die meisten Beispiele, wie etwa die Buddhas in den noch verschlossenen Lotosblumen, der von Bienen umkreiste Honig, die Frucht in einer Hülse, die in Exkremente gefallene Goldmünze oder aber der unter einem Haus vergrabene Schatz, lassen keinen Zweifel über die Intention des Sūtras zu: Alle Lebewesen besitzen eine Buddhanatur, die sich in keinster Weise von einem Buddha unterscheidet, außer dass sie noch hinter einer Hülle von spirituellen Befleckungen entdeckt werden muss. Am deutlichsten wird dies bei dem letztgenannten Beispiel des unter einem Haus begrabenen Schatzes, wonach die Buddhanatur explizit mit den 32 Qualitäten des dharmakāya gleichgesetzt wird. Etwas aus der Reihe tanzen allerdings die Beispiele des unzerstörbaren Samens, der bereits den Spross des zukünftigen Baums enthält und das Beispiel des zukünftigen Weltenherrschers, der erst noch im Mutterleib seiner armen und schutzlosen Mutter heranwachsen muss. Bei objektiver Betrachtung muss man allerdings zugestehen, dass das Sūtra mit diesen beiden Beispielen nicht einen Gesichtspunkt der Entfaltung oder des Heranwachsens in den Vordergrund stellen will, sondern im Falle der schutzlosen Frau eher den Umstand betont, dass sich letztere als zukünftige Mutter des Weltenherrscher bereits in Sicherheit befindet, ohne es zu wissen. Auch im Falle des Samens und des Baums liegt die Betonung auf der Unzerstörbarkeit des Samens, der bereits den Spross und somit quasi die Frucht enthält. Dennoch bieten die Beispiele des Samens und des Embryos einen ersten Ansatzpunkt für Exegeten, die ein Heranwachsen subtiler Qualitäten vertreten oder gar der Meinung sind, dass Buddha-Qualitäten von Grund auf neu erworben werden müssen.

Auch ein Vergleich mit verwandten Sūtras über die Buddhanatur zeigt, dass eine solche Umdeutung des Tathāgatagarbhasūtra schwer zu rechtfertigen ist. So heißt es z.B. im Āryaśrīmālādevīsūtra:

Die Buddhanatur ist leer von der Hülle all der Befleckungen, die abtrennbar sind und als etwas erkannt werden, das nicht verbunden ist. Sie ist nicht leer von all den unvorstellbaren Buddha-Qualitäten, die nicht abtrennbar sind und die nicht als etwas erkannt werden können, das nicht verbunden ist (sie werden also ausschließlich als etwas erkannt, das verbunden ist). Sie übersteigen die Zahl der Sandkörner des Flusses Gaṅgā.

Mit anderen Worten, die Buddhanatur ist untrennbar mit den zahllosen Buddha-Qualitäten verbunden und zwar durchaus in dem Sinne, dass alle Lebewesen bereits mit diesen Qualitäten ausgestattet sind. Das daraus resultierende Paradoxon, dass dann ja z.B. Weisheit und Unwissenheit in ein und demselben Bewusstseinsstrom koexistieren, wird im Śrīmālādevīsūtra dann auch direkt angesprochen:

Devi, zwei Punkte sind schwer zu begreifen, der Geist in seiner natürlichen Reinheit und die Tatsache, dass eben dieser Geist befleckt ist. Diese zwei Punkte, Devi, verstehst entweder Du oder aber die Bodhisattvas, die im Besitz der großen Lehre sind. Devi, für die übrigen, alle Śrāvakas und Pratyekabuddhas, gilt, dass sie diese beiden Punkte nur durch Vertrauen in den Tathāgata erfassen werden.

Ebenso deutlich ist der Anūnatvāpūrṇatvanirdeśa, in dem die Buddhanatur explizit mit dem dharmakāya, also einem voll entwickelten Buddha gleichgesetzt wird:

Śāriputra, das Höchste ist ein Synonym für das [Buddha-]Element der Lebewesen. Und das [Buddha-]Element der Lebewesen, Śāriputra ist ein Synonym für den dharmakāya.

Wenden wir uns nun dem wichtigsten indischen Lehrwerk über die Buddhanatur, dem Ratnagotravibhāga (RGV), zu. Takasaki und Schmithausen haben gezeigt, dass der RGV aus mehreren Schichten besteht. Grob vereinfacht kann man einen relativ kleinen Kern von Grundversen herausschälen, zwischen die zunächst kommentierende Verse und dann noch kommentierende Prosa eingefügt worden sind. Diese erweiterte Form des RGV, die in großen Teilen bereits im 5. Jh. unserer Zeitrechnung vorgelegen haben dürfte (der terminus ante quem ist 508, das Jahr, in dem Ratnamati, der das Werk ins Chinesische übertrug, Indien verließ), weist eine heterogene Struktur auf, die die Vielzahl tibetischer Interpretationen erst ermöglicht. Es lassen sich aber bereits in den Grundversen Bestrebungen erkennen, die ursprüngliche Aussage der Tathāgatagarbhasūtras zu relativieren.

Damit kein falscher Eindruck entsteht, muss man zunächst einmal zugestehen, dass ein Großteil des RGV in Anlehnung an die o.g. Sūtras Buddhanatur in dem Sinne fasst, dass alle Lebewesen in ihrem Inneren ein natürlich reines Element besitzen, das unabtrennbar mit den Buddha-Qualitäten verbunden ist. Aufgrund akzidentieller, oder äußerlicher Makel kann man seine eigene Buddhanatur aber nicht erkennen. Am besten bringen dies zwei viel zitierte Verse am Ende des ersten Kapitels des RGV zum Ausdruck:

Es gibt nichts, was von der [Buddhanatur] entfernt werden muss, noch gibt es irgend etwas hinzuzufügen.
Man soll die Realität sehen, so wie sie ist. Und wer die Realität richtig sieht, wird befreit. (RGV I.154)

Das [Buddha-]Element ist leer vom Akzidentiellen, das die Eigenschaft besitzt, abgetrennt werden zu können.
Es ist nicht leer von unübertrefflichen Qualitäten, die nicht abgetrennt werden können. (RGV I.155)

In der Ratnagotravibhāgavyākhyā (RGVV) dazu heißt es: Was wird hiermit gezeigt? Es gibt kein Merkmal der gesamten Befleckungen, das man von diesem natürlich reinen Buddha-Element entfernen müsste, da es seinem Wesen nach leer von akzidentiellen Makeln ist. Noch müssen irgendwelche Merkmale der Läuterung hinzugefügt werden, da es seinem Wesen nach nicht von der wahren Natur der reinen Buddha-Eigenschaften abgetrennt werden kann.

In der RGVV folgt dann das bereits weiter oben angeführte Zitat aus dem Śrīmālādevīsūtra. Die Aussage kann nicht eindeutiger sein. Die Buddhanatur ist leer von spirituellen Befleckungen, und zwar dergestalt, dass sie nicht ihr wahres Wesen berühren. Letzteres ist seit jeher rein und mit Buddha-Qualitäten versehen, d.h., die Buddhanatur ist nicht leer von seinen eigenen unabtrennbaren Eigenschaften. Wichtig scheint mir hier auch die strikte Trennung zwischen der reinen Buddhanatur auf der einen, und den wörtlich „von außen hinzugetretenen“ geistigen Befleckungen zu sein. Das gzhan stong („Leer[heit] von anderem“) der Jonangpa-Schule bedeutet genau das.

Sollte man aber Schwierigkeiten mit solch einer Position haben, so bietet der RGV vereinzelt auch Ansatzpunkte für alternative Interpretationen. Zunächst kann man sich die Frage stellen, ob das Lehrwerk alle Buddha-Qualitäten in gleicher Weise darstellt. Im dritten Kapitel werden die 32 Qualitäten des absoluten kāyas, d.i., des dharmakāyas, von den 32 eher körperlichen Merkmalen eines großen Wesens unterschieden. Die ersten 32 Eigenschaften sind geistiger Natur, es sind die zehn Kräfte des Wissens, die vier Furchtlosigkeiten und die 18 exklusiven Eigenschaften eines Buddha wie etwa, dass er frei von Irrtum, ohne grobe Rede oder nicht vergesslich ist. Laut RGV I.149-152 erlangt man den svābhāvikakāya und somit auch die 32 Qualitäten des dharmakāya aufgrund des natürlich vorhandenen Potenzials, und die Form-kāyas samt den 32 Merkmalen eines großen Wesens aufgrund des Potenzials, das man sich durch eigene Anstrengung angeeignet hat. Im zweiten Kapitel des RGV ist dann noch die Rede von den Qualitäten der höchsten Wahrheit oder des svābhāvikakāyas. So werden in RGV II.29-37 mit der Bemerkung, dass der Raum das endgültige und exklusive Merkmal aller Buddhas ist, 15 Merkmale des Absoluten (unvorstellbar, ewig, dauerhaft, friedvoll, alles durchdringend, um nur einige zu nennen) vorgestellt. Über den svābhāvikakāya heißt es dann etwas weiter unten im Text:

Da er seinem Wesen nach der dharmadhātu ist, ist [der svābhāvikakāya] von lichthafter Natur und rein. Der svābhāvikakāya ist mit Qualitäten verbunden, die unermesslich, zahllos, unvorstellbar, unvergleichlich und in einem Zustand endgültiger Reinheit sind.

Nun kann man einige Passagen des RGV durchaus in dem Sinne deuten, dass nur diese Qualitäten des svābhāvikakāya seit anfangsloser Zeit in der Buddhanatur der Lebewesen existieren, mit anderen Worten, die 32 Qualitäten des dharmakāya und die 32 körperlichen Merkmale eines Buddhas entfalten sich oder entstehen erst auf dem Weg.

Für eine solche Interpretation könnte man auch anführen, dass bei der Wiedergabe des fünften Beispiels des Tathāgatagarbhasūtras im RGV die 32 Qualitäten des dharmakāyas nicht genannt werden. Es ist nämlich nur von einem „Schatz der Eigenschaften“ (dharmanidhi) die Rede, der dann interessanterweise gegen Ende des ersten Kapitels nicht für die 32 Qualitäten selbst, sondern nur für das natürliche Potenzial steht, aus dem diese 32 Qualitäten hervorgehen. Es lassen sich noch einige andere Stellen anführen. So heißt es in RGV III.4 von den zehn Kräften eines Buddhas, dass sie wie ein Vajra die Hindernisse der Unwissenheit zerstören. Wie sollen solche voll entfalteten Kräfte aber seit anfangsloser Zeit in ein und demselben Bewusstseinsstrom zusammen mit den Hindernissen der Unwissenheit existieren?

Das wichtigste Argument aber ist Vers I.27, einer der älteren Verse des RGV, in dem drei Gründe für das Vorhandensein einer Buddhanatur genannt werden. Der dritte Grund lautet, dass das Potenzial im übertragenen Sinne nach seiner Wirkung benannt wurde. Diese Aussage gleicht einem Freibrief, die zahlreichen eindeutigen Gleichsetzungen der Buddhanatur mit dem dharmakāya zu relativieren. Dass dieser Vers problematisch für die Vertreter des gzhan stong ist, erkennt man daran, dass ein wichtiger Vertreter der Jonang-Schule, Sa bzang Mati Paṇ chen (1294-1376), Skt. upacāra nicht wie üblich mit nye bar bdags pa, „etwas im übertragenen Sinne benennen“, sondern mit nye bar spyod pa „genießen“ übersetzt, was zunächst überhaupt keinen Sinn ergibt. Dies ist aber nicht unüblich bei tibetischen Übersetzungen indischer Lehrwerke, und Mati Paṇ chen kommt uns ja auch gleich mit folgender Erklärung zu Hilfe:

Alle Lebewesen besitzen die Buddhanatur, da das Potenzial bzw. das Buddha-Element, welches die Buddhaschaft verwirklicht, als etwas genossen wird, das nicht vom dharmakāya verschieden ist.

Dol po pa Shes rab rgyal mtshan (1292-1361), der auch der Jonangpa-Schule angehörte, musste sich mit dem Problem erst gar nicht beschäftigen, da er nur den tibetischen Grundtext benutzte, und Vers I.27 gehört in der tibetischen Überlieferung nur zum Prosa-Kommentar.

Schwierig für eine Auslegung à la I.27, d.h., dass das Potenzial nur im übertragenen Sinne nach seiner Frucht benannt wurde, bleiben aber die ständig wiederkehrenden Ausführungen, dass die Buddha-Qualitäten unabtrennbar mit der Buddhanatur verbunden sind. Falls man diese Eigenschaft nicht auf die Qualitäten des svābhāvikakāyas beschränken will, muss man erklären, wie die übrigen Qualitäten einerseits unabtrennbar sind, andererseits aber noch nicht die Buddhanatur eines gewöhnlichen Lebewesen konstituieren.

Eine elegante Lösung bietet rNgog Blo ldan shes rab (1059-1109), der tibetische Übersetzer des RGV, an. Er erklärt nämlich die Unabtrennbarkeit aller Buddha-Qualitäten damit, dass die Meditation über den dharmadhātu die Ursache aller Qualitäten ist, und letztere werden „versammelt, als ob man sie herbeirufen würde“. Die Qualitäten sind somit untrennbar mit der Buddhanatur verknüpft. Sobald man sich auf die Buddhanatur konzentriert, treten auch die Qualitäten auf, die somit niemals als etwas Getrenntes wahrgenommen werden. ‘Gos Lo tsā ba gZhon nu dpal (1392-1481) untermauert dann diese Auffassung noch mit einer bekannten Erklärung des buddhistischen Logikers Dharmakīrti, wonach das Auftreten der Wirkung die Natur seiner vollständigen Ursache ist.¹ Mit anderen Worten, da die als Leerheit gefaßte Buddhanatur (zusammen mit den reinigenden Eigenschaften der Buddha-Aktivität) die vollständige Ursache für sämtliche Buddha-Qualitäten ist, ist das Auftreten der Wirkung (vollkommene Buddhaschaft) die Natur dieser Ursache. In diesem Zusammenhang vergleicht gZhon nu dpal die im Entstehen begriffenen Buddha-Qualitäten mit der roten Farbe, die Gelbwurz in einer Mischung mit Kalk (d.h. in einem basischen Milieu) sofort annimmt (der ockergelbe Gelbwurz entspricht der Buddhanatur, und Kalk der reinigenden Aktivität der Buddhas).

Maitreya BuddhaMaitreya Buddha Statue, Indien

Ein neuer Buddha wird konstruiert

Wir haben somit den Boden der tibetischen Interpretation betreten. Bevor wir uns aber den tibetischen Auslegungen zuwenden, müssen wir noch kurz über buddhistische Hermeneutik und die mögliche Einordnung des RGV sprechen. Ein Vertreter des indo-tibetischen Mahāyāna-Buddhismus muss ja nicht nur alle Sūtras, einschließlich der späteren Mahāyānasūtras, widerspruchsfrei in einem Lehrgebäude unterbringen, sondern sollte dabei auch noch die gesamte indische Kommentarliteratur und die Lehrwerke der großen Meister berücksichtigen. Um dies an einem konkreten Beispiel in bezug auf unseren RGV zu illustrieren: Wie kommt es, dass der Buddha einerseits in den Prajñāpāramitāsūtras sagte, dass wirklich alles ausnahmslos seinem Wesen nach leer ist, im Tathāgatagarbhasūtra und Śrīmālādevīsūtra aber ständig die Rede von einer Buddhanatur ist, die nicht leer von ihren unabtrennbaren Qualitäten ist? Eine beliebte Strategie ist es, in Belehrungen mit vorläufiger (neyārtha) und definitiver Bedeutung (nītārtha) zu unterscheiden, oder anders ausgedrückt, der Buddha lehrte nicht immer genau das, was er als endgültig wahr erkannt hat, sondern nahm im Laufe seiner langen Lehrtätigkeit auch ganz bewusst teils widersprüchlich erscheinende Aussagen in Kauf, wenn dies einen wichtigen therapeutischen Nutzen hatte. Wer entscheidet in unserem Fall nun aber, welche von den beiden Belehrungen, die der Leerheit oder der Buddhanatur, definitive Bedeutung hat?

Ich habe hier ein weiteres abendfüllendes Thema angeschnitten, und möchte nur grob vereinfacht bemerken, dass die beiden Hauptrichtungen des Mahāyāna auf ihre jeweils eigene Hermeneutik zurückgreifen. Die Mādhyamikas stützen sich auf das Akșayamatinirdeśasūtra, das schlicht alles als definitiv (nītārtha) erklärt, was die Leerheit im Sinne des Madhyamaka zum Ausdruck bringt. Für die Yogācāras ist dagegen das Saṁdhinirmocanasūtra authoritativ, nach dem die Leerheit aller Dinge noch in einer letzten Drehung des Rades der Lehre genauer bestimmt werden muss. Die hermeneutischen Prinzipien der Yogācāra-Schule sind ausführlich in Vasubandhu’s Vyākhyāyukti dargestellt, und der Endredaktor des RGV hat diese Prinzipien nachweislich befolgt, woraus man meiner Meinung nach mit Recht folgern kann, dass für ihn die Lehre von einer Buddhanatur so wie sie im RGV dargestellt wird, definitive Bedeutung hat.

Wenden wir uns nun der entsprechenden Passage am Ende des ersten Kapitels im RGV zu:

RGVV: [Jemand] sagt: Wenn das Buddha-Element so schwierig zu sehen ist, wo es doch noch nicht einmal das vollkommene Erfahrungsobjekt der höchsten Heiligen ist, die auf der höchsten Stufe des Nicht-Anhaftens verweilen, was nützt es dann, es den einfältigen und gewöhnlichen Leuten zu lehren? [Daher] sind die [folgenden] beiden Verse einer Zusammenfassung der Intention (oder Motivs) dieser Belehrung [gewidmet]. Einer ist die Frage und der zweite die Erklärung.

RGV: Warum haben die Buddhas hier gelehrt, dass in allen Lebewesen ein Buddha-Element existiert, und das, nachdem sie gelehrt hatten, dass alles überall und in jeder Hinsicht als leer gewusst werden soll, so wie Wolken, [Erscheinungen] in einem Traum und Illusionen? (I.156)

[Ein Buddha-Element] wurde gelehrt, um folgende fünf Fehler aufzugeben: [Die Fehler,] entmutigt zu sein, auf Leute mit geringerem [Verständnis] herabzusehen, [an der Vorstellung] festzuhalten, dass [Lebewesen] nicht real sind, [Buddha]-Qualitäten zu verneinen sowie der Fehler übermäßiger Selbstliebe. (I.157)

Es gibt nun drei mögliche Interpretationen:

1. Die Lehre von einer Buddhanatur hat eine vorläufige Bedeutung und wurde mit einer verborgenen Absicht (Skt. ābhiprāyika) gegeben, denn diese verborgene Absicht hat eine intentionale Grundlage (Tib. dgongs gzhi) in einer Lehre mit definitiver Bedeutung (RGV I.156: „Alle Gegebenheiten sind ihrem Wesen nach leer“), d.h., der Buddha dachte an Leerheit, als er die Buddhanatur lehrte. Ferner gibt es ein Ziel oder ein Motiv (RGV I.157: „Um den Mutlosen Hoffnung zu machen“ usw.). Schließlich wird auch ein Widerspruch aufgezeigt, der entsteht, wenn man die mit einer verborgenen Absicht erteilte Lehre von einer Buddhanatur wörtlich nimmt (Tib. dngos la gnod byed).

2. Der RGV lehrt nicht das Motiv für eine Belehrung mit vorläufiger Bedeutung, sondern erklärt, warum die Lehre von einer Buddhanatur auch Anfängern gegeben wird, obwohl sie selbst von Bodhisattvas auf der höchsten Stufe nicht vollkommen erfahren werden kann. Da die Buddhanatur im RGV mit der befleckten Soheit gleichgesetzt wird, und die Soheit ein Synonym für Leerheit ist, gibt es in Wirklichkeit keinen Widerspruch zwischen den Prajñāpāramitāsūtras und den Tathāgatagarbhasūtras, es wird lediglich noch einmal ein Synonym für Leerheit, Buddhanatur, gebraucht, um den Mutlosen Hoffnung zu machen usw. D.h., beide, Prajñāpāramitāsūtras und Tathāgatagarbhasūtras haben definitive Bedeutung (nītārtha). Die Intention des RGV ist somit, gleich Anfänger aus den in I.157 genannten Gründen mit der Lehre von einer Buddhanatur zu fördern, und das, obwohl letztere selbst für Fortgeschrittene nicht vollständig zu erfassen ist.

3. Die Prajñāpāramitāsūtras haben vorläufige Bedeutung, dergestalt, dass die Aussage „alles ist leer“ noch präzisiert werden muss. Es muss also noch bestimmt werden, von was genau etwas leer ist, und was in dieser Leerheit übrigbleibt. Und genau dies wird ja im vorangehenden Vers RGV I.155 erklärt. („Das Buddha-Element ist leer von akzidentiellen Makeln, aber nicht leer von Buddha-Qualitäten“). Obwohl diese Klarstellung mit Hilfe der Lehre von einer Buddhanatur selbst fortgeschrittene Bodhisattvas nicht vollständig erfassen können, wird sie dennoch vorgenommen, um den Mutlosen Hoffnung zu machen usw. Die Intention des RGV ist es also, bereits Anfänger trotz aller Verständnisschwierigkeiten mit der wahren Bedeutung der Prajñāpāramitāsūtras im Sinne der Tathāgatagarbhasūtras vertraut zu machen, damit diese nicht den Mut verlieren.

Zusammenfassend kann man also im wesentlichen drei Positionen einnehmen:

(1) Der RGV lehrt entsprechend dem Śrīmālādevīsūtra eine Buddhanatur, die seit anfangsloser Zeit mit allen Qualitäten eines Buddhas ausgestattet ist. Diese Lehre hat definitive Bedeutung.

(2) Der RGV lehrt zwar wie in (1) die Buddhanatur mit allen Qualitäten, er hat aber nur vorläufige Bedeutung. In Wirklichkeit gibt es also überhaupt keine Buddhanatur.

(3) Der RGV lehrt die Buddhanatur in einer Weise, dass sie mit den Prajñāpāramitāsūtras in Einklang gebracht werden und hat deswegen auch definitive Bedeutung.

Position Nr. 1 ist in der tibetischen Geistesgeschichte als das umstrittene gzhan stong („leer von anderem“) bekannt. Weil es entsprechend der Intention der o.g. Sūtras und der meisten Teile des RGV eine mit unabtrennbaren Qualitäten ausgestattete Buddhanatur lehrt, die leer von anderem, nämlich akzidentiellen Makeln, ist, geriet es in das Kreuzfeuer der meisten tibetischen Schulen, die der in den Madhyamaka-Schulen gängigen Auffassung, dass alle Gegebenheiten ihrem Wesen nach leer sind, folgen. Selbst Dol po pa war sich offensichtlich bewusst, dass der RGV Passagen enthält, die die Grundaussage der Tathāgatagarbhasūtras relativieren. Er unterscheidet daher eine gewöhnliche Mahāyāna-Auslegung von einer außergewöhnlichen tantrischen Interpretation. Während man im allgemeinen Mahāyāna auf einer relativen Ebene die Buddha-Körper und ihre Qualitäten durch das Akkumulieren von Verdienst und Weisheit erwerben muss, existieren im Vajrayāna bereits alle Qualitäten. Dieses kommt aber in seinem Kommentar zum RGV gar nicht richtig zum tragen, und wird erst in seinen eigenen Werken, wie z.B. dem Ri chos nges don rgya mtsho deutlich. Demnach existieren auf der absoluten Ebene alle Buddha-Qualitäten, einschließlich der 32 körperlichen Merkmale eines Buddhas seit anfangsloser Zeit. In Anlehnung an das Mahāparinirvāṇasūtra präzisiert Dol po pa’s Schüler Sa bzang Mati paṇ chen, dass der Tathāgata, und somit auch seine Qualitäten, in dem Sinne permanent ist, dass er gar nicht den drei Zeiten angehört. Wir haben es hier also mit einer vollkommenen Transzendenz des Absoluten zu tun. Von einer individuellen Buddhanatur kann man hier also nur noch insofern sprechen, als das Absolute mit seinen Qualitäten partiell dort im eigenen Bewusstseinsstrom durchscheint, wo die Hindernisse der spirituellen Befleckungen und Konzepte beseitigt worden sind. Da alle zu jeder Zeit und an jedem Ort zumindest theoretisch Zugang zum transzendenten Absoluten haben, besitzen alle Lebewesen auch das Potenzial, ein Buddha zu werden.

Eine grundsätzlich verschiedene gzhan-stong-Position findet sich innerhalb der Kagyu-Schule wieder, die meines Wissens das erste Mal vom dritten Karmapa Rang byung rdo rje (1284-1339) vertreten worden ist. Der entscheidende Unterschied zu den Jonangpas besteht nun darin, dass das Absolute bzw. der dharmakāya des Buddha nicht jenseits der drei Zeiten ist, sondern auch aus einem Kontinuum von Momenten besteht und somit enger mit dieser Welt und dem Bewusstseinsstrom verbunden ist. Der Unterschied wird an folgendem Beispiel deutlich: Während bei Dol po pa die Vielfalt der Welt für einen Buddha überhaupt nicht mehr in Erscheinung tritt, ist bei Rang byung rdo rje die bloße Erscheinung als solche untrennbar mit dem dharmakāya des Buddha verbunden. Dennoch grenzt sich das Kagyu-gzhan-stong von einer vollkommenen Gleichsetzung der Buddhanatur mit dem Grundbewusstsein (ālayavijñāna) und somit der Samen oder Prägungen der Befleckungen ab, und folgt der im Mahāyānasaṁgraha (I.45-49) vorgenommenen strikten Trennung zwischen dem unreinen Grundbewusstsein und einem reinen dharmadhātu.

2. Die zweite Position ist schnell beschrieben. Vor allem der bekannte Sa skya paṇḍita (1182-1251) und Bu ston Rin chen grub (1290-1364) haben gar nicht erst den Versuch unternommen, problematische Lehrinhalte in Einklang mit dem vom Madhyamaka dominierten „mainstream Mahāyāna“ zu bringen. Sie verweisen vielmehr darauf, dass ihrer Meinung nach der Autor in RGV I.156-157 selbst nachgewiesen hat, dass die Lehre von einer Buddhanatur nur vorläufige Bedeutung hat.

3. Vertreter der dritten Position, wie z.B. ‘Gos Lo tsā ba gZhon nu dpal, verweisen auf die vereinzelten Hinweise im RGV, wonach die Qualitäten der Buddhanatur nicht vollkommen mit denen eines Buddha identisch sind. Wie bereits oben erläutert, spielt dabei die Aussage, dass das Potenzial in den Lebewesen nur im übertragenen Sinne nach seiner Frucht benannt wird, eine zentrale Rolle. Im Gegensatz zu den 32 körperlichen Merkmalen, die durch eigene Anstrengung erzeugt werden müssen, entfalten sich die 32 Qualitäten des dharmakāya auf natürliche Weise, für gZhon nu dpal existieren sie sogar schon in einer subtilen Form im gewöhnlichen Bewusstseinsstrom. Allerdings scheint er darunter lediglich raumgleiche Eigenschaften, ähnlich der Qualitäten des svābhāvikakāyas, zu verstehen. Durch den Läuterungsprozess auf dem Pfad erhalten diese die Gelegenheit, sich in ihrer eigenen Sphäre ohne weitere Ursachen natürlich zu entfalten. Dass aus den raumgleichen Eigenschaften der Buddhanatur die doch mehr konkreten Qualitäten des dharmakāya entstehen können, erläutert er in Anlehnung an die buddhistische Kosmologie, wonach der leere Raum nach der Auflösung einer Welt bereits die subtilen Samen für die nächste Welt enthalten muss.

Da die Buddhanatur somit lediglich aus raumgleichen Qualitäten besteht, muss sie auch nicht als etwas vom saṁsāra Getrenntes aufgefasst werden. Konsequenterweise folgt gZhon nu dpal in diesem Punkt dem Laṅkāvatārasūtra und bezeichnet die Buddhanatur als Grundbewusstsein. Im befleckten Zustand nimmt die Buddhanatur eben auch die Gestalt von akzidentiellen Makeln an. Letztere sind aber im Gegensatz zu den Buddha-Qualitäten abtrennbar. Dies vergleicht gZhon nu dpal mit dem „Heiß-sein“ von Wasser und Feuer. Während heißes Wasser die Eigenschaft „heiß“ verlieren kann, in man es abkühlen lässt, ist Feuer ohne „Heiß-sein“ nicht vorstellbar.

Da eine solche Interpretation der Buddhanatur nicht im Widerspruch zu den Prajñāpāramitāsūtras steht, kann gZhon nu dpal den RGV als eine Belehrung mit definitiver Bedeutung einstufen, ohne sich wie Dol po pa ins Abseits einer extremen gzhan stong Position begeben zu müssen. Dennoch haben für gZhon nu dpal die Lehren des Tathāgatagarbhasūtra und des Ratnagotravibhāga gegenüber den Prajñāpāramitāsūtras und den üblichen Madhyamaka-Werken eine Reihe von Vorzügen. Während man sich, so gZhon nu dpal, bei letzteren über einen größtenteils intellektuellen Weg Zugang zum Höchsten verschafft, und dieses durch das ausschließliche Widerlegen dessen was es nicht ist, bestimmt, bilden die Lehren von einer Buddhanatur die Grundlage für ein viel effektiveres meditatives Erfassen des Höchsten. Letzteres wurde von Maitrīpa (geb. 1007/10(?)) und seinen Schülern gerade auch in Anlehnung an den RGV als eigenständiger Weg direkt gültiger Wahrnehmungen zunächst angedeutet und dann von sGam po pa (1079-1153) sogar als dritter Weg der direkten Wahrnehmungen über das gewöhnliche Mahāyāna der Schlußfolgerungen und sogar das Vajrayāna gestellt. In seinen Blauen Annalen berichtet gZhon nu dpal, dass sGam po pa folgendes zu seinem Schüler Phag mo gru pa (1110-1170) sagte:

Unser grundlegender Text dieser mahāmudrā [Praxis] ist das Mahāyānottaratantraśāstra (i.e. Ratnagotravibhāga) von Maitreya.

Bereits Sahajavajra (11 Jh.) nannte die Realität der klaren Lichtnatur des Geistes (und somit die Buddhanatur) und auch die besonderen Unterweisungen über diese Realität mahāmudrā, ein Begriff, der eigentlich aus dem Vajrayāna stammt.

Schlussbemerkung

Zusammenfassend können wir festhalten, dass eine Gruppe von Mahāyānasūtras eine Buddhanatur lehren, wonach alle Lebewesen bereits in ihrem Inneren ein Buddha sind und zwar dergestalt, dass ihr wahres Wesen die unabtrennbaren Qualitäten eines Buddha besitzt. Solch ein Lehrinhalt muss aber schon zum Zeitpunkt seines Auftretens auf Kritik gestoßen sein, so dass wir bereits in zwei Beispielen des Tathāgatagarbhasūtra erste Ansätze für ein Entstehen oder Heranwachsen der Buddha-Eigenschaften erkennen können. Weitaus deutlichere Versuche der Relativierung der Lehre von einer Buddhanatur finden sich dann auch im ersten großen indischen Lehrwerk mit dieser Thematik, dem RGV. Darüber hinaus kann eine Passage am Ende des ersten Kapitels des RGV, welche wahrscheinlich das Ende des ursprünglichen RGV gebildet hat, dahingehend interpretiert werden, dass die Lehrinhalte des RGV nur vorläufige Bedeutung haben. Daraus ergeben sich im wesentlichen drei Positionen. Man kann die konservative Lehre von der Buddhanatur wörtlich nehmen (1) oder nicht (2). Ferner ist es möglich, den Ansätzen der Relativierung im RGV zu folgen und in der Buddhanatur ein Synonym für die Leerheit zu sehen. Bei einer solchen Vorgehensweise kann man in den Tathāgatagarbhasūtras Belehrungen mit definitiver Bedeutung sehen, ohne den „mainstream“ im Mahāyāna verlassen zu müssen (3). Wir haben ferner gesehen, dass all diese drei möglichen Positionen in Tibet auch vertreten worden sind.  ■


Fußnoten

¹ Pramāṇavārttika III.7: „Das Entstehen der Wirkung, das durch die vollständige Ursache [als logischer Grund] erschlossen wird, bezeichnen wir als Natur [dieser Ursache], weil [das Entstehen der Wirkung] von keiner anderen Sache abhängt.“

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Publikationen von Univ.-Prof. Dr. Klaus-Dieter Mathes

Lebenslauf

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Veröffentlicht in Band 9 (Winter 2003/04): »Facetten des Buddhismus - gibt es einen gemeinsamen Kern?« – Universität Hamburg, Numata Zentrum für Buddhismuskunde.

Mit freundlicher Genehmigung von Klaus-Dieter Mathes.